2024_TRK_Tagungsband4

LBH: Leipziger Blaue Hefte 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 Proceedings zum 12. Leipziger Tierärztekongress, 18. – 20. Januar 2024 Dr. D. Bernigau Dr. J. Dittes Prof. Dr. A. Hamedy Dr. U. Hörügel Prof. Dr. C. Mülling Prof. Dr. A. Richter Albrecht-Daniel-Thaer-Institut e.V., Universität Leipzig Prof. Dr. Uwe Truyen Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Universität Leipzig Editoren: Dr. Reiko Rackwitz Facheditoren dieses Bandes: Prof. Dr. M. Alef Prof. Dr. P. Braun Prof. Dr. M. Fürll Prof. Dr. W. Honscha Dr. G. Möbius Dr. H. Ratsch Prof. Dr. U. Truyen Redaktionsleitung: Dr. Reiko Rackwitz, Albrecht-Daniel-Thaer-Institut für Agrar- und Veterinärwissenschaften e.V., Universität Leipzig An den Tierkliniken 7, 04103 Leipzig blaue-hefte@uni-leipzig.de; https://www.vetmed.uni-leipzig.de/fakultaet/leipziger-blaue-hefte/ Gestaltung: Dr. Reiko Rackwitz Das Copyright der Manuskripte liegt bei den Autoren. Zitation dieses Bandes: Rackwitz R, Truyen U (Hrsg): LBH: 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 Leipzig, 2024

Editorial Die Tiermedizin bietet eine fast unüberschaubare Vielfalt an Arbeitsfeldern und Einsatzmöglichkeiten. Es ist der Anspruch des Leipziger Tierärztekongresses diese Vielfalt abzubilden, Schnittmengen zwischen den einzelnen Bereichen aufzuzeigen und den fachlichen Austausch zu fördern. In seiner zwölften Auflage ist der Leipziger Tierärztekongress deshalb thematisch noch einmal umfangreicher geworden. Neu im Programm sind unter anderem Vorträge zur tiermedizinischen Lehre und zum Praxismanagement. Die möglichst strukturierte Darstellung der Vortragsinhalte ist damit auch für die Leipziger Blauen Hefte eine Herausforderung. In diesem Jahr haben wir uns dazu entschieden, die Manuskripte zu den Vorträgen in vier Bänden herauszugeben. Diese folgen grob der Einteilung in Kleintiere, Pferde, Bestandstiere und übergreifende Fächer. Wir möchten Sie aber ausdrücklich ermuntern, auch in Manuskripte abseits Ihres Fachgebietes hineinzulesen, Neues zu entdecken und den fachlichen Fokus zu erweitern. Wir wünschen Ihnen einen erfolgreichen Kongress und viel Spaß beim Schmökern in den Leipziger Blauen Heften! Leipzig, November 2023 Prof. Dr. Uwe Truyen Dr. Reiko Rackwitz

Inhaltsverzeichnis Brennpunkt Tiermedizin: Klimawandel und One Health – die Tiermedizin im Umbruch Neue Erreger und Vektoren in Mitteleuropa ................................................................................................ 12 Martin Pfeffer Ressourcenmanagement in der Nutztierhaltung ........................................................................................ 15 Wilhelm Windisch „Uti, non abuti“ - Nutzinsekten im Licht von nachhaltiger Entwicklung und One Health ....................... 18 Nils Th. Grabowski Nachhaltige Aquakultur: Potentiale und Herausforderungen .................................................................... 21 Johannes Pucher Arzneimittel und Arzneimittelrecht Änderungen seit Inkrafttreten des neues Tierarzneimittelrechts .............................................................. 24 Kerstin Bode Stand zur Umsetzung des neuen Rechts durch das BVL .......................................................................... 25 Constance McDaniel Rechtliche Besonderheiten zu Homöopathika ............................................................................................ 27 Sonja Bröer Suchmöglichkeiten nach zugelassenen Arzneimitteln .............................................................................. 29 Ilka Emmerich Perspektiven zur Verfügbarkeit von zugelassenen Tierarzneimitteln ....................................................... 32 Claudia Sigge Trends beim Antibiotikaeinsatz: Zahlen und Fakten .................................................................................. 35 Svenja E. Sander Status quo zu Umwidmungsverboten und Einschränkungen zum Antibiotikaeinsatz ........................... 38 Christine Schwarz Resistenzen bei tierpathogenen Bakterien: Nehmen sie ab? .................................................................... 41 Heike Kaspar, Anne-Kathrin Karaalp, Antje Römer, Maria Kluge, Britta Ballhausen, Ulrike Steinacker Multiresistente Zoonose-Erreger – wirkt die Antibiotikaminimierung? .................................................... 43 Bernd-Alois Tenhagen Meldungen zum Antibiotikaeinsatz bei Nutztieren – wie passt das zum Praxisalltag? ........................... 46 Andreas Palzer Stetig wachsende Anforderungen an die tierarzneimittelrechtliche Überwachung ................................ 47 Jürgen Sommerhäuser Neue Therapieoptionen bei Osteoarthritis .................................................................................................. 50 Heidrun Potschka Der alte Hund als Modell für kognitive Störungen: translationale Arzneimittelentwicklungen .............. 52 Holger A. Volk Krebstherapeutika in der Kleintiermedizin – eine Kurzübersicht .............................................................. 54 Enni Markkanen und Csilla Fejös 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 3

Einsatz der antiviralen Substanz GS-441524 zur Therapie der felinen infektiösen Peritonitis ............... 57 Katrin Hartmann Neue Therapeutika zur Hypertoniebehandlung bei Katzen ........................................................................ 61 Melanie Hamann Toxikologie Notfalltherapie bei Intoxikationen ................................................................................................................. 65 Esther Haßdenteufel, Julia Ortlieb, Fabienne Blunschi, Matthias Schneider, Andreas Moritz Intoxikationen durch Zimmerpflanzen - eine Übersicht .............................................................................. 67 Sabine Wanderburg, Alexandra Schümann Giftiges Hundespielzeug ................................................................................................................................ 71 Barbara Krebs-Breuer Vergiftungen mit Molluskiziden .................................................................................................................... 74 Julia-Rebecca Llewellyn Inhalative Vergiftungen bei Ziervögeln......................................................................................................... 76 Volker Schmidt Endophyten als Vergiftungsrisiko bei Weidetieren? ................................................................................... 78 Jochen Krauss Schokoladenintoxikationen ........................................................................................................................... 81 Esther Haßdenteufel, Julia Ortlieb, Fabienne Blunschi, Matthias Schneider, Andreas Moritz Intoxikationen durch Süßstoffe (Xylit) bei Kleintieren ................................................................................ 82 Romy M. Heilmann Weitere Lebensmittel bedingte Intoxikationen ............................................................................................ 85 Hermann Ammer Veterinary Public Health Änderungen im Lebensmittelhygienerecht (EU/national) ........................................................................... 89 Edwin Ernst Listeria monocytogenes-Ausbruchsmanagement neu gedacht ................................................................ 90 Martin Wagner, Werner Ruppitsch, Adriane Pietzka, Beatrix Stessl Ultra-Processed Foods – die schwarzen Schafe der menschlichen Ernährung? .................................... 94 Gabriele I. Stangl Schlafende Bakterien - Herausforderungen durch bakterielle Ruhephasen für Hygiene und Lebensmittelsicherheit ........................................................................................................................... 96 Patrick Mester Analyse von Fleischverderb im Projekt „Zukunftslabor 2030“ .................................................................. 99 Clara Wimmer, Nadera Hanifi, Melanie Pavlovic, Nancy Bretschneider, Mareike Wenning, Ingrid Huber, Ulrich Busch Wildbrethygiene 2.0...denn sie wissen nicht, was sie tun ........................................................................ 102 Alexandra Pantchev, Thomas Stegmanns KontRed – Die Reduktion der bakteriellen Belastung von Schlachtprodukten – Technologie, Praxis und Modell .................................................................................................................. 104 N Bandick, T Alter, L Kreienbrock

Wirksam durch den Fokus auf die Schmerzentstehung1 Galliprant™ blockiert den EP4-Rezeptor um die Schmerzen bei caniner Osteoarthritis* wirksam zu kontrollieren2,3 Der EP4-Rezeptor für PGE2 ist ein maßgeblicher Mediator für Schmerz und Entzündung bei Osteoarthritis2 Sein einzigartiger Wirkmechanismus macht Galliprant™ effektiv gegen Schmerzen - ohne Einfluss auf andere PGE2- Rezeptoren, die für die Organfunktionen wichtig sind2,3 1 C. R. Lin, F. Amaya, L. Barrett, H. Wang, J. Takada, T. A. Samad, et al. The Journal of Pharmacology and Experimental Therapeutics 2006 Vol. 319 Pages 1096-1103 | 2 Kirkby Shaw K, et al. Vet Med Sci 2016;2:3–9. | 3 Rausch-Derra LC, et al. AJVR 2015;76:853–859. *Galliprant™ ist zugelassen zur Behandlung von Schmerzen im Zusammenhang mit leichter bis mittelschwerer Osteoarthritis bei Hunden. Galliprant™ 20 mg Tabletten für Hunde Galliprant™ 60 mg Tabletten für Hunde Galliprant™ 100 mg Tabletten für Hunde Pharmakotherapeutische Gruppe: Andere anti-inflammatorische und antirheumatische Mittel, nicht steroidal Zusammensetzung: Eine Tablette enthält: Wirkstoff: Grapiprant 20 mg bzw. 60 mg bzw. 100 mg Anwendungsgebiete: Zur Behandlung von Schmerzen im Zusammenhang mit leichter bis mittelschwerer Osteoarthritis bei Hunden. Gegenanzeigen: Nicht anwenden bei bekannter Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder einem der sonstigen Bestandteile. Nicht anwenden bei trächtigen oder laktierenden Tieren sowie Zuchttieren. Nebenwirkungen: Sehr häufig (> 1 Tier / 10 behandelte Tiere): Erbrechen. Häufig (1 bis 10 Tiere / 100 behandelte Tiere): weicher Kot, Diarrhoe; Appetitlosigkeit. Sehr selten (< 1 Tier / 10.000 behandelte Tiere, einschließlich Einzelfallberichte): Hämatemesis, hämorrhagische Diarrhoe; Entzündung der Bauchspeicheldrüse; Erhöhter Blut- Harnstoff-Stickstoff (BUN), erhöhte Kreatininwerte, erhöhte Leberenzyme, Hypoalbuminämie, Hypoproteinämie. Hypoalbuminämie und Hypoproteinämie wurden nicht mit klinisch bedeutsamen Beobachtungen oder Ereignissen in Verbindung gebracht. DE: Verschreibungspflichtig. AT: Rezept- und apothekenpflichtig. Informationen über Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung, Wechselwirkungen, Trächtigkeit und Laktation sind der Fachinformation zu entnehmen. Zulassungsinhaber: Elanco GmbH, Heinz-Lohmann-Str. 4, 27472 Cuxhaven, Deutschland Stand der Information: Oktober 2023 © 2023 Elanco oder ihre verbundenen Unternehmen | ™ Handelsmarke der Elanco oder ihrer verbundenen Unternehmen | Herausgeber: Elanco Deutschland GmbH, www.elanco.de | PM-AT-23-0277

Vom Wartestall bis zur Kühlung: Optimierung der Schlachthygiene beim Schwein............................. 106 Diana Meemken, Roland Fürstenberg, Celine Buder, Susann Langforth, Corinna Heuke, Julia Große-Kleimann, Lothar Kreienbrock, Nina Langkabel Verringerung der mikrobiologischen Belastung von Geflügelfleisch am Schlachthof ......................... 110 Felix Reich Notschlachtungen – wenn praktische Tierärzte zu amtlichen Tierärzten werden ................................. 112 Philipp Rolzhäuser, Dennis Brauer, Nikolas Gregor Kolano, Maxi Binder, Ahmad Hamedy Künstliche Intelligenz in der Fleischhygiene - Entwicklung eines Detektionssystems für Kontaminationen mit Kamerasystemen..................................................................................................... 114 Gereon Schulze Althoff, M. Upmann und J. Tholen Erste Ergebnisse des Projektes „Hofnahe Schlachtung im Dialog“ ....................................................... 115 Stefanie Wolter, Philipp Rolzhäuser, Lydia Engel, Amina Barhoum, Lea Trampenau, Ahmad Hamedy Vollzug in der Lebensmittelüberwachung - das Bermudadreieck zwischen Kontrolle, Anordnung und Sanktion ............................................................................................................................ 117 Thomas Stegmanns, Ulrike Kaiser BMEL - ein Arbeitsplatz für Tierärzte - Organisation und Aufgaben ....................................................... 118 Markus Schick Anpassung des nationalen Tiergesundheitsrecht an das AHL - wo stehen wir? .................................. 121 Anke Schröder Das neue Tierarzneimittelrecht und die Konsequenzen für die Anwendung immunologischer Tierarzneimittel ............................................................................................................................................ 122 Max Bastian Die Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest bei Wildschweinen in Sachsen: Langzeiterfahrungen ................................................................................................................................... 123 Michael Richter Auslaufhaltung von Hausschweinen vor dem Hintergrund der Wildschweinepest in Sachsen .......... 124 Arianna Ceruti, Evelin Ullrich, Sven Biereder, Stephan Koch, Gerd Möbius, Ahmed Abd El Wahed, Uwe Truyen Die Modellierung ein starkes Werkzeug in der Tierseuchenbekämpfung .............................................. 126 Hans-Hermann Thulke Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Zeckenaktivität ................................................................ 127 Christina Strube, Julia Probst, Andrea Springer Die Bekämpfung der Salmonelleninfektionen beim Schwein vor dem Hintergrund einer planmäßigen Serologie ............................................................................................................................... 131 Thomas May, Veit Zoche-Golob Infektionsdiagnostik – was ist heute möglich? ......................................................................................... 134 Martin Beer Die Rindersalmonellen-Verordnung: Ein überlebtes Relikt alten Rechts ............................................... 135 Jens Böttcher Die Geflügelpest als Zoonose: Eine Risikoabschätzung ........................................................................ 139 Timm C. Harder Die Bekämpfung der Tierseuchen bei Wassertieren: Die aktuelle Situation in Deutschland ............... 140 Grit Bräuer Infektionserreger als potenzielle Ursache von Gehirnveränderungen bei Wildkarnivoren .................. 141 Jennifer Höche, Robert Valerio House, Anja Heinrich, Annette Schliephake, Kerstin Albrecht, Martin Pfeffer und Christin Ellenberger 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 5

Setzen Sie auf die transformative Kraft von Stammzellen Mit DogStem® – dem ersten und einzigen in der EU zugelassenen Tierarzneimittel mit Stammzellen zur Behandlung der Osteoarthritis bei Hunden.1 Gebrauchsfertige Suspension zur intraartikulären Injektion Wirksam für bis zu mehr als 12 Monate nach einer einzigen Dosis1 Verringert erwiesenermaßen Schmerzen und Lahmheit im Zusammenhang mit Osteoarthritis bei Hunden und verbessert deren Mobilität und Lebensqualität 1,2 7,5 Millionen mesenchymale Stammzellen aus der Nabelschnur des Pferdes pro Dosis Zielgerichtete Wirkung ohne systemische Kontraindikationen1 Einfache, gekühlte Lagerung Es ist Zeit für einen neuen Ansatz. Erfahren Sie mehr über DogStem® unter www.dogstem.de oder kontaktieren Sie Ihren TVM Außendienst. Literaturhinweise 1. DogStem® Injektionssuspension für Hunde, Fachinformation, Stand 30/11/2022. 2. Punzón, E., et al. (2022). “Equine umbilical cord mesenchymal stem cells demonstrate safety and efﬁ cacy in the treatment of canine osteoarthritis: a randomized placebo-controlled trial.” Journal of the American Veterinary Medical Association vol. 260,15 1947-1955. Hier geht’s zum eDetailer Erfahren Sie mehr zum Wirkmechanismus Basisinformation DogStem® Injektionssuspension (verschreibungspﬂ ichtig) TVM Tiergesundheit GmbH | Reuchlinstrasse 10 – 11 | 10553 Berlin | Tel: +49 (30) 23 59 23 200 | info@tvm-de.com | www.tvm-de.com 3 2 0 2 / 1 1 : d n a t S

Aktuelle Tierschutzvorhaben in Deutschland und der EU ........................................................................ 143 Katharina Kluge Katastrophenprävention im Rinderstall ..................................................................................................... 145 Florian Diel, Elke Rauch, Carola Sauter-Louis, Rupert Palme, Eva Zeiler Das stille Leiden unserer Nutztiere - Zur Ermittlung von Leiden in Tierschutzstrafverfahren .............. 148 Johanna Hahn, Ariane Désirée Kari Einblicke in die App ‚FitForPigs‘ zur Sensibilisierung für Schweinesignale .......................................... 152 Mirjam Lechner Das neue Schweizer Konzept für die Kälbermast „Freiluftkalb“ und dessen Auswirkungen auf Tiergesundheit, Antibiotikaverbrauch und Wirtschaftlichkeit .................................................................. 154 Jens Becker, L. Moser, A. Steiner, G. Schüpbach-Regula, V. Perreten, D. Wüthrich, A. Hausherr, Sarah Kiener, Sereina Grieder, N. Keil, E. Hillmann, M. Meylan Untersuchung der Elektrowasserbadbetäubung von Masthühnern in einem Praxisbetrieb ................. 159 Jolien Hacker; Yukari Togami; Elke Rauch; Michael Erhard; Helen Louton1 Verwendung von verschließbaren Hundeboxen - eine Bewertung unter Tierschutzgesichtspunkten ......................................................................................................................... 162 Dorothea Döring, Barbara Schneider, Sandra Schönreiter Können Saugkälbertransporte tierschutzgerecht sein? ........................................................................... 164 Alexander Rabitsch Entwicklung von zielgruppenorientierten E-Learning-Schulungsunterlagen zur Verbesserung des Tierschutzes bei Transport und Schlachtung von Rind und Schwein ............................................. 167 Rudi Isbrandt, Svea Nicolaisen, Nora Baer, Marcel Nitschke, Fabienne Eichler, Nina Langkabel, Mechthild Wiegard, Veronica Duckwitz, Lisa Buchwald, Harm Kuper, Vanessa Menzel, Jörg Altemeier, Christa Thöne-Reineke, Diana Meemken, Marcus G. Doherr Versuchstiere Neue und verbesserte Methoden zur Stressreduzierung bei wachen, kopffixierten Mäusen ............... 171 Anna Nasr, Matthew E. Larkum Nicht-aversives Handling und Vorbereitung von Mäusen auf Versuche ................................................. 174 Kristina Ullmann Gewöhnung/Medical Training als angewandtes Refinement beim Schwein .......................................... 177 Mechthild Wiegard Medical Training bei Großtieren .................................................................................................................. 178 Christina S. Helm Die nichttechnische Projektzusammenfassung - eine wichtige Informationsquelle zu Tierversuchen181 Philipp Schwedhelm Tierversuchsfrei Lehren – Geht das? ......................................................................................................... 184 Christa Thöne-Reineke Nadel im Heuhaufen - auf der Suche nach Alternativmethoden .............................................................. 187 Bettina Bert, Mariana Neves, Daniel Butzke Einblicke in das Berufsbild Tierschutzbeauftragter und benannter Tierarzt .......................................... 190 Katrin Reppe Einblicke in das Berufsbild ForscherIn/Universität ................................................................................... 191 Nicole Kemper

Berufsbild: Leitung einer Experimentaltierhaltung .................................................................................. 192 Caroline Johner Als Amtstierärztin im Tierversuchsbereich ............................................................................................... 194 Mona Schütz Berufsbilder Versuchstierkunde: Industrie ............................................................................................... 196 Tanja Schmidt Kommunikation und Didaktik The Journey of a Veterinary Teacher: You can make a difference and it can be a lot of fun! .............. 198 Sarah Baillie Miteinander lachen, was leistet Humor in der Lehre? .............................................................................. 200 Ingrid Vervuert Peer-assisted Learning in einem simulations-basierten Notfallmodul ................................................... 203 Schlesinger Samira AR und VR als Alternativen zur Lehre in SkillsLab und Simulationszentrum ........................................ 205 Dietrich Stoevesandt Interprofessional education in veterinary medicine ................................................................................. 206 Sarah Baillie, Gemma Irwin-Porter, Mark McCorry, Renagh Kelly Im Team lernen, um im Team zu arbeiten – Erfahrungen mit interprofessioneller Aus- und Fortbildung im medizinischen Bereich ..................................................................................... 208 Jan P. Ehlers und Andrea Schlicker Lebenslanges Lernen – von Fehlern lernen im tierärztlichen Team ....................................................... 210 Holger A. Volk Vermittlung kommunikativer Kompetenzen in der Veterinärmedizin – Was? Wann? Wie? ................. 213 Mahtab Bahramsoltani Kommunikation, ethische Aspekte und psychische Belastung im VPH-Bereich – Einblicke in Lehrformate an der VMF Leipzig ................................................................................................................ 215 Philipp Rolzhäuser Anatomie verlass mich nie Übersicht und Update zu ECVM (Equinecomplex vertebral malformation) und ECRM (Equine cranial ribmalformations) .................................................................................................. 218 Katharina Ros, Christoph Mülling Yes- or No-Motion... das ist hier die Frage: Die equine obere Halswirbelsäule in Bewegung .............. 223 Franziska C. Wagner, Lisa M. Borchard, Nadine Blum, Christoph K. W. Mülling, Jenny Hagen Myofaszial bedingte Rückenschmerzen beim Pferd ................................................................................. 226 Alice Manders Apikale Zementhypoplasie - klinische Relevanz ....................................................................................... 229 Frank Schellenberger Praxisrelevante anatomische Besonderheiten des Alpakas - von Kopf bis Fuß ................................... 232 Sarah Grund Myofascial expansions and their impact in dogs ..................................................................................... 235 Vibeke S. Elbrønd 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 7

Biomechanische Aspekte des Sakroiliakalgelenks des Hundes ............................................................. 238 Nicole Röhrmann, Franziska C. Wagner Aus Stammzellen werden EV's - Perspektiven der Therapie mit extrazellulären Vesikeln beim Hund 240 Michele C. Klymiuk, Stefan Arnhold Die Anatomie der Perinealregion des Hundes ........................................................................................... 242 Kirsti Witter, Anne Kühn Rechts vor Links: chirurgisches Fallbeispiel eines persistierenden rechten Aortenbogens (PRAA) beim Hund ....................................................................................................................................... 245 Jule Kristin Michler, Anne Kühn Berufspolitisches Forum Wie entwickelt sich unser Berufsstand? Antworten anhand der Statistik .............................................. 248 Severine Tobias Was ist eine Tierarztpraxis heute eigentlich Wert? Wie können junge Tierärzt*innen den Kauf einer Praxis finanzieren? ............................................................................................................................. 249 Andreas Herzog Unabhängig und trotzdem kein Einzelkämpfer .......................................................................................... 251 Monika Richter Erfolge bei der Kooperation von inhabergeführten tiermedizinischen Einheiten am Beispiel des Verbundes unabhängiger Kleintierkliniken (VUK e.V) .............................................................................. 252 Dirk Remien Führt die Vergrößerung und Spezialisierung einer Tierarztpraxis auch zu glücklicheren Tierärzten? 256 Martin Pfützner Telemedizin in der Rinderpraxis – moderne Telemedizin entlastet Landwirt und Tierarzt .................... 257 Michael Schmaußer Digitale Geschäftsmodelle neu denken - Wie verändert KI den Praxisalltag? ........................................ 258 Hubertus Keimer, Tobias Knopf Berufsperspektiven Beratung, Empfehlung oder Anweisung? Was Tierärzte über das Gespräch mit Tierhaltern wissen sollten ............................................................................................................................................... 261 Joachim Lübbo Kleen Tierärzte auf Erfolgskurs: Vielfältige Karrieremöglichkeiten in der veterinärpharmazeutischen Industrie ......................................................................................................... 263 Daniel Sicher Von der Pferdetierärztin zum Vertriebsprofi für Röntgensysteme – fast unbegrenzte Möglichkeiten für Tiermediziner in der Medizintechnik ............................................................................ 265 Miriam Rosenbaum Liebe auf den zweiten Blick: zehn Jahre anbändeln bis zur ernst gemeinten Beziehung. Ein Update für Wiedereinsteigerinnen in das tierärztliche Berufsleben ................................................. 266 Hendrik Schwarz Tierärzte als Wegbereiter für humanmedizinische Innovationen: Anspruchsvolle Aufgaben und Verantwortlichkeiten bei einem globalen Forschungsunternehmen ....................................................... 267 Lars Mecklenburg

Unleash your Career! „User manual” for international veterinarians and employers in Germany - navigating bureaucratic and language barriers ........................................................................................ 269 Filipa Queiros Netzwerken lohnt sich ................................................................................................................................. 270 Victoria Empl Die Tierärztin im öffentlichen Dienst. Regional, national, international: fast unbegrenzte berufliche Möglichkeiten ............................................................................................................................. 271 Michael Bucher Praxismanagement 24/7 im Einklang mit der inneren Uhr: Dienstplangestaltung mit Rücksicht auf den Biorhythmus ..... 273 Laura Tschirner Einatmen, ausatmen – Pause. Und zwar richtig! ...................................................................................... 275 Lisa Leiner Veränderungsbereitschaft ist nicht nur „Wille“: Was der Mensch/Mitarbeiter braucht, um mitzuziehen ............................................................................................................................................ 277 Ute Klarius Innere Stärke, äußere Wirkung: Wie Selbstsicherheit durch bewusste Kommunikation entsteht ....... 278 Kathrin Siemer Sicherheit – wie schütze ich mich – und wovor eigentlich? .................................................................... 279 Thomas Ganz Ausbildung, Vorbereitung, Entwicklung – wie ich mein Team fit mache für die Nacht ......................... 280 Ute Klarius Selbstfürsorge - Jeder ist sich selbst der Nächste ................................................................................... 281 Karolina Kantor Stress lass nach! Wie ich herausfordernde Situationen besser überstehe ........................................... 282 Lisa Leiner Wenn ein beruflicher Notfall zum Persönlichen wird ............................................................................... 284 Karolina Kantor Geschichte der Veterinärmedizin 100-jähriges Bestehen der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Universität Leipzig: Reflexionen eines Außenstehenden .......................................................................................................... 286 Hartwig Bostedt Richard Götze und die Entwicklung der Veterinärmedizin von 1925 bis 1955 ....................................... 295 Johann Schäffer & Frank von Minden Oskar Kellner – ein begnadeter Leipziger Wissenschaftler ..................................................................... 300 Wolfgang-Bernhard Souffrant Johannes Schmidt - ein Leben für die Veterinärmedizinische Fakultät ................................................. 304 Andrea Holle Das Wirken von Prof. Dr. Karl Max Schneider als Direktor des Leipziger Zoos .................................... 305 Klaus Eulenberger und Jeannette Meier Erlebnisse mit meinem Vater Karl Elze – Leipzigs langjährigem Zootierarzt ......................................... 307 Christian Elze 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 9

Leipzigs legendärer Assistentenklub 1958 bis 1971 ................................................................................. 311 Manfred Fürll Geschichte der Fachrichtung Veterinärmedizin der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin Leipzig von 1968 bis 1990 ............................................................................................................................ 317 Stefan Siebert Forschung in den 1970er und 1980er Jahren an der Fachrichtung Veterinärmedizin Leipzig .............. 320 Manfred Golze Impfstoffforschung und -produktion im Kombinat Veterinärimpfstoffe Dessau und Versuch einer punktuellen internationalen Einordnung .......................................................................................... 324 Hans-Joachim Selbitz Geschichte der Räudebekämpfung der Schafe in (Mittel-) Deutschland ................................................ 328 Christiane Benesch

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ Neue Erreger und Vektoren in Mitteleuropa Martin Pfeffer Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig Vektor-übertragene Pathogene haben in den letzten Jahrzehnten in Europa zunehmend an Bedeutung gewonnen und werden von der WHO als eine der größten One Health Gefahren eingeschätzt (1). Für die Übertragung spielt die Verbreitung der einzelnen biologischen Vektoren wie z.B. von Stechmücken und Zecken eine entscheidende Rolle. Dabei werden neue Vektoren durch den weltweiten Handel und Tourismus oft über verschiedene Routen eingeschleppt, ihre Etablierung und damit ihre Verbreitung in unserem derzeit noch moderaten Klima hängt dabei maßgeblich von den passenden ökologischen Nischen und damit auch mit den klimatischen Veränderungen zusammen in Europa zusammen (2,3). Anhand von drei Vektorgruppen, Stechmücken, Zecken und Gnitzen soll in dem Vortrag dargestellt werden, welche Akteure sowohl auf der Vektorseite, als auch welche Pathogene in den letzten beiden Jahrzehnten bereits Ihren Weg in die moderaten Klimazonen Europas und damit auch noch Deutschland gefunden haben, und von welchen dies möglicherweise zu erwarten ist. Stechmücken und Stechmücken-übertragene Pathogene Fast zeitgleich wurden um 2010 drei Stechmücken-übertragene Viren (Arbo-Viren) in Deutschland erstmal nachgewiesen. Es waren dies das Usutu-Virus, ein Flavivirus, welches durch das sogenannten Amselsterben bekannt wurde, und welches ca. 10 Jahre zuvor schon im Großraum Wien in Österreich für ein beträchtliches Vogelsterben geführt hatte (4). Ebenfalls im bekanntlich warmen Oberrheingraben wurde Sindbis-Virus, ein Alphavirus, aus Vögeln und Stechmücken isoliert (5). Dass beide Viren sehr wahrscheinlich vorher wirklich nicht in Deutschland vorkamen legt eine etwa 10 Jahre zuvor ebenfalls im Gebiet des Oberrheingrabens durchgeführte Arbeit nahe, die mittels Zellkultur keinerlei Viren in Stechmücken finden konnte (6). Schließlich wurde zusätzlich das Batai-Virus, ein Orthobunyavirus, nachgewiesen, welches ebenfalls aus Stechmücken isoliert werden konnte (7). Usutu-Virus und Sindbis-Virus werden vornehmlich von Culex-Stechmücken übertragen, die in Deutschland sehr häufig vorkommen, was auch in ihrem Namen „gemeine Stechmücke“ oder „Nördliche Hausmücke“ zum Ausdruck kommt. Auch das seit 2018 in Deutschland erstmalig und seither autochthon vorkommende West-Nil-Virus wird durch diesen Vektor auf Menschen und Tiere (v.a. Pferde und Vögel) übertragen (8). So sind in den letzten Jahren allein vier exotische Arbo-Viren in Deutschland heimisch geworden, die in den warmen Sommermonaten eine Gefahr für Menschen und Tiere darstellen (9,10). Die Kenntnis über diese Viren ist v.a. der Tatsache zu verdanken, dass es bundesweit geförderte Monitoring- Programme gab, mit denen sowohl ein passives, wie auch ein aktives Monitoring systematisch Daten erhoben hat. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, dass wir wissen, dass es mehrere unabhängige Einträge von Usutu- und West-Nil-Virus nach Deutschland gab (11). Dies ist besorgniserregend, weil solche Situationen nicht mehr die Ausnahme zu sein scheinen, sondern regelmäßig vorkommen. Durch das Monitoring wissen wir auch von dem Eintrag und der Verbreitung verschiedener Stechmückenarten, die vormals ebenfalls nicht in Deutschland vorkamen, sich aber mittlerweile fest in einigen Regionen etabliert haben. Hier sind v.a. die bekannte asiatische Tigermücke, Aedes albopictus, und die Japanische Buschmücke, Aedes japonicus, zu nennen. Beide sind ausgezeichnete Vektorarten für eine Reihe von tropischen Viren. Mögliche Kandidaten hierfür wären sicherlich das Rifttal-Fiebervirus und die für Menschen pathogenen Chikungunya- und Dengue- Viren. Zecken und Zecken-übertragene Pathogene Zecken werden ebenfalls regelmäßig nach Deutschland eingeschleppt. Dabei handelt es sich v.a. um zwei Hyalomma-Arten, Hyalomma rufipes und H. marginatum, die aus Afrika bzw. Südeuropa mit Zugvögeln nach Deutschland gelangen. Meistens sind es Nymphen, die an diesen Vögeln parasitieren, die im nördlichen Europa angekommen von Ihren Wirten abfallen und sich zu adulten Tieren häuten. Für Ihre nächste Blutmahlzeit sind sie dann aktiv auf der Suche nach Großtieren (Rindern oder Pferden). Gerade in den warmen Sommern sind 12 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ so etliche Exemplare gefunden worden, die zwar das Virus des Krim-Kongo-Hämorrhagischen Fiebers nicht in sich trugen, aber jede zweite Zecke mit Rickettsia aeschlemannii infiziert waren (12). Neuere Studien legen nahe, dass in naher Zukunft die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Endemisierung vorhanden sind (13,14). Ähnlich könnte es sich mit der Braunen Hundezecke, Rhipicephalus sanguineus, verhalten, für die es derzeit in Deutschland noch zu kalt ist, um erfolgreiche Gründerkolonien außerhalb von Gebäuden zu etablieren. Auch sie wird regelmäßig nach Deutschland eingetragen, allerdings nicht von Zugvögeln, sondern mit ihren originären Wirten, den Hunden. Auch die Braune Hundezecke kann etliche v.a. für den Hund bedrohliche Erreger übertragen, darunter Ehrlichen oder den Zoonose-Erreger des Mittelmeerfleckfiebers, Rickettsia conorii. Innerhalb von Deutschland beobachten wir in den letzten Jahren zudem die Ausbreitung der Auwaldzecke, Dermacentor reticulatus. Die bisher fokal begrenzten Dermacentor reticulatus-Population sind potentielle Überträger von z.B. Babesia canis oder Rickettsia raoultii. Leider ist in Deutschland noch kein Monitoring analog zu den Stechmücken etabliert, durch welches man systematisch Kenntnis über Zecken-Neozoen erlangen könnte. Somit ergibt sich leider nicht die Möglichkeit etwaige Gründerkolonien dieser Tiere bekämpfen zu können. Gnitzen und Gnitzen-übertragene Pathogene Bei den einheimischen Gnitzenarten ist man fälschlicherweise immer davon ausgegangen, dass sie keine kompetenten Vektoren für diverse Erreger sind, die wärmeren Gefilden durch diese übertragen werden (15). Die BTV-8 Pandemie 2006 hat uns hier eines Besseren belehrt (16). Seither hat ein weiteres Bluetongue-Virus, BTV-3, es bis zu uns geschafft und weitere Serotypen sind unweit in Frankreich oder auf dem Balkan und ein Eintrag scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Schmallenberg-Virus, ein ebenfalls über Gnitzen übertragenes Orthobunyavirus ist beginnend 2011 mit einer ähnlichen Geschwindigkeit durch Deutschland gezogen und gerade das Tempo und die immense geographische Ausbreitung von Gnitzen-übertragenen Erregern sorgen zu Recht die Tierbesitzer hierzulande. Neben den angesprochenen BTV-Serotypen und weiteren noch unbekannten Arbo-Viren, wird auch der Erreger der Afrikanischen Pferdepest von Gnitzen übertragen. Auch von diesem Virus existieren etliche Serotypen, allerdings ist es bislang noch nicht in Europa aufgetreten, sondern kommt v.a. im Afrika südlich der Sahara vor. Im Animal Health Low ist es eine Tierseuche der Kategorien A, D und E, d.h. dass sie unmittelbar bei Auftreten in der EU zu tilgen ist. Schlußfolgerungen Die Invasion hämatophager Gliederfüßer und ihrer Pathogene ist ein seit einiger Zeit bestehendes und allgegenwärtiges Problem, das mit dem Klimawandel voraussichtlich weiter zunehmen wird. Neben dem globalen Klimawandel sind der Transport von Wirbeltieren (d.h. Nutz- und Haustiere) sowie Behältnissen, in denen Aedes-Eier transportiert werden können (Altreifen, Pflanzen) wichtige Treiber der Einführung hämatophager Arthropoden, die Krankheiten übertragen. Überwachungssysteme invasiver Gliederfüßer müssen proaktiver sein und neue potenzielle Wege für die Einführung müssen identifiziert werden. Literatur 1. Cuthbert RN, Darriet F, Chabrerie O, Lenoir J, Courchamp F, Claeys C, Robert V, Jourdain F, Ulmer R, Diagne C, Ayala D, Simard F, Morand S, Renault D. Invasive hematophagous arthropods and associated diseases in a changing world. Parasit Vectors. 2023;16(1):291. 2. Pfeffer M, Dobler G. Emergence of zoonotic arboviruses by animal trade and migration. Parasit Vectors. 2010;3(1):35. 3. Van de Vuurst P, Escobar LE. Climate change and infectious disease: a review of evidence and research trends. Infect Dis 4. 5. Poverty. 2023;12(1):51. Jöst H, Bialonski A, Maus D, Sambri V, Eiden M, Groschup MH, Günther S, Becker N, Schmidt-Chanasit J. Isolation of usutu virus in Germany. Am J Trop Med Hyg. 2011;85(3):551-3. Jöst H, Bialonski A, Storch V, Günther S, Becker N, Schmidt-Chanasit J. Isolation and phylogenetic analysis of Sindbis viruses from mosquitoes in Germany. J Clin Microbiol. 2010;48(5):1900-3. 6. Pfeffer M, Modlmaier M, Lundström JO. Lack of evidence for the presence of mosquito-borne arboviruses in the upper 7. Rhine Valley, Germany, in 1999-2000. J. Clin. Microbiol. 2010;48(9) :3457-3458. Jöst H, Bialonski A, Schmetz C, Günther S, Becker N, Schmidt-Chanasit J. Isolation and phylogenetic analysis of Batai virus, Germany. Am J Trop Med Hyg. 2011;84(2):241-3. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 13

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ 8. Giesen C, Herrador Z, Fernandez-Martinez B, Figuerola J, Gangoso L, Vazquez A, Gómez-Barroso D. A systematic review of environmental factors related to WNV circulation in European and Mediterranean countries. One Health. 2023;16:100478. Ziegler U, Fischer D, Eiden M, Reuschel M, Rinder M, Müller K, Schwehn R, Schmidt V, Groschup MH, Keller M. Sindbis virus- a wild bird associated zoonotic arbovirus circulates in Germany. Vet Microbiol. 2019;239:108453. 9. 10. Scheuch DE, Schäfer M, Eiden M, Heym EC, Ziegler U, Walther D, Schmidt-Chanasit J, Keller M, Groschup MH, Kampen H. Detection of Usutu, Sindbis, and Batai Viruses in Mosquitoes (Diptera: Culicidae) Collected in Germany, 2011-2016. Viruses. 2018;10(7):389. 11. Bergmann F, Holicki CM, Michel F, Bock S, Scuda N, Priemer G, Kenklies S, Siempelkamp T, Skuballa J, Sauerwald C, Herms L, Muluneh A, Peters M, Hlinak A, Groschup MH, Sadeghi B, Ziegler U. Reconstruction of the molecular evolution of Usutu virus in Germany: Insights into virus emersion and circulation. PLoS Negl Trop Dis. 2023;17(10):e0011203. 12. Chitimia-Dobler L, Schaper S, Rieß R, Bitterwolf K, Frangoulidis D, Bestehorn M, Springer A, Oehme R, Drehmann M, Lindau A, Mackenstedt U, Strube C, Dobler G. Imported Hyalomma ticks in Germany in 2018. Parasit Vectors. 2019;12(1):134. 13. Celina SS, Černý J, Samy AM. Mapping the potential distribution of the principal vector of Crimean-Congo haemorrhagic fever virus Hyalomma marginatum in the Old World. PLoS Negl Trop Dis. 2023;17(11):e0010855. 14. Messina JP, Wint GRW. The Spatial Distribution of Crimean-Congo Haemorrhagic Fever and Its Potential Vectors in Europe and Beyond. Insects. 2023;14(9):771. 15. Kampen H, Werner D. Biting Midges (Diptera: Ceratopogonidae) as Vectors of Viruses. Microorganisms. 2023;11(11):2706. 16. Zientara S, Sánchez-Vizcaíno JM. Control of bluetongue in Europe. Vet Microbiol. 2013 Jul 26;165(1-2):33-7. Kontakt Prof. Dr. Martin Pfeffer; Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Leipzig pfeffer@vetmed.uni-leipzig.de 14 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ Ressourcenmanagement in der Nutztierhaltung Wilhelm Windisch TUM School of Life Sciences, Technische Universität München (TUM) Die landwirtschaftliche Nutzfläche ist eine harte planetare Grenze Die landwirtschaftliche Nutzfläche ist limitiert und wird von Urbanisierung, Erosion und Wüstenbildung im Zuge des Klimawandels bedroht. Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung, so dass die Anzahl an Menschen, die von der limitierten Fläche zu ernähren sind, in den kommenden Jahrzehnten dramatisch zunehmen wird. Andererseits verfüttern wir derzeit ein Drittel der globalen Ernte an Getreide und Mais sowie mehr als drei Viertel des Sojas an Nutztiere. Angesichts der Tatsache, dass die landwirtschaftliche Nutzfläche eine nicht überziehbare, planetare Grenze darstellt, können wir die Verfütterung potenziell essbarer Biomasse künftig nicht mehr leisten. Damit ändert sich zwangsläufig die Ressourcensteuerung der Nutztierhaltung. Nicht-essbare Biomasse, die unterschätzte Säule der Landwirtschaft Landwirtschaft erzeugt primär Biomasse in Form ganzen Pflanzen(teile). Aus diesen müssen die eigentlichen Lebensmittel erst extrahiert werden. Dabei fallen unvermeidlich große Mengen an nicht-essbarer Biomasse an, und zwar sowohl auf dem Acker selbst (z.B. Stroh) als auch bei der Weiterverarbeitung der Ernteprodukte (1, 2). Hinzu kommt die Notwendigkeit zur Fruchtfolge auf dem Acker und zur Gründüngung (z.B. Kleegras), was den Anfall an nicht-essbarer Biomasse weiter erhöht. Weiterhin besteht ein Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Deutschlands und mehr als drei Viertel der globalen Fläche aus Grünland, das nicht ackerfähig ist und ausschließlich nicht-essbare Biomasse liefert. In der Summe fallen in der deutschen Landwirtschaft je Kilogramm pflanzliches Lebensmittel unvermeidlich mindestens 4 Kilogramm nicht-essbare Biomasse an (3). Kreislaufwirtschaft mit Nutztieren ist eine win-win-Situation Die nicht-essbare Biomasse enthält enorme Mengen an Pflanzennährstoffen, die wieder auf die Nutzflächen zurückgeführt werden müssen. Hierzu stehen drei Strategien zur Verfügung: auf dem Feld verrotten lassen, Biogas erzeugen und die Gärreste als Dünger nutzen, oder an Nutztiere verfüttern und die Wirtschaftsdünger zurückführen. Verrotten lassen hat nur eine geringe Düngerwirkung, da die Freisetzung der Pflanzennährstoffe mit dem Bedarf der nachfolgenden Pflanzenkultur nicht abgestimmt werden kann, so dass auch die Ernte entsprechend gering ausfällt. Gärreste und Wirtschaftsdünger sind dagegen lagerbar und ermöglichen über die gezielte Ausbringung eine etwa doppelt so große Ernte wie bloßes Verrotten (4). Aber nur die Nutztiere produzieren aus der nicht-essbaren Biomasse zusätzliche Lebensmittel im Umfang von etwa 50 bis 100 % der Mengen an Kilokalorien und Nahrungseiweiß der pflanzlichen Basisproduktion. Damit nimmt die Anzahl an Menschen, die dieselbe Nutzfläche ernähren kann, um mindestens die Hälfte zu. Dieser Zusammenhang gilt im Prinzip auch für vegane Ersatzprodukte. So gelangt beispielsweise beim Haferdrink nur ein Drittel der eingesetzten Biomasse des Hafers in das Verkaufsprodukt. Die restlichen zwei Drittel sind hochwertiges Nutztierfutter. Bildlich gesprochen zieht jedes Glas Haferdrink ein weiteres Glas Kuhmilch nach sich. „Klima-Killer-Kuh“ ist ein überzogenes Narrativ Wiederkäuer sind prädestinierte Verwerter von nicht-essbarer Biomasse, emittieren jedoch Methan (CH4). In der Tat ist CH4 ein starkes Treibhausgas (etwa Faktor 85 gegenüber CO2), aber es wird in der Atmosphäre rasch abgebaut (Halbwertszeit etwa 10 Jahre). Diese Dynamik unterschiedet sich grundlegend vom äußerst langlebigen CO2, das über fossile Energieträger in großen Mengen in die Atmosphäre eingetragen wird und sich dort fortlaufend anreichert. Beim CH4 stellt sich dagegen rasch ein Gleichgewicht zwischen aktueller Emission und Abbau aus früheren Emissionen ein, sofern die Tierzahlen bzw. die Emissionsrate aus der Tierhaltung nicht ansteigen. Klimarelevant sind dann nicht mehr die aktuellen CH4-Emissionen, sondern nur noch die atmosphärische Gleichgewichtskonzentration (5). In dieser Situation befinden wir uns in Deutschland. Die Anzahl an Wiederkäuern und die damit assoziierten CH4-Emissionen sind inzwischen unter das Niveau der 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 15

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ vorindustriellen Zeit gesunken und nehmen immer noch ab (6). Die zugehörige Gleichgewichtskonzentration an CH4 ist derart niedrig, dass selbst die völlige Abschaffung der Wiederkäuer kaum noch klimarelevant wäre (7). CO2-Fußabdrücke sind nicht in der Lage, diese Dynamik des Methans abzubilden. Sie führen zu einer massiven Überschätzung der Klimawirkung der CH4-Emissionen aus den Wiederkäuerbeständen Deutschlands. Zu viele Nutztiere sind ein Schaden für Umwelt und Klima, zu wenige aber auch Die nicht-essbare Biomasse unterliegt dem Stoffkreislauf und setzt den darin gebundenen Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor usw. wieder frei. In Bezug auf die Emissionen macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob die nicht-essbare Biomasse verrottet, über Biogasanlagen verwertet wird, oder in die Nutztierfütterung gelangt. Dies gilt auch für CH4, sofern die Anzahl der Wiederkäuer nicht ansteigt (siehe oben). Der Verzicht auf die Verfütterung der nicht-essbaren Biomasse an Nutztiere hat somit keine entlastende Wirkung auf Umwelt und Klima. Im Gegenteil, eine vegane Landwirtschaft müsste die entgangenen Lebensmittel aus der Verfütterung der nicht-essbaren Biomasse durch Intensivierung des Ackerbaus und den Verbrauch zusätzlicher Ackerflächen kompensieren. Dies verursacht zusätzliche Emissionen pro Nährstoffeinheit (Kilokalorien, Nahrungseiweiß, etc.) und steigert den Druck auf Umwelt und Klima, um auf einer gegebenen Nutzfläche eine gegebene Anzahl an Menschen zu ernähren. Das Gleiche passiert aber auch dann, wenn die Intensität der Nutztierhaltung über das Gleichgewicht der Kreislaufwirtschaft der nicht-essbaren Biomasse hinaus in Richtung Nahrungskonkurrenz und Landnutzungsänderungen gesteigert wird. Schlussfolgerungen Es kommt darauf an, mit der begrenzt verfügbaren landwirtschaftlichen Nutzfläche bei möglichst geringer Umwelt- und Klimawirkung möglichst viele Menschen zu ernähren. Dies gelingt nur unter Einbindung von Nutztieren in einer ausgeglichenen Kreislaufwirtschaft unter Vermeidung von Nahrungskonkurrenz. Das primäre Ziel ist die Gewinnung von möglichst viel pflanzenbasierter Nahrung aus landwirtschaftlicher Biomasse. Nutztiere übernehmen dann die Rolle der sekundären Transformer der nicht-essbaren Biomasse in zusätzliche Nahrung für den Menschen. Der Rest ist energetisch zu verwerten, etwa in einer Biogasanlage. Die gesamte landwirtschaftliche Biomasse folgt somit der Nutzungskaskade: Teller, Trog, Tank. Kreislaufwirtschaft bedeutet aber auch eine starke Limitierung von Menge und Qualität des verfügbaren Futters und damit ein Rückgang der Gesamtmenge an erzeugten Lebensmitteln tierischer Herkunft gegenüber der aktuellen Situation. Bei Wiederkäuern sind vergleichsweise geringe Einbußen zu erwarten, denn Grünland steht weiterhin zur Verfügung und seine Nutzung konkurriert nicht mit der Ackerfläche, die zur Erzeugung pflanzenbasierter Nahrung für den Menschen benötigt wird. Demgegenüber würde die Bereitstellung von Schweinefleisch und insbesondere von Geflügelprodukten sinken, denn ein Großteil der derzeit umfangreichen Produktion beruht auf Nahrungskonkurrenz (Getreide, Mais, Soja). Dennoch blieben Schweine und Geflügel auch insbesondere die Nebenprodukte der Lebensmittelindustrie, die in der Regel einen hohen Futterwert haben, besonders gut verwerten. Entscheidend ist hierbei die Futtereffizienz der nicht-essbaren Biomasse in ihrer Gesamtheit. Es kommt darauf an, diese Biomasse durch Pflanzenzüchtung und geeignete Anbau-, Ernte- und Konservierungsverfahren bei möglichst hohem Futterwert zu erschließen und in Tierhaltungssystemen möglichst effizient zu verwerten: low input – high output. in Zukunft wichtige Nutztiere, denn sie können Insgesamt geht es um die Balance der Nutztierhaltung innerhalb des Ernährungssystems, in dem die Biomasse als eine regenerierbare Ressource gehandhabt wird, die nicht verschwendet werden darf, weder die essbare noch die nicht-essbare. Literatur 1. Windisch W, Flachowsky G: Livestock-based Bioeconomy. In: Thrän D, Moesenfechtel U, Herausgeber. The Bioeconomy 2. System. Springer Berlin, Heidelberg; 2022. https://doi.org/10.1007/978-3-662-64415-7. S. 68-83 Thompson L, Rowntree J, Windisch W, Waters SM, Shalloo L, Manzano P: Ecosystem management using livestock: embracing diversity and respecting ecological principles. Animal Frontiers 2023; 13 (2): 28-34. https://doi.org/10.1093/af/vfac094 16 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ 3. Vorndran A, Steinhoff-Wagner J, Windisch W: Abundance of non-edible biomass in Germanys agricultural and processing sector. Journal of Animal Science 2023; 101, Issue Supplement, Western Section Meeting Abstracts; in press; https://www.asas.org/sections/western-section/publications 4. Bryzinski T: Erträge, Energieeffizienz und Treibhausgasemissionen ökologischer und konventioneller Pflanzenbausysteme: Methodische Einflüsse und feldexperimentelle Ergebnisse. Dissertation an der Technischen Universität München (TUM), Deutschland; 2022. ISBN: 979-8574395912/ 5. Neu U: Climate effect and CO2 equivalent emissions of short-lived substances. Swiss Academies Communications 2022; 17 (5). 6. Kuhla B, Viereck G.: Enteric methane emission factors, total emissions and intensities from Germany's livestock in the late 19th century: A comparison with the today's emission rates and intensities. Science of The Total Environment 2022; 848; https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2022.157754 7. Guggenberger T, Terler G, Herndl M, Fritz C, Grassauer F: Langzeitbewertung von Treibhausgasemissionen in Österreich. Forschungsbericht der HBLFA Raumberg-Gumpenstein, Irdning-Donnersbachtal; 2022 Kontakt Prof. Dr. Wilhelm Windisch, TUM School of Life Sciences, Technische Universität München (TUM) wilhelm.windisch@tum.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 17

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ „Uti, non abuti“ - Nutzinsekten im Licht von nachhaltiger Entwicklung und One Health Nils Th. Grabowski Institut für Lebensmittelqualität und -sicherheit, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Einleitung Von gelegentlichen Meteoriteneinschlägen sowie nuklearen Experimenten abgesehen ist die Menge der einzelnen Elemente des Periodensystems auf dem Planeten Erde seit Jahrmillionen gleichgeblieben. Somit werden diese Mengen seitdem faktisch hin- und hergeschoben, um immer neue Kombinationen von biotischen und abiotischen Elementen (Ökosysteme) zu bilden und dynamische Entwicklungen darstellen, die von physikalischen Rahmenbedingungen wie Temperatur, Plattentektonik etc. begrenzt und in bestimmte Bahnen gelenkt wurden. Diese Beziehungen sind reziprok, da sich z.B. auch Ökosysteme auf das Klima auswirken etc. Dadurch entsteht ein sehr komplexes Netzwerk, das sich aufgrund der Evolution im konstanten Wandel befindet. Dem Menschen ist dieses Netzwerk spätestens seit der Ausbildung schamanischer Kulturen bewusst. Mit dem Anthropozän finden markante Umwälzungen statt, sodass immer mehr Ökosysteme instabil werden und die darin vorkommenden Lebensformen vor die Wahl gestellt werden, abzuwandern, sich anzupassen oder auszusterben. Das wiederum betrifft andere Ökosysteme, so dass der Wandlungsprozess schneller als bisher abläuft und z.T. zu katastrophalen Szenarien wie Klimawandel und Pandemien bei Mensch, Tier und Pflanze führt. Das Bewusstsein ob dieser Interdependenz besteht seit Jahrhunderten, aber eine globale Relevanz erreichte es erst mit Beginn des neuen Jahrtausends. Vor allem Nachhaltigkeit und der One-Health-Ansatz werden als sinnvolle Ansätze angesehen, um dieser Beschleunigung Herr zu werden. Letzterer erkennt an, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt miteinander verbunden und somit reziprok bedingt ist. Erstere wird durch 17, von der UN definierte Ziele repräsentiert. Beide Konzepte greifen eng ineinander, da nach einer planetaren Balance mit maximaler Gesundheit für alle Bereiche (One Health) gesucht wird, die für folgende Generationen erhalten werden soll (Nachhaltigkeit). Insekten spielten von Anfang an eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser Konzepte. Im Folgenden soll auf das Potential von bereits gehaltenen und zukünftigen Nutzinsekten und anderen Nutzinvertebraten eingegangen werden, d.h. diejenigen Arten, die zu einem bestimmten (kommerziellen oder gesellschaftlich gewünschten) Ziel gehalten, gezüchtet und genutzt werden, und auf die Rolle, die die Veterinärmedizin dabei spielen sollte. Der Fokus liegt dabei auf Insekten, während andere Wirbellosenklassen noch nicht so intensiv untersucht wurden. Nutzinvertebraten als Lebensmittel Bislang sind ca. 2000 bis 3000 traditionell essbare Insektenarten bekannt. Hinzukommt eine Reihe essbarer Spinnen-, Krebs- und Weichtiere, die seit Jahrtausenden den menschlichen Speiseplan bereichern. Dieser traditionelle Konsum hängt u.a. vom natürlichen Vorkommen dieser Arten ab und kann weitverbreitet (z.B. Wander- und Wüstenheuschrecken) oder sehr lokal (z.B. endemisch vorkommende Blatthorn- und Hirschkäfer) sein und übers ganze Jahr (z. B. afrikanische Riesenschnecken) oder saisonal (z. B. Raupen saisonal auftretender Nachtfalter) praktiziert werden. Kulturelle Aspekte wie Glaubenssystem oder soziale Gegebenheiten spielen, wie bei allen Lebensmitteln, eine gewichtige Rolle in traditionellem Konsumverhalten. Die einzelnen Arten und ihre Instare decken die Gesamtheit der Nährstoffe in unterschiedlichem Maße, so dass neben stark eiweißhaltigen Arten wie etwa Heuschrecken und Grillen auch Arten genutzt werden, die viele Fette (z. B. viele Nachtfalterraupen und Egerlinge von Hirsch- und Blatthornkäfern), Kohlenhydrate (z.B. Termiten) oder Mineralien (z. B. aquatische Arten) enthalten. Traditionell steht allerdings neben der Verfügbarkeit der Geschmack klar im Vordergrund. Nachdem die FAO Anfang des Jahrtausends Insekten als eine Möglichkeit von vielen erkannt hat, dem globalen Hunger entgegenzutreten, wird versucht, Speiseinsekten auch in den Weltregionen als Alternativen (cave: nicht Ersatz) zu herkömmlichen Lebensmitteln tierischen Ursprungs 18 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ anzupreisen, in denen sie über lange Zeiträume hinweg nicht gegessen wurden. Der westliche Kulturkreis ist eines dieser Ziele, doch die Akzeptanz ist weiterhin gering. Aber es hat sich gezeigt, dass die Kombination von Information und Degustation viele Vorurteile abzubauen vermag. Im Rahmen von One Health tragen Speiseinsekten zu einer ausgewogenen Ernährung bei. Letztere, ganz gleich, wie sie zustande kommt, ist für die Immunlage förderlich. Die Nutzung von Futterresten, Exkrementen, Exuvien und toten Tieren (als „Frass“ zusammengefasst) aus der Insektenzucht als Dünger steigert aufgrund des Chitingehaltes die pflanzliche Abwehr. Als Alternative könnte der Verzehr von ausgesuchten Speiseinsektenarten die Notwendigkeit verringern, vertebrate Nutztiere zu züchten und damit die Effekte zu reduzieren, die mit ihrer Haltung einhergehen. Das würde auch dem Klima zugutekommen, und wenn Insekten unter kontrollierten Bedingungen gezüchtet werden, verringert sich der Druck auf Wildpopulationen. Des Weiteren sind Wirbellose taxonomisch deutlich weiter vom Menschen entfernt als Nutzsäuger, weswegen sie weniger Potential für virale oder bakterielle Zoonosen haben. Allerdings sind sie mitunter Zwischenwirte für Parasiten (v.a. Weichtiere), weswegen die Nutzung unter strikter Einhaltung (und Überwachung) der Lebensmittehygiene einhergehen muss. Im Rahmen der Nachhaltigkeit unterstützen die Speiseinsekten die Ziele 2, 3 und 12 direkt. Nutzinvertebraten als Futtermittel Steckt die Entomophagie im westlichen Kulturkreis noch in den Kinderschuhen, so ist die Akzeptanz von Insekten als Futtermittel deutlich höher. Ironischerweise gilt es als „natürlich“, wenn Nutztiere Insekten fressen. Anders als bei den Speiseinsekten besteht keine größere traditionelle Nutzung von Futterinsekten, da die damaligen Haltungssysteme davon ausgingen, dass die Nutztiere die Insekten ohnehin eigenständig fraßen. Für den Heimtiersektor werden Nutzwirbellose seit vielen Jahren als Futtertiere gezüchtet. Mittlerweile sind einige Insektenarten auch als Futtermittel für Aquakultur, Geflügel und Schweine zugelassen. Auch wenn diese Entwicklung sehr zu begrüßen ist, können diese Tiere, die sich in der Natur durchweg omnivor und meist saprophag ernähren, ihr Potential in der kommerziellen Haltung nicht voll entfalten, da sie als Nutztiere im Sinne der EU denselben Fütterungsvorgaben und -verboten unterworfen sind wie die vertebraten Nutztiere, für die das Futtermittelrecht geschrieben wurde und für die diese Verbote sinnvoll sind. Erste Studien legen nahe, dass Bakterienzahlen wie z.B. von Salmonellen in Insekten reduziert, wenn nicht sogar auf 0 gebracht werden, dass einige Insekten Mykotoxine inaktivieren und Kunststoffe fressen können, d.h., dass einige Fütterungsverbote, die für Nutzsäuger und Nutzgeflügel zu Recht bestehen, eigentlich keine Rolle bei Nutzinsekten spielen. Allerdings hat die Forschung diesbezüglich erst begonnen, und es wird sich erst in der Zukunft zeigen, welche Fütterungsverbote auch aus wissenschaftlicher bzw. risikoanalytischer Sicht für Nutzinsekten bleiben müssen und welche nicht. Hinsichtlich One Health gelten dieselben Argumente wie bei den Speiseinsekten, primär für die Tiere und sekundär für den Menschen, der diese Tiere konsumiert. Insektenzucht ist ein neuer Agrarsektor mit viel Potential, das jenseits des westlichen Kulturkreises bereits intensiv genutzt wird. Er schafft Arbeitsplätze und trägt somit direkt zu den Nachhaltigkeitszielen 1, 2, 3, 5, 8, 9, 10, 12, 13 und 16 bei. Weitere Verwendungen von Nutzinvertebraten Auch wenn gegenwärtig das Hauptaugenmerk auf Speise- und Futterinsekten liegt, so bestehen noch viele weitere Einsatzmöglichkeiten für Insekten und andere Wirbellose, auf die aufgrund des gesetzten Rahmens nicht näher eingegangen werden kann, z.B. in der Abfallwirtschaft (saprophage Spezies, die ohnehin in Biomüll auftreten), in der Industrie (pharmakologisch wirksame Substanzen, Chitin bzw. Chitosan als Ersatz für Kunststoffe, in der Landwirtschaft (Bestäuberinsekten, Kompostierung durch Ringelwürmer, Prädatoren von Schädlingen). Auch diese tragen in unterschiedlichem Maße und fallbezogen zu den Zielen von One Health bzw. der Nachhaltigkeit bei, z.B. indem Nebenströme aus der Wirbellosenzucht sinnvoll dem Re- und Upcycling zugeführt, Biomüll reduziert, neue Medikamente konzipiert, nachhaltige Verpackungsstoffe entwickelt und landwirtschaftliche Erträge biologisch gesteigert werden können. Insektenfette als Treibstoffe oder Schmiermittel etc.), oder 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 19

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ Rolle der Tiermedizin Die Nutzung von Wirbellosen geht typischerweise mit der kontrollierten Haltung großer Tierpopulationen einher. Die Kernkompetenzen der Tiermedizin sind Tiergesundheit und Tierwohl, und es gibt keinen Grund, sie diesen Tieren vorzuenthalten. Die fünf Freiheiten gelten für alle Tiere. In der Praxis öffnet sich das Feld der integralen Bestandsbetreuung für diese Spezies (wie gehabt im Verbund mit anderen Berufen), für die bereits jetzt Bedarf besteht. Auf den Ämtern befasst man sich seit langem mit den Details der Überwachung dieses Sektors. In der Industrie wird nach skalierbaren Verwendungsmöglichkeiten gesucht, und die Forschung arbeitet mit Hochdruck daran, den Kenntnisstand, den man bei vertebraten Nutztieren hat, für Wirbellose aufzuholen. An den deutschen tiermedizinischen Ausbildungsstätten werden Studierende unterschiedlich intensiv auf dieses Arbeitsfeld vorbereitet. Der Ruf „Where are the vets?“, den vor einigen Jahren ein führender Fachmann für Nutzinsekten tat, wird umgesetzt. Kontakt Dr. Nils Th. Grabowski, LMQS, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Nils.Grabowski@tiho-hannover.de 20 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ Nachhaltige Aquakultur: Potentiale und Herausforderungen Johannes Pucher Bundesinstitut für Risikobewertung, Abteilung Experimentelle Toxikologie und ZEBET, Berlin Einleitung Aquatische Lebensmittel spielen eine wichtige Rolle in der globalen Ernährung und tragen als Quelle für leichtverdauliche Proteine, essentielle Aminosäuren, ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Mineralien zur gesunden Ernährung essentiell bei. Hierzu zählen Fische, Garnelen, Krebse, Muscheln, Schnecken, Seeigel, Seesterne, Kopffüßer sowie Mikro- und Makroalgen. Von den 2020 weltweit 214 Millionen Tonnen aquatischer Biomasse stammten 50,8 % aus der Fangfischerei und 49,2 % aus Aquakulturen (1), wobei 92 % der aquakulturell produzierten Biomasse aus Asien stammt (2). Die EU wies im Jahr 2020 für aquatische Lebensmittel eine Selbstversorgungsrate von lediglich 38,9 % (2) auf, was auf eine große Abhängigkeit von Importen hinweist. In Deutschlang lag die Selbstversorgungsrate sogar nur bei 10 % (3). Es wird projiziert, dass global die Nachfrage für aquatische Lebensmittel weiterhin steigt (1) und dieser Bedarf primär durch Intensivierung und Ausweitung von Aquakulturen gedeckt werden muss (1). Grundsätzlich können viele aquatische Organismen sehr nährstoffeffizient gehalten werden (4), jedoch ist zu befürchten, dass die Ausweitung und Intensivierung von Aquakulturen zu steigenden negativen Auswirkungen auf die Umwelt führen (z. B. über die Eutrophierung, Wassernutzung, Futtermittelproduktion, Krankheitsausbreitungen). Somit spielt die Nachhaltigkeit für die zukünftige Entwicklung der Aquakultur eine Schlüsselrolle. Nachhaltige Aquakultur Die nachhaltige Aquakultur ist ein essentieller Bestandteil der Lebensmittelsysteme, um gesunde und sicherere Lebensmittel zu produzieren. Laut der FAO müssen nachhaltige Aquakulturen aquatische Ökosysteme bewahren, Umwelteinflüsse und -verschmutzung vermeiden, Biodiversität schützen und soziale Gleichheit fördern (1). Zudem müssen Tierwohl und die Sicherheit aquatischer Lebensmittel fokussiert werden. Aquakultur hat durch die Vielzahl an kultivierbaren Spezies, die Diversität der Produktionssysteme und die Vielfältigkeit der einsetzbaren Futterressourcen (6, 7) das Potenzial, ein wichtiger Teil zirkulärer Bioökonomien zu werden, indem sie in verschiedene Land- und Ressourcennutzungsformen integriert wird. Eine Steigerung der Nachhaltigkeit lässt sich durch Anpassungen der Produktionssysteme an die lokalen Bedingungen erreichen. Hierzu zählen unter anderem lokale Umweltbedingungen, die Qualität und Verfügbarkeit von Fläche, Wasser und Futterressourcen, Energie, klimatische Bedingungen, regulatorische Rahmenbedingungen, Marktanbindung, Nachfrage, vorhandene Expertise und Integration in angrenzende Sektoren. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen die Wahl der zu kultivierenden aquatischen Spezies und der Produktionssysteme mit dem geringsten negativen Effekt auf die Umwelt. Heutzutage werden mehr als 500 Arten oder Artengruppen (ohne Algen mitzuzählen) mit verschiedensten aquakulturellen Techniken und Produktionsarten gehalten, um den artspezifischen Ansprüchen in den Haltungsbedingungen und Wasserqualitäten (z. B. Temperatur, Salinität, pH-Wert, Wasserhärte) zu entsprechen. So werden Organismen von niedriger Trophiestufe (planktivore, herbivore und omnivore Tiere) bis zu hoher Trophiestufe (karnivore und piscivore Tiere) in Aquakulturen gezüchtet, wobei Spezies niedriger Trophiestufe besonders nachhaltig kultiviert werden können. Aquakultursysteme werden nach der Intensität der Haltung eingeteilt. In extensiven Systemen ernähren sich die gehaltenen Tiere ausschließlich durch im Wasser entwickelnde Naturnahrung (insb. Algen, Zooplankton, Zoobenthos); es wird kein weiteres Futter eingesetzt. Extensive Aquakulturen nutzen keine zusätzlichen Nährstoffe und dienen eher als Nährstoffsenke. Häufig sind diese Systeme biodiversitätssteigernd, haben aber bei hohem Flächeneinsatz nur eine geringe Produktion. In intensiven Systemen ernähren sich die Tiere ausschließlich durch zugefügte, meist prozessierte, bedarfsangepasste Futtermittel, wobei meist höhere Besatzdichten und technische Infrastrukturen eingesetzt werden. Hierbei werden heutzutage häufig geschlossene rezirkulierende Aquakultur-Systeme (RAS) genutzt, 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 21

Klimawandel und One Health: Die Tiermedizin im Umbruch ___________________________________________________________________________________________________________ um mit Hilfe von Wasserwiederaufbereitungstechniken und technischer Überwachung eine möglichst effiziente Wassernutzung sowie eine hohe Kontrollierbarkeit der Haltungsbedingungen und des Hygienestatus zu erreichen. Hingegen besteht in offenen intensiven Aquakulturen (z. B. Netzkäfige) direkter Kontakt mit der Umwelt, was zu höheren Nährstoffemissionen und Krankheitsübertragungen führen kann. Zudem hängt die Nachhaltigkeit intensiver Systeme stark von der Futterproduktion ab. Semi-intensive Aquakultur-Systeme sind der fließende Übergang zwischen extensiven und intensiven Systemen, in denen Zufütterung, Düngung oder technische Systeme in verschiedensten Kombinationen genutzt werden. Des Weiteren gibt es extraktive Aquakultur-Systeme, in denen Nährstoff-bindende Organismen kultiviert werden. In extraktiven Aquakulturen werden beispielsweise Seetange und filtrierende Muscheln gezüchtet, die durch organische Fixierung gelöster bzw. partikulärer Nährstoffe der Eutrophierung von aquatischen Systemen entgegenwirken und zudem noch habitats- und biodiversitätssteigernd sein können (5). Zudem gibt es Aquakultursysteme, die durch Kombination verschiedener Arten (z. B. Polykulturen und integrierte multitrophe Aquakulturen) oder durch Integration von Aquakultur und Landwirtschaft bzw. Hydrokultur (z. B. Aquaponic) eine möglichst effiziente Kreislaufführung von Nährstoffen zum Ziel haben. Herausforderungen Es bestehen jedoch auch eine Vielzahl an Herausforderungen, um die Aquakultur nachhaltiger zu gestalten. Die verschiedenen Aspekte umfassen: Klimawandel und die damit verbundenen (saisonalen) Limitierungen von Ressourcen-Menge und -qualitäten (insb. Wasser und Futter), Tierwohl, Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen und deren Bekämpfung (8), Domestizierung, regulatorische Faktoren (z. B. im Umgang mit Mehrfachnutzung von Ressourcen), Integration in Entwicklungspläne (1, 9, 10), Lebensmittelqualität und Lebensmittelsicherheit und die Erstellung von Standards und deren Kommunikation und Transparenz. Essentiell sind zudem die Akzeptanz und die Wertschätzung des Konsumenten und der Gesellschaft für aquatische Lebensmittel aus nachhaltigen Aquakulturen. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. FAO. The State of World Fisheries and Aquaculture 2022. Towards Blue Transformation. 2022. Rome. https://doi.org/10.4060/cc0461en EUMOFA. The EU fish market. European Market Observation for Fisheries and Aquaculture Products. 2022. FIZ. Daten und Fakten 2023. Fisch-Informationszentrum. Fry JP, Mailloux NA, Love DC, Milli MC, Cao L. Feed conversion efficiency in aquaculture: do we measure it correctly? Environmental Research Letters. 2018;13:024017 CGIAR, Food & Planet, GAIN. A Bellagio Convening on Advancing Regenerative Aquatic Foods. https://www.cgiar.org/news-events/event/a-bellagio-convening-on-advancing-regenerative-aquatic-foods/ Sampathkumar K, Yu H, Loo SCJ. Valorisation of industrial food waste into sustainable aquaculture feeds. Future Foods. 2023; 100240 Fry JP, Love DC, MacDonald GK, West PC, Engstrom PM, Nachman KE, Lawrence RS. Environmental health impacts of feeding crops to farmed fish. Environment International. 2016;91:201–214 Lieke T, Meinelt T, Hoseinifar SH, Pan B, Straus DL, Steinberg CEW. Sustainable aquaculture requires environmental-friendly treatment strategies for fish diseases. Reviews in Aquaculture. 2020;12:943–965 EC, AFD, GIZ. Opportunities and challenges for aquaculture in developing countries. Joint Report of the European Commission, Agence Francaise de Developpement and Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. 2017;1-21. https://europa.eu/capacity4dev/hunger-foodsecurity-nutrition/documents/opportunities-and-challenges- aquaculture-developing-countries Nationaler Strategieplan Aquakultur 2021-2030 für Deutschland (NASTAQ). AG NASTAQ. 2020. Kontakt Dr. Johannes Pucher; Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Berlin Johannes.Pucher@bfr.bund.de 22 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Änderungen seit Inkrafttreten des neues Tierarzneimittelrechts Kerstin Bode Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Berlin, Referat Tierarzneimittel, Rückstände von pharmakologisch wirksamen Stoffen in Lebensmitteln Die Neuordnung des Tierarzneimittelrechts auf EU-Ebene erfordert auch eine Neuordnung des nationalen Tierarzneimittelrechts. Mit der seit 28. Januar 2022 in allen Mitgliedstaaten anzuwendenden Verordnung (EU) 2019/6 über Tierarzneimittel und dem ebenfalls am 28. Januar 2022 in Kraft getretenen Tierarzneimittelgesetz (TAMG) gilt in Deutschland ein eigenständiges Tierarzneimittelrecht. Das TAMG enthält Vorschriften zur Durchführung der genannten EU-Verordnung und schreibt diejenigen tierarzneimittelrechtlichen Vorschriften des Arzneimittelgesetzes, die vor dem Hintergrund der Verordnung (EU) 2019/6 noch national fortgeführt werden dürfen, weitgehend fort. Die für Tierarzneimittel geltenden Vorschriften sind nun übersichtlich zusammengeführt. Viele der Neuerungen im nationalen Tierarzneimittelrecht resultieren dabei in erster Linie aus der Verordnung (EU) 2019/6 und den auf die Verordnung (EU) 2019/6 gestützten Durchführungsverordnungen und delegierten Verordnungen der Europäischen Kommission. Mit der am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Änderung des TAMG wurde das nationale Antibiotikaminimierungskonzept aktualisiert und erweitert. Mit diesem ersten Gesetz zur Änderung des TAMG wurden u.a. neue Nutzungsarten in das Antibiotikaminimierungskonzept aufgenommen und die Meldepflicht für die Behandlungen mit antibiotisch wirksamen Arzneimitteln wurde neu geregelt. Außerdem wurden Regelungen zur Antibiotikadatenerfassung bei Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten in das Tierarzneimittelgesetz aufgenommen, die der Erfüllung der EU-rechtlichen Verpflichtung zur Antibiotikadatenerfassung nach Artikel 57 der Verordnung (EU) 2019/6 über Tierarzneimittel dienen. In der ersten Stufe dieser Datenerfassung sind von den Mitgliedstaaten seit Januar 2023 die Daten zur Anwendung von antimikrobiellen Arzneimitteln bei allen Nutzungsarten und Altersgruppen der lebensmittelliefernden Tierarten Rind, Schwein, Huhn und Pute zu erheben. In der nächsten Stufe werden weitere lebensmittelliefernde Tierarten (z.B. Schafe und Ziegen, Gänse und Enten, verschiedene Fischarten und Pferde) ab 2026 in diese Datenerfassung miteinbezogen werden. Für Hunde und Katzen sieht das EU-Recht eine Datenerfassung ab 2029 vor; diese Datenerfassung ist national im Tierarzneimittelgesetz auf einen früheren Zeitpunkt gesetzt worden, sie beginnt in Deutschland bereits ab 2025. Am 7. Januar 2023 ist die Verordnung zur Anpassung von Rechtsverordnungen an das Tierarzneimittelrecht in Kraft getreten. Artikel 1 der Verordnung ist die Antibiotika-Arzneimittel- Verwendungsverordnung mit im Wesentlichen bereits bekannten Regelungen zu den Bestandsuntergrenzen für Nutzungsarten, die bereits vor Januar 2023 dem Antibiotikaminimierungskonzept unterlagen, sowie neuen Bestandsuntergrenzen für die seit Januar 2023 neu hinzu gekommenen Nutzungsarten. Am 16. März 2023 ist die Verordnung zur Neuregelung tierarzneimittelrechtlicher Verordnungen in Kraft getreten, mit der Tierarzneimittel-Kategorisierungsverordnung in Artikel 1, die Kriterien festlegt für die nach § 40 TAMG vorzunehmende Einteilung zur Apothekenpflicht bzw. Freiverkäuflichkeit von Tierarzneimitteln und bestimmten veterinärmedizintechnischen Produkten. Mit Artikel 2 der Mantelverordnung werden Regelungen für die Gute Herstellungspraxis für die Herstellung von Tierarzneimitteln und bestimmten veterinärmedizintechnischen Produkten geschaffen. Darüber hinaus sind weitere nationale Verordnungen an das neue Tierarzneimittelrecht anzupassen oder neu zu erlassen, u.a. die an Tierärztinnen und Tierärzte adressierte Verordnung über tierärztliche Hausapotheken. Kontakt Dr. Kerstin Bode; BMEL, Berlin, Referat 326 kerstin.bode@bmel.bund.de 24 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Stand zur Umsetzung des neuen Rechts durch das BVL Constance McDaniel Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), Berlin Situation seit 2019 Am 28.01.2019 ist die neue Tierarzneimittelverordnung (EU) 2019/6 [1] in Kraft getreten. Seit dem 28.01.2022 muss sie angewendet werden. Damit ist vom EU-Gesetzgeber erstmals ein in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltender Rechtsrahmen geschaffen worden. Die Verordnung enthält Bestimmungen zur Zulassung, zu Maßnahmen nach der Zulassung, zur Herstellung, Einige Bereiche des Tierarzneimittelverkehrs wurden Einfuhr, Ausfuhr, Abgabe und Anwendung von Tierarzneimitteln (TAM) sowie zu Kontrollen und Sanktionen. jedoch nicht direkt durch die EU- Tierarzneimittelverordnung geregelt, sondern durch ergänzende delegierte und Durchführungs-Rechtsakte auf europäischer Ebene. Diese sind mehrheitlich erlassen. Andere Bereiche können eigenständig durch die Mitgliedstaaten im nationalen Recht geregelt werden z.B. die Freistellung von der Zulassung für Tierarzneimittel für Heimtiere. Das erste eigenständige Tierarzneimittelgesetz (TAMG) [2] ist zeitgleich mit der Verordnung (EU) 2019/6 in Kraft getreten und beide rechtlichen Regelwerke müssen zusammen betrachtet werden. Das BVL war und ist weiterhin intensiv in den Umsetzungsprozess der neuen EU- Tierarzneimittelverordnung eingebunden. Insbesondere die Einrichtung öffentlich zugänglicher Datenbanken z. B. der Produktdatenbank zur Erfassung aller zugelassenen Tierarzneimittel und der Pharmakovigilanzdatenbank zur Erfassung unerwünschter Ereignisse nach der Anwendung von Tierarzneimitteln sowie die Verstärkung der Maßnahmen der EU im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen stellt das BVL seitdem vor große Herausforderungen. Was hat sich geändert? Pharmakovigilanz Statistische Analysen in der Pharmakovigilanzdatenbank der EU, in die alle in der EU gemeldeten unerwünschten Ereignisse nach Anwendung eines Tierarzneimittels übermittelt werden, sind der Goldstandard in der Überwachung der Sicherheit von Tierarzneimitteln, das sogenannte Signalmanagement. Das BVL ist aktiv an der Entwicklung eines Signalmanagementprozesses auf nationaler, aber auch auf EU- Ebene beteiligt. Zulassungsinhaber müssen jährlich eine Nutzen-Risiko-Analyse für ihre Präparate an festgelegten Zeitpunkten durchführen. Die Ergebnisse werden in die Pharmakovigilanzdatenbank der EU übermittelt. Sollten Signale festgestellt werden, so sind diese ebenfalls mitzuteilen. Derzeit erarbeitet eine Pilot-Gruppe der EMA, in der Experten aus den Mitgliedstaaten vertreten sind, an der Erarbeitung einheitlicher Abläufe für die Durchführung des Signalmanagementprozesses. Ab dem 28.01.2024 sollen die Zulassungsinhaber die Inzidenzen von unerwünschten Ereignissen, aufgeschlüsselt nach Tierarzneimittel, Tierart und Art des mutmaßlich unerwünschten Ereignisses der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Dafür werden die jährlichen Verkaufszahlen in der Produktdatenbank (Union Product Database – UPD) und Anzahl der unerwünschten Ereignisse in der Pharmakovigilanzdatenbank benötigt. Freistellung von Heimtierarzneimitteln Tierarzneimittel, die für ausschließlich als Heimtiere gehaltene Tiere bestimmt sind, bei denen es sich um in Aquarien oder Teichen gehaltene Tiere, Zierfische, Ziervögel, Brieftauben, Terrarium-Tiere, Kleinnager sowie Frettchen und Hauskaninchen handelt, können von der Zulassungspflicht freigestellt werden, sofern sie nicht der tierärztlichen Verschreibungspflicht unterliegen und nicht missbräuchlich verwendet werden können, z.B. bei Tieren, die der Lebensmittelgewinnung dienen. Um eine missbräuchliche Anwendung zu verhindern, gibt es weitere Voraussetzungen für eine Freistellung, u. a. dass diese Präparate zur äußerlichen oder oralen Anwendung oder Anwendung im Wasser bestimmt sind 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 25

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ und in angemessenen Packungsgrößen in den Verkehr gebracht werden. Diese Tierarzneimittel brauchen eine Packungsbeilage und die Pflichtangaben werden an die europäische Produktdatenbank UPD übermittelt. Als wichtige Neuerung unterliegen diese Präparate auch der Pharmakovigilanz, was bisher nicht der Fall war. Dies ist ein wichtiger Schritt zu einer sicheren Anwendung. Eine Anwendung freigestellter Tierarzneimittel bei anderen als den genannten Tierarten ist verboten! (§ 39 TAMG). Verbrauchsmengenerfassung antimikrobieller Tierarzneimittel Bereits seit 2011 werden in Deutschland die von den pharmazeutischen Unternehmen abgegebenen Mengen an antibiotischen Tierarzneimitteln an praktizierende Tierärztinnen und Tierärzte erfasst, national ausgewertet und publiziert sowie an das Europäische Projekt ESVAC übermittelt, wo diese zusammen mit den Abgabemengen anderer europäischer Mitgliedstaaten veröffentlicht werden [3]. Eine Neuerung ist, dass ab diesem Jahr gemäß Art. 57 der Verordnung (EU) 2019/6 die Tierärzteschaft verpflichtet ist, die bei allen Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten eingesetzten Mengen von antimikrobiellen Arzneimitten (Verschreibung, Anwendung und Abgabe) zu erfassen und im darauffolgenden Jahr an die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zu übermitteln. Aufgrund der Kopplung der Datenmeldungen an das Benchmarking, für welche halbjährliche betriebliche Therapiehäufigkeiten ermittelt werden, gilt auch für diese Daten eine halbjährliche Meldefrist. Die Umstellung von der derzeitigen Erfassung über eine Praxissoftware, den AuA-Beleg oder entsprechende Dokumentationslisten auf eine Meldung der Verbrauchsmengen an HI-Tier (war ab 01.01.2023 möglich) führte zu einer gewissen Verunsicherung in der Tierärzteschaft. Das BVL arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung des Systems. Verkaufsabgrenzung Auch die Einstufung der Verkaufsabgrenzung hat sich durch die neue Rechtsgrundlage geändert. Wurde vorher Wirkstoff-bezogen festgelegt, ob ein Tierarzneimittel verschreibungspflichtig, apothekenpflichtig oder freiverkäuflich war, wird nun Präparate-bezogen entschieden. Dabei wird die Verkaufsabgrenzung eines Tierarzneimittels mit der Zulassung festgelegt. Die Einstufung eines Präparats als verschreibungspflichtig oder nicht verschreibungspflichtig erfolgt durch das BVL gemäß Artikel 34 der Verordnung (EU) 2019/6. In Deutschland werden Tierarzneimittel zusätzlich nach § 40 Tierarzneimittelgesetz als apothekenpflichtig oder frei verkäuflich kategorisiert. Verschreibungspflichtige Tierarzneimittel sind dabei stets apothekenpflichtig. Apothekenpflichtige Tierarzneimittel dürfen nur in Apotheken und tierärztlichen Hausapotheken abgegeben werden während freiverkäufliche Tierarzneimittel auch außerhalb einer Apotheke verkauft werden können. Die Einteilungskriterien für die Kategorien sind in der Tierarzneimittel-Kategorisierungsverordnung (TAMKatV) festgelegt. Literatur 1. VERORDNUNG (EU) 2019/6 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 11. Dezember 2018 2. Gesetz über den Verkehr mit Tierarzneimitteln und zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffen Tierarzneimittel (Tierarzneimittelgesetz – TAMG) 3. European Medicines Agency, European Surveillance of Veterinary Antimicrobial Consumption, 2022. Sales of veterinary antimicrobial agents in 31 European countries in 2021. (2022). https://www.ema.europa.eu/en/documents/report/sales- veterinary-antimicrobial-agents-31-european-countries-2021-trends-2010-2021-twelfth-esvac_en.pdf Kontakt Dr. Constance McDaniel; Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Berlin Constance.mcdaniel@bvl.bund.de 26 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Rechtliche Besonderheiten zu Homöopathika Sonja Bröer Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Fachbereich Veterinärmedizin, Freie Universität Berlin Einleitung Homöopathie ist eine Behandlungsmethode, die aus dem 18. Jahrhundert stammt und auf der wissenschaftlich nicht belegbaren Annahme basiert, dass zur Therapie einer Erkrankung ein Arzneimittel angewandt werden sollte, das in hohen Dosen Symptome hervorrufen würde, die der zu behandelnden Erkrankung entsprechen (Ähnlichkeitsprinzip). Trotz der schlechten Evidenzlage für eine über den Placeboeffekt hinausgehende Wirksamkeit werden homöopathische Arzneimittel vielfach in der Human- und Veterinärmedizin eingesetzt. Es sind etwa 150 homöopathische Tierarzneimittel in Deutschland registriert. Der folgende Artikel soll einen Überblick über die rechtliche Einordnung hinsichtlich des Bezuges, der Anwendung und Abgabe von homöopathischen Arzneimitteln durch Tierärzte und Tierärztinnen als auch durch Laien geben. Der rechtliche Rahmen wird hauptsächlich durch die seit dem 28. Januar 2022 geltende EU-Verordnung über Tierarzneimittel 2019/6, sowie das nationale Gesetz über den Verkehr mit Tierarzneimitteln und zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend Tierarzneimittel (TAMG) vorgegeben. Definition und Registrierung nach europäischem Recht Homöopathische Tierarzneimittel (TAM) sind aus homöopathischen Ursubstanzen nach einem homöopathischen Zubereitungsverfahren hergestellt, das im Europäischen Arzneibuch oder einem gebräuchlichen Arzneibuch der Mitgliedsstaaten beschrieben ist (1). Um eine Registrierung zu erhalten, muss das homöopathische TAM (A) auf dem Weg verabreicht werden, der in den o.g. Arzneibüchern beschrieben ist (Applikationsart), (B) ausreichend verdünnt sein (Urtinktur mindestens 1:10.000, entspricht einer Potenzierung D4 in Fertigarzneimitteln), damit die Unbedenklichkeit des TAM garantiert werden kann, und (C) es darf keine Indikation in der Kennzeichnung des TAM genannt sein (2), da anders als für die Zulassung von TAM für die Registrierung kein Wirksamkeitsnachweis erforderlich bzw. erbringbar ist. Registrierungen homöopathischer TAM gelten unbefristet (3). Bezug homöopathischer (Tier-)Arzneimittel Generell dürfen Tierärzte im Rahmen des Betriebes einer tierärztlichen Hausapotheke apothekenpflichtige Arzneimittel (dies schließt verschreibungspflichtige Arzneimittel mit ein) von Großhändlern bzw. pharmazeutischen Unternehmen beziehen (4). Es dürfen hingegen keine apothekenpflichtigen Rohstoffe bezogen und weiterverarbeitet werden (5). Tierhalter dürfen apothekenpflichtige TAM in einer Apotheke oder bei einem Tierarzt beziehen, bei dem ihr Tier in Behandlung ist. Verschreibungspflichtige TAM werden an Tierhalter nur auf ein Rezept abgeben. Andere Laien (z.B. Tierheilpraktiker) dürfen apothekenpflichtige TAM nur in Apotheken erwerben (4,5). Anwendung und Abgabe homöopathischer (Tier-)Arzneimittel Für den Tierarzt gelten bezüglich Anwendung und Abgabe homöopathischer Arzneimittel die meisten rechtlichen Rahmenbedingungen wie für andere Arzneimittel, wobei einige Teile der EU-Verordnung wie die Umwidmungskaskade nicht für homöopathische TAM gelten (6). Im Rahmen des Dispensierrechtes kann der Tierarzt als Einzelhändler Arzneimittel vorrätig halten, an von ihm/ihr behandelten Tieren anwenden und in den meisten Fällen auch (Tier-)Arzneimittel an die Patienten bzw. deren Besitzer abgeben (7; Ausnahmen sind etwa bestimmte Betäubungsmittel, Impfstoffe oder explizit genannte Stoffe aus der sog. PharmStoff Verordnung). Versandhandel ist generell nur für nicht verschreibungspflichtige TAM erlaubt (8). Die Menge eines abgegebenen Arzneimittels darf nicht die benötigte Menge für die indizierte Behandlung überschreiten bzw. muss sie vom Tierarzt gerechtfertigt werden können (7,9). Der Tierarzt ist verpflichtet eine Behandlungsanweisung zu erstellen und der Tierhalter ist rechtlich verpflichtet, sich an diese zu halten (7,10). 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 27

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ den entsprechenden Andere Personen als Tierärzte und Apotheker können keine apothekenpflichtigen TAM abgeben. Zunächst war geplant, dass Laien auch keine von der Behandlungsanweisung bzw. Packungsbeilage abweichenden Behandlungen vornehmen dürfen. Dies hätte zur Folge, dass etwa Tierheilpraktiker keine Humanhomöopathika beim Tier mehr anwenden dürften. Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich entschieden, dass der Tierarztvorbehalt in diesem Fall das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung und Berufswahl einschränkt und somit registrierte Humanhomöopathika zur Anwendung bei nicht lebensmittelliefernden Tieren für nichtig erklärt (11). Verschreibungspflichtige (Tier-) Arzneimittel dürfen weiterhin nur entsprechend der Verschreibung eines Tierarztes angewandt werden. Für lebensmittelliefernde Tiere gilt: Die Wartezeit für homöopathische Arzneimittel aus Tabelle 1 der EU-Verordnung Nr. 37/2010 darf weiterhin auf „null“ Tage festgesetzt werden (12). Die in Tabelle 1 angegebenen Konzentrationen, die für die meisten Stoffe, die in homöopathischen TAM verwendet werden, 1:10000 beträgt, dürfen nicht überschritten werden. Stoffe aus Tabelle 2 wie z.B. Colchicin dürfen gar nicht angewandt werden. verschreibungspflichtige, Tierarztvorbehalt für nicht Zusammenfassung Trotz kontroverser Diskussionen hinsichtlich der Wirksamkeit und nicht zuletzt der Abschaffung der Weiterbildung „Homöopathie“ in einigen humanmedizinischen Landesärztekammern, bleibt die Homöopathie eine weiterhin vielfach genutzte Therapierichtung in der Human- und Veterinärmedizin. Die meisten arzneimittelrechtlichen Regelungen gelten auch für Homöopathika, allerdings reicht für die Registrierung aus, dass sie unbedenklich sind. Des Weiteren wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes den Tierarztvorbehalt nicht auf registrierte Humanhomöopathika anzuwenden, Laienbehandlern in Deutschland weiterhin ermöglicht, Tiere - ungeachtet der Schwere der Erkrankung und ohne Konsultation von veterinärmedizinischem Fachpersonal zu therapieren. In der Veterinärmedizin häufen sich kritische Stimmen zum Einsatz von Homöopathika, so hat das Royal Veterinary College sich bereits 2017 stark gegen die Anwendung von Homöopathika positioniert (13): „Homeopathy exists without a recognised body of evidence for its use. Furthermore, it is not based on sound scientific principles. In order to protect animal welfare, we regard such treatments as being complementary rather than alternative to treatments for which there is a recognised evidence base or which are based in sound scientific principles. It is vital to protect the welfare of animals committed to the care of the veterinary profession and the public’s confidence in the profession that any treatments not underpinned by a recognised evidence base or sound scientific principles do not delay or replace those that do.” Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. VO (EU) 2019/6: Art. 4 VO (EU) 2019/6: Art. 86 TAMG: §13 TAMG: §49 TAMG: §48 VO (EU) 2019/6: Art. 2 TAMG: §44 VO (EU) 2019/6: Art. 104 VO (EU) 2019/6: Art. 105 TAMG: §50 BVerfGE v. 29.9.2022 I 2261 - BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21 -: TAMG §50 Abs. 2: Nach Maßgabe der Entscheidungsformel mit Art. 2 Abs. 1 u. Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz unvereinbar u. nichtig TÄHAV: §12a https://www.rcvs.org.uk/news-and-views/news/college-publishes-complementary-medicines- statement/?&&type=rfst&set=true#cookie-widget, vom 3.11.2017, abgerufen am 28.09.2023 Kontakt Prof. Sonja Bröer, PhD; Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Fachbereich Veterinärmedizin, Freie Universität Berlin sonja.broeer@fu-berlin.de 28 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Suchmöglichkeiten nach zugelassenen Arzneimitteln Ilka Emmerich VETIDATA, Institut für Pharmakologie, Pharmazie und Toxikologie, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig Suche nach Tierarzneimitteln in Deutschland Im Zulassungsprimat sind die im betroffenen Mitgliedstaat für die Tierart und das Anwendungsgebiet zugelassenen Tierarzneimittel anzuwenden. Für Deutschland können diese entweder über das Arzneimittelinformationssystem AMIce oder VETIDATA1 recherchiert werden. „AMIce - Öffentlicher Teil“ wird kostenlos für die Öffentlichkeit von den für die Arzneimittelzulassung zuständigen Bundesoberbehörden BfArM2, BVL3 und PEI4 zur Verfügung gestellt. AMIce bietet trotz vielfältiger Suchparameter kein nachträgliches Filtern im Suchergebnis, keine Recherchemöglichkeit nach der Verfügbarkeit am Markt oder eine Volltextsuche innerhalb der Fachinformation an. Die Recherche nach Tierarzneimitteln in VETIDATA steht ausschließlich registrierten Nutzern kostenpflichtig zur Verfügung. Neben einer Schnellsuche bietet die Detailsuche neben diversen Suchparametern auch die Abfrage der Verfügbarkeit am Markt, ein nachträgliches Filtern innerhalb des Suchergebnisses sowie die Volltextsuche innerhalb der gesamten der Fachinformation oder bestimmter Abschnitte an. Suche nach Tierarzneimitteln in EU/EWR-Mitgliedsstaaten (Union product database, UPD) eingerichtet, die Entsprechend der Regelungen zu den in den Zulassungsbedingungen nicht genannten Anwendung von Tierarzneimitteln, den sogenannten Umwidmungskaskaden gemäß der Artikel 112 bis 114 der Verordnung (EU) 2019/6, kann der verantwortliche Tierarzt, insbesondere zur Vermeidung unzumutbarer Leiden, in direkter Eigenverantwortung ausnahmsweise das betreffende Tier bereits in der ersten Stufe auch mit Tierarzneimitteln behandeln, die in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) oder Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zugelassen sind. Zur Recherche dieser Arzneimittel wurde eine europäische Produktdatenbank für die Öffentlichkeit unter https://medicines.health.europa.eu/ zugängig ist. Unter den knapp 43000 Tierarzneimitteln, die die UPD zum 20.09.2023 verzeichnet, befinden sich sowohl national5, gemeinschaftlich6 als auch zentral7 zugelassene Tierarzneimittel. Innerhalb dieser kann nach verschiedenen Suchparametern recherchiert und im Suchergebnis nachträglich gefiltert werden. Wie auch bei AMIce bietet die UPD keine Recherchemöglichkeit nach der Verfügbarkeit am Markt oder eine Volltextsuche innerhalb der Fachinformation an. Außerdem sind noch nicht alle Tierarzneimittel für die Öffentlichkeit in der UPD einsehbar, sodass das Rechercheergebnis unvollständig sein kann. Eine ausschließlich auf die zentral von der EMA8 zugelassenen Tierarzneimittel beschränkte Suche findet sich unter https://www.ema.europa.eu/en/medicines. Leider werden die Inhalte zu den Tierarzneimitteln auf dieser Seite seit geraumer Zeit bis auf die Neuzulassungen nicht mehr für die Öffentlichkeit aktualisiert. Des Weiteren bietet der Produktindex der HMA9 unter https://mri.cts-mrp.eu/portal/home eine Suchmöglichkeit an, die auf gemeinschaftlich in der EU zugelassene Arzneimittel beschränkt ist. Unabhängig davon stellen auch die nationalen Zulassungsbehörden fast aller EU/EWR-Mitgliedstaaten weiterhin Recherchemöglichkeiten innerhalb der in ihrem Zuständigkeitsbereich zugelassenen Tierarzneimittel zur Verfügung, wie Deutschland 1 Veterinärmedizinischer Informationsdienst für Arzneimittelanwendung, Toxikologie und Arzneimittelrecht 2 Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte 3 Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit 4 Paul-Ehrlich-Institut, Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel 5 Eine nationale, durch das BVL erteilte Zulassung gilt ausschließlich für Deutschland. 6 Eine im gemeinschaftlichen Verfahren (Verfahren der gegenseitigen Anerkennung, mutual recognition procedur, MRP oder dezentralisiertes Verfahren, decentralised procedure, DCP) erteilte Zulassung gilt in mehreren Mitgliedsstaaten. 7 Eine zentrale, durch die EMA erteilte Zulassung gilt in allen Mitgliedsstaaten. 8 European Medicines Agency 9 Heads of Medicines Agencies 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 29

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ das mit AMIce tut. Tabelle 1 zeigt die Pfade zu den Rechercheangeboten der jeweiligen nationalen Zulassungsbehörden in Anlehnung an die Auflistung unter https://www.ema.europa.eu/en/partners- networks/eu-partners/eu-member-states/national-competent-authorities-veterinary. Tab. 1: Internetadressen über die nach zugelassenen Tierarzneimitteln in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums recherchiert werden kann (Stand 21.09.2023). Land Belgien Bulgarien Dänemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Irland Island Italien Kroatien Lettland Lichtenstein Litauen Luxemburg Malta Niederlande Norwegen Österreich Polen Portugal Rumänien Schweden Slowakei Slowenien Internetadresse https://banquededonneesmedicaments.afmps-fagg.be/usage-veterinaire https://kvmp.bfsa.bg/index.php/bg/registers/veterinarnomedicinski-producty http://produktresume.dk/AppBuilder/search https://portal.dimdi.de/amguifree/am/search.xhtml; https://vetidata.de https://www.ravimiregister.ee/default.aspx?pv=VetRavimid.Otsing https://www.fimea.fi/laakehaut_ja_luettelot/laakehaku http://www.ircp.anmv.anses.fr/search.aspx https://www.eof.gr/web/guest/searchvet https://www.hpra.ie https://www.serlyfjaskra.is https://www.vetinfo.it/j6_prontuario/farmaci/public/prodottomd/ http://www.veterinarstvo.hr/default.aspx?id=140 https://registri.pvd.gov.lv/vz https://aspregister.basg.gv.at/aspregister/faces/aspregister.jspx http://vetlt1.vet.lt/vr https://medicines.health.europa.eu/veterinary/fr https://medicines.health.europa.eu/veterinary/mt https://www.diergeneesmiddeleninformatiebank.nl https://www.legemiddelsok.no https://aspregister.basg.gv.at/aspregister/faces/aspregister.jspx https://rejestrymedyczne.ezdrowie.gov.pl/rpl/search/public https://medvet.dgav.pt http://www.icbmv.ro/ro/nomenclator-produse https://www.lakemedelsverket.se/sv/sok-lakemedelsfakta?activeTab=1 http://www.uskvbl.sk/?page_id=62 https://www.jazmp.si/en/veterinary-medicines/medicinal-product-information-and-datasets/lists- of-medicinal-products/2020-2/ https://cimavet.aemps.es/cimavet/publico/home.html http://www.uskvbl.cz/en/authorisation-a-approval/marketing-authorisation-of-vmps/list-of- vmps/currently-authorised-vmp/vmp-search https://atiportal.nebih.gov.hu/moengallatgykesz.html https://www.vmd.defra.gov.uk/ProductInformationDatabase/ http://www.moa.gov.cy/moa/vs/vs.nsf/All/8224D0900A5B16F6C22575B70021E1E4?OpenDocu ment Spanien Tschechien Ungarn Nordirland Zypern 30 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Für deutsche Tierärztinnen und Tierärzte interessante Tierarzneimittel, die in anderen EU/EWR- Mitgliedsstaaten zugelassen sind, finden sind auch in VETIDATA. Sie werden derzeit bei den Angaben zum Wirkstoff unter dem Reiter „Präparate“ angezeigt. Suche nach Humanarzneimitteln bieten beispielsweise zugelassenen Humanarzneimitteln Die für die Anwendung beim Menschen in Deutschland zugelassenen Arzneimittel sind wie die Tierarzneimittel im Arzneimittelinformationssystem AMIce einzusehen. Weitere Recherchemöglichkeiten nach in Deutschland kostenpflichtige Arzneimitteldatenbank des arznei-telegramms unter https://www.arznei-telegramm.de oder die kostenlose Arzneimittelinformation der Roten Liste unter https://www.rote-liste.de/. Da sich letztere über die Einträge der jeweiligen Präparate finanziert, kann das Rechercheergebnis unvollständig sein. Nach den gemeinschaftlich zugelassen Humanarzneimittel kann unter https://mri.cts-mrp.eu/portal/home und nach den zentral zugelassenen unter https://www.ema.europa.eu/en/medicines gesucht werden. Die Recherche nach national in anderen EU/EWR-Mitgliedsstaaten zugelassenen Humanarzneimitteln ist zeitlich sehr aufwendig, da sie derzeit nur über das Internet wie Rechercheangebote nationaler Zulassungsbehörden möglich ist. Zum Sucheinstieg können die unter https://www.ema.europa.eu/en/partners-networks/eu-partners/eu-member- states/national-competent-authorities-human genannten Internetadressen verwendet werden. die Suche nach Tierarzneimitteln in Drittländern nach zugelassenen Für die Suche nach Tierarzneimitteln in Drittländern existiert ebenfalls keine einheitliche Datenbank, so dass im jeweiligen Land entweder ausgehend vom Internetangebot der Zulassungsbehörde, des pharmazeutischen Unternehmers oder anderen Anbietern nach der jeweiligen Information gesucht werden muss. So kann beispielsweise unter https://www.vetpharm.uzh.ch/perldocs/kompend3.htm, unter unter https://animaldrugsatfda.fda.gov/adafda/views/#/search, https://aps2.senasa.gov.ar/adt/pages/public/farmacos/consultaProductosFarmacos.faces nach Tierarzneimitteln aus Südafrika zur Immobilisation von Tieren, die im Zoo, im Zirkus oder in Wildgehegen gehalten werden, unter https://www.wildpharm.co.za/products/ recherchiert werden. Literatur Schweiz USA Tierarzneimitteln Argentinien in der in in den oder 1. Verordnung (EU) 2019/6 des europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG Kontakt Dr. Ilka Emmerich; VETIDATA, Institut für Pharmakologie, Pharmazie und Toxikologie, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig emmerich@vetmed.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 31

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Perspektiven zur Verfügbarkeit von zugelassenen Tierarzneimitteln Claudia Sigge Bundesverband für Tiergesundheit e.V., Bonn Zulassung von Tierarzneimitteln und Tierarzneimittelmarkt Von wenigen Ausnahmen abgesehen (bestandsspezifische Impfstoffe, von der Zulassung befreite Tierarzneimittel für kleine Heimtiere, registrierte homöopathische Tierarzneimittel sowie Rezeptur-Arzneimittel, Formula officinalis, VO 2019/6 Art. 2 Abs. 3-6) ist die Zulassung Voraussetzung für die Vermarktung von Tierarzneimitteln (1). In der EU gibt es hierzu gegenwärtig vier Verfahren. Das nationale Zulassungsverfahren, das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung, das dezentrale Zulassungsverfahren und das zentrale Zulassungsverfahren bei der Europäischen Arzneimittel Agentur EMA, das mit einer EU-weit gültigen Zulassung abgeschlossen wird (2). Die Forschung und Entwicklung bis hin zur Zulassung dauert in der Regel 8 bis 10 Jahre, zum Teil aber auch deutlich länger. Die Anforderungen an die Zulassung sind komplex. Das Produkt wird auf Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit untersucht. Dies schließt die Sicherheit für das jeweilige Zieltier, die Sicherheit für den Anwender, die Umweltsicherheit und bei Produkten für Lebensmittel liefernde Tiere auch die Verbrauchersicherheit ein. Hier sind Daten zur Festlegung eines maximalen Rückstandshöchstwertes (Maximum Residue Limit, MRL) für den jeweiligen Wirkstoff und zur Ermittlung der Wartezeit für tierische Gewebe und Produkte (Eier, Milch) in den Studien für das jeweilige Produkt vorzulegen. Kosten für die Zulassung eines neuen Tierarzneimittels können bis zu 150 Mio. Euro betragen (2). Auch nach der Zulassung müssen die Produkte weiter intensiv begleitet werden. Es sind laufende Qualitätsprüfungen vorgeschrieben. Weitere Aufwendungen entstehen durch die fortlaufende Überwachung der Produkte im Rahmen der Pharmakovigilanz, jeweils erforderliche Anpassungen bei Änderungen der Produktionsabläufe oder Aktualisierung der Texte von Verpackung und Beipackzettel. Diese und alle späteren sich darin niederschlagenden Änderungen zum Produkt müssen von den Zulassungsbehörden genehmigt werden. Derzeit sind in der EU mehr als 40.000 Tierarzneimittel zugelassen. Dabei ist der Markt für Tierarzneimittel in der EU im Vergleich zum Humanmarkt klein und, auch bedingt durch die verschiedenen Tierarten, stark segmentiert. Der europäische Tierarzneimittelmarkt 2022 betrug 7,9 Mrd. Euro. Dies entspricht etwa 3 Prozent des Humanarzneimittelmarktes (3). Der deutsche Markt wird auf rund 900 Mio. Euro geschätzt (4). Produktion und Prozesse Tierärzte in Deutschland sind gewohnt, aus einem breiten Portfolio von Tierarzneimitteln und Impfstoffen schnell und verlässlich beliefert zu werden. Meist kann dies erfüllt werden, denn die veterinär-pharmazeutische Industrie setzt viel daran, eine gute Versorgung sicherzustellen. Dennoch kann es zu Lieferengpässen kommen. Diese können z. B. durch Probleme bei der Beschaffung von Wirkstoffen, im Herstellungsprozess, im Rahmen der Qualitätssicherung, aber auch durch eine unerwartet gesteigerte Nachfrage begründet sein. Die regulativen Vorgaben an die Herstellung von Tierarzneimitteln und die Freigabe der Chargen sind hoch. Zwar sind dies planbare Prozesse, die die Unternehmen in der täglichen Praxis strukturiert angehen. Aufgrund der hohen Anforderungen mit verschiedenen Kontroll- und Genehmigungsschritten sowie langen und komplexen Produktionsprozessen haben Unternehmen aber häufig nur eine begrenzte Fähigkeit und Befugnis, auf unerwartete Anforderungen zu reagieren (5). Zudem haben die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt, dass auch außerhalb des Produktionsprozesses liegende Faktoren wie die Corona-Pandemie und geopolitische Lage beispielsweise durch Verknappung bestimmter Ausgangsstoffe, Wirkstoffe oder Packmaterialen durch massiv erhöhten Bedarf auf Humanseite, Störung der Lieferketten und Anstieg der Energiepreise negative Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln haben können. Nicht zuletzt haben auch die gestiegenen Anforderungen in Folge der EU- Chemikalienstrategie, Anforderungen an Verpackung und Umweltrecht Einfluss auf die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln. 32 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Verfügbarkeit versus Lieferengpass Zu unterscheiden im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit ist die Frage, ob ein Produkt für die jeweilige Tierart und Indikation (im jeweiligen Mitgliedstaat) überhaupt zugelassen ist und vermarktet wird oder ob es sich um einen temporären, umfassenden oder ggf. lokalen Lieferengpass eines zugelassenen Produktes handelt (6). Nach einer Umfrage der Föderation europäischer Tierärzte (FVE) im Jahr 2022 wurden Lieferengpässe vor allem im Bereich der Impfstoffe beobachtet. Als zweithäufigste Kategorie wurden Antibiotika genannt. Schwierigkeiten bestanden danach auch in der Beschaffung verlässlicher Informationen zur Dauer des Engpasses, dessen Gründen und Alternativen (7). Auch in Erhebungen der französischen Zulassungsbehörde ANMV/ANSES für den Zeitraum 2014-2022 wurden Lieferengpässe am häufigsten bei Impfstoffen beobachtet (ein Drittel der Fälle), 20 Prozent der festgestellten Lieferengpässe betrafen Antibiotika (8). Nach Einschätzung des europäischen Verbandes der Arzneimittelhersteller AnimalhealthEurope war der häufigste Grund bei vermuteten Lieferengpässen, dass die Vermarktung des betreffenden Produktes eingestellt wurde, es sich also nicht um einen Lieferengpass im engeren Sinne handelte (9). Letztlich spielen auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle, beispielsweise eine zu geringe Nachfrage oder wenn das Produkt aufgrund stark gestiegener Produktionskosten nicht mehr zu einem wirtschaftlich adäquaten Preis angeboten werden kann. Hohe Aufwendungen in der Produktion, aber auch ein im Verhältnis zum Ertrag des Produktes hoher administrativer Aufwand laufende Produktbegleitung und zusätzliche Datenanforderungen können zur dauerhaften Einstellung der Vermarktung führen (10). für die Innovationen Trotz der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich angestiegenen Anforderungen ist die Innovationskraft des Sektors weiter hoch. Rund 8 Prozent des Umsatzes werden in die Forschung investiert (3). Allerdings müssen zunehmend Mittel für die sogenannte defensive Forschung und Entwicklung aufgewendet werden, also für den Erhalt bestehender Produkte. Auch hat sich in der Vergangenheit der Fokus der Forschung in Europa von Produkten für Lebensmittel liefernde Tiere mehr zu Tierarzneimitteln für Hobbytiere verschoben. In Bezug auf die verschiedenen Segmente werden Innovationen vor allem im Bereich pharmazeutische Spezialitäten beispielsweise in der Schmerztherapie sowie zur Behandlung der Haut bei Kleintieren bereitgestellt. Auch an neuen Impfstoffen wird beständig geforscht. Im Bereich Antibiotika ist die veterinärmedizinische Forschung dagegen weitgehend zum Erliegen gekommen. Seit den 80er Jahren wurden keine neuen Wirkstoffklassen mehr für die Veterinärmedizin zugelassen. Auswirkungen des neuen EU-Tierarzneimittelrechts Mit der Reform des europäischen Tierarzneimittelrechts sollten auch die Verfügbarkeit von Tierarzneimitteln verbessert, der administrative Aufwand verringert, die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und Innovationen gefördert werden. Auch wenn im Regelwerk einige positive Ansätze, beispielsweise Regelungen für einen verlängerten Unterlagenschutz und spezifische Regelungen für wirtschaftlich weniger bedeutende Tierarten (Minor Species) und kleine Märkte, enthalten sind, haben sich die Erwartungen an eine Reduzierung des administrativen Aufwandes bisher nicht erfüllt. Die nächsten Jahre müssen zeigen, inwieweit dieses und die weiteren Ziele realisiert werden können. Schließlich ist auch die Stärkung des Industriestandortes Europa und ein innovationsfreundliches Klima mit Offenheit gegenüber modernen Technologien wichtig, um auch in Zukunft moderne Lösungen für gesundheitliche Herausforderungen bereitstellen zu können. Fazit und Ausblick Es gibt ein breites Spektrum an zugelassenen Tierarzneimitteln für eine Vielzahl von Tierarten und Indikationen. Dennoch kann nicht für jede Indikation und jede Tierart ein zugelassenes Tierarzneimittel zu Verfügung gestellt werden. Literatur 1. Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG. Amtsblatt EU, L 4, 7.1.2019, S. 43–167. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 33

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Zulassungsverfahren für Tierarzneimittel in Europa. AnimalhealthEurope 2019, deutsche Fassung Bundesverband für Tiergesundheit 2021. AnimalhealthEurope, Annual report 2022. Bundesverband für Tiergesundheit, www.bft-online.de Schüller S, Lieferung von Arzneimitteln: Damit alles rund läuft. Der Praktische Tierarzt,2020;101; S. 820-822. Kovacs J, Presentation, HMA-EMA Multi-stakeholder workshop on shortages 1.-2.3.2023 https://www.ema.europa.eu/en/documents/presentation/presentation-2c6-rapporteur-session-janos-kovacs- ema_en.pdf De Briyne N, Presentation, HMA-EMA Multi-stakeholder workshop on shortages 1.-2.3.2023, https://www.ema.europa.eu/en/documents/presentation/presentation-2c1-medicines-veterinary-use-nancy-de- briyne-fve_en.pdf Carnat-Gautier P, Presentation, HMA-EMA Multi-stakeholder workshop on shortages 1.-2.3.2023, https://www.ema.europa.eu/en/documents/presentation/presentation-2c4-medicines-veterinary-use-paule- carnat-gautier-anses_en.pdf Clayton R, Presentation, HMA-EMA Multi-stakeholder workshop on shortages 1.-2.3.2023 https://www.ema.europa.eu/en/documents/presentation/presentation-2c3-medicines-veterinary-use-rick-clayton- animalhealtheurope_en.pdf Sigge, C, Tierarzneimittel Post-Marketing – Was nach der Zulassung geschieht. Der Praktische Tierarzt 2016,97, S. 578-579. Kontakt Dr. Claudia Sigge; Bundesverband für Tiergesundheit e.V. Bonn c.sigge@bft-online.de 34 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Trends beim Antibiotikaeinsatz: Zahlen und Fakten Svenja E. Sander Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Berlin Strategien zur Reduktion von Arzneimittelresistenzen Resistenzen potenziell pathogener Erreger gegenüber antimikrobiellen Stoffen (Antimikrobielle Resistenz - AMR) stellen für Menschen und Tiere ein erhebliches gesundheitliches Risiko dar und können negative sozioökonomischen Folgen großen Ausmaßes haben. Auch die Verbreitung von AMR in der Umwelt war über viele Jahre eine unterschätzte Problematik [1]. Es ist unumstritten, dass ein übermäßiger und nicht zielgerichteter Einsatz von Antibiotika die Resistenzproblematik fördert. Daher ist es von besonderer Wichtigkeit, dass Antibiotika im Human- wie Veterinärbereich sorgfältig und umsichtig eingesetzt werden, ihre Anwendung auf das therapeutisch notwendige Maß begrenzt und die Infektionsprävention verstärkt wird [2]. Die Mitgliedsstaaten der europäischen Union haben 2017 einen Aktionsplan zur Bekämpfung der Resistenz gegen antimikrobielle Mittel aufgesetzt, welcher u.a. das ehrgeizige Ziel hat, die EU zu einer Best-Practice- Region zu entwickeln. Weitere Maßnahmen wurden im Rahmen des European Green Deal mit der From-Farm- to-Fork- bzw. Vom Hof auf den Tisch - Strategie beschlossen. Hier wurde u.a. festgelegt, dass in der EU bis 2030 (Referenzjahr 2018) eine Reduktion des Gesamtumsatzes von antimikrobiellen Mitteln um 50 % erfolgen soll [3]. Auf nationaler Ebene wurden mit der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie (DART) in ihrer ersten Fassung von 2008 sowie mit der DART 2020 zahlreiche Maßnahmen eingeführt, welche v.a. eine verbesserte Informationslage sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin zum Ziel hatte. Die Strategie wurde als DART 2030 im Frühjahr 2023 fortgeschrieben und bündelt somit weitere Maßnahmen im Bereich AMR der unterschiedlichen Sektoren (Human-, Veterinärmedizin und Umwelt) im Sinne des One-Health-Gedanken [4]. Nationale und europäische Maßnahmen im Bereich Antibiotikaeinsatz in der Tiermedizin Seit 2011 werden in Deutschland die Mengen abgegebener Antibiotika an praktizierende Tierärztinnen und Tierärzte erfasst, national ausgewertet und publiziert sowie an das Europäische Projekt ESVAC übermittelt, wo diese zusammen mit den Abgabemengen anderer europäischer Mitgliedstaaten veröffentlicht werden [5]. Die Erhebungen ermöglichen einen europäischen Vergleich der in den Mitgliedstaaten verkauften antibiotikahaltigen Tierarzneimittel. Zudem werden die erhobenen Daten der Weltorganisation für Tiergesundheit (World Organization for Animal Health; WOAH (ehemals OIE)) zur Verfügung gestellt und über diese in einem globalen Bericht über Abgabemengen von Antibiotika in der Tiermedizin publiziert [6]. Ab diesem Jahr ist nach Art. 57 der Verordnung (EU) 2019/6 die Erfassung der Abgabemengen antimikrobiell wirksamer Tierarzneimittel in allen Mitgliedsstaaten der EU gesetzlich verpflichtend und weiter harmonisiert worden. Die zu erhebenden Informationen bilden eine wichtige Grundlage, um mögliche Optimierungspotenziale zu identifizieren und den Effekt von Maßnahmen, die einer Reduzierung des Einsatzes von antimikrobiellen Tierarzneimitteln, insbesondere Antibiotika, unterstützen sollen, einschätzen zu können. Zudem wurden 2014 Maßnahmen des Antibiotikaminimierungskonzeptes in das Arzneimittelgesetz aufgenommen. Die Maßnahmen sollten einen optimierten Einsatz von Antibiotika in der Masttierhaltung unterstützen. Seitdem werden für Maststiere der Tierarten Rind, Schwein, Huhn und Pute ab bestimmten Bestandsgrößen die Anwendungen mit Antibiotika erfasst und zu den Tierzahlen der jeweiligen Bestände ins Verhältnis gesetzt. Die hierüber ermittelten betrieblichen Therapiehäufigkeiten dienen dem Vergleich mit anderen Betrieben (sogenanntes Benchmarking) und können bei Überschreiten definierter Kennzahlen betriebsspezifische Maßnahmen, welche in Absprache mit den behandelnden Tierärztinnen bzw. Tierärzten und den Überwachungsbehörden erfolgen, auslösen. Das Antibiotikaminimierungskonzept wurde im Tierarzneimittelgesetz fortgeschrieben und seit diesem Jahr um einige weitere Nutzungsarten erweitert. Bis einschließlich 2022 waren die Nutztierhalter in der Verpflichtung, diese Daten zu melden. Seit 2023 ist die Meldepflicht auf die Tierärzteschaft übergegangen. Ab Januar 2023 sind zudem nach Art. 57 Verordnung (EU) 2019/6 in Verbindung mit Art. 15 der Delegierten Verordnung (EU) 2021/578 Anwendungen von antimikrobiellen Arzneimitteln bei den Tierarten Rind, Schwein, 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 35

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Huhn und Pute zu erfassen. Da diese Erfassung auf nationaler Ebene mit den Erhebungen für das Antibiotikaminimierungskonzept verknüpft ist, sind diese Daten halbjährlich zu melden (14. Juli und 14. Januar für das jeweilig vorherige Halbjahr). Verantwortlich für die Datenmeldung sind die behandelnden Tierärztinnen und Tierärzte, da insbesondere vor dem Hintergrund der weiteren Stufen der Verbrauchsmengenerfassung eine Meldung durch den Halter aus qualitäts-, aber auch überwachungstechnischen Gründen nicht umsetzbar ist. Durch eine systematische Erfassung von Anwendungsdaten können die eingesetzten Tierarzneimittel nach Tierarten aufgeschlüsselt werden. Diese Information kann im Rahmen der Abgabemengenerfassung nicht ermittelt werden, da die abgegebenen Tierarzneimittel i. d. R. für mehrere Tierarten zugelassen sind. Was wurde bisher erreicht? In den elf Jahren seit Einführung der Abgabemengenerfassung im Jahr 2011 wurden in Deutschland die Mengen der an Tierärztinnen und Tierärzte abgegebenen antibiotischen Tierarzneimittel bis zum Jahr 2022 um 68,4 % reduziert. Dies ist eine beachtliche Reduktion, zu welcher sicherlich auch die Tierärzteschaft einen erheblichen Beitrag geleistet hat. Nach der Einführung des Benchmarkings im Jahr 2014 sind die Abgabemengen im Vergleich zum Vorjahr um 35 % gesunken, was auf eine Wirksamkeit der ergriffenen Maßnahmen im Sinne einer Reduktion des Einsatzes von Antibiotika in der Tiermedizin hindeutet. Die Datenmeldungen zur Verbrauchsmengenerfassung konnten ab dem 1. Januar dieses Jahres in der Datenbank der HI-Tier vorgenommen werden. Rückmeldungen von HI-Tier, der Tierärzteschaft, Überwachungsbehörden und Softwareanbietern deuten darauf hin, dass es für das erste Meldejahr noch besondere Herausforderungen zu lösen gibt im Hinblick auf Qualitätsanforderungen der Daten und deren Meldewege. BVL und HI-Tier arbeiten kontinuierlich an der Verbesserung des Systems. Ausblick Wie bereits dargelegt, ist die Erfassung der Verbrauchsmengen nach Art. 57 Verordnung (EU) 2019/6 auf weitere Tierarten auszuweiten. Die nationale Implementierung der Verbrauchsmengenerfassung kann in drei Stufen erfolgen, abhängig von den Tierarten, für welche die Daten erhoben werden (Artikel 15 der Delegierten Verordnung (EU) 2021/578). Ab dem Jahr 2023 müssen angewendete, abgegebene oder verschriebene Mengen von antimikrobiellen Arzneimitteln für Rinder, Schweine, Hühner und Puten erfasst werden. Ab dem Jahr 2026 kommt die Erfassung der Verbrauchsmengen für Enten, Gänse, Schafe, Ziegen, Fische (entsprechend der Verordnung), Pferde und der Lebensmittelgewinnung dienende Kaninchen hinzu. In der dritten Stufe müssen ab dem Jahr 2029 auch die Verbrauchsmengen für Pelztiere, Hunde und Katzen aufgezeichnet werden. Die Erfassung der beiden zuletzt genannten Tierarten beginnt nach aktuellem Tierarzneimittelgesetz in Deutschland bereits ab dem Jahr 2025. Wir arbeiten derzeit unter Hochdruck an einer Umsetzung dieser Vorgabe und werden im laufendem Jahr hierzu regelmäßig kommunizieren und beizeiten entsprechende Hilfestellungen bereitstellen. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. World Health Organization (2019): Ten threats to global health in 2019. https://www.who.int/news-room/spotlight/ten- threatsto-global-health-in-2019 Roca I. et. al, (2015): The global threat of antimicrobial resistance: science for intervention. New Microbes New Infect. 6: 22-29. doi: 10.1016/j.nmni.2015.02.007. eCollection 2015 Jul. https://health.ec.europa.eu/antimicrobial-resistance/eu-action-antimicrobial-resistance_de Bundesministerium für Gesundheit, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2023): DART 2030: Deutsche Antibiotika- Resistenzstrategie. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/A/Antibiotika- Resistenz-Strategie/DART_2030_bf.pdf European Medicines Agency, European Surveillance of Veterinary Antimicrobial Consumption, 2022. Sales of veterinary antimicrobial agents in 31 European countries in 2021. (2022). https://www.ema.europa.eu/en/documents/report/sales-veterinary-antimicrobial-agents-31-european-countries-2021- trends-2010-2021-twelfth-esvac_en.pdf World Organization for Animal Health (2022). Seventh Annual Report on Antimicrobial Agents Intended for Use in Animals. https://www.woah.org/en/document/seventh-annual-report-on-antimicrobial-agents-intended-for-use-in- animals-2/ 36 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Status quo zu Umwidmungsverboten und Einschränkungen zum Antibiotikaeinsatz Christine Schwarz Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), Berlin Für die Zulassung und den Einsatz von antimikrobiellen Wirkstoffen in der Veterinärmedizin gab es bereits basierend auf den alten Rechtsgrundlagen (Richtlinie 2001/82/EG, AMG und TÄHAV) zahlreiche Regelungen im Sinne des Antibiotikaminimierungskonzeptes u.a.: Abgabemengenerfassung, Resistenz Monitoring, Erfassung der Therapiehäufigkeit für Masttiere, Umwidmungsverbote, Antibiogrammpflicht. Diese Bestimmungen wurden mit der aktuellen Rechtsgrundlage durch die europäische Tierarzneimittelverordnung (EU) 2019/6 (1) und die Arzneifuttermittelverordnung 2019/4 (2) sowie auf nationaler Ebene durch das Tierarzneimittelgesetz (3) weitgehend übernommen und darüber hinaus noch verstärkt. Diese weitergehenden Beschränkungen zum Einsatz von antimikrobiellen Wirkstoffen, die seit Januar 2022 gültig sind, werden im Folgenden zusammengefasst. Neben den grundsätzlichen Beschränkungen der Anwendung aller Tierarzneimittel durch das Zulassungsdiktat (Anwendung in Übereinstimmung mit den Zulassungsbedingungen (Art. 106 Abs. 1 (EU) 2019/6)), das insbesondere für Antibiotika im Hinblick auf deren Dosierung problematisch sein kann, und den Vorgaben zur Umwidmung (Art. 112 - 114), ist der Artikel 107 für die Anwendung antimikrobieller Wirkstoffe maßgeblich. Dieser Artikel regelt u.a. die prophylaktische (Abs. 3) sowie die metaphylaktische (Abs. 4) Anwendung und sieht außerdem Verbote bzw. Einschränkungen der Umwidmung bestimmter antimikrobieller Stoffe nach Abs. 5 und 6 vor. Gemäß Artikel 37 Abs. 5 wurde am 19. Juli 2022 per Durchführungsverordnung (4) ein Verzeichnis antimikrobieller Wirkstoffe oder Gruppen derselben im Amtsblatt der Europäischen Kommission veröffentlicht (sogenannte ‚Human Reserved List‘), die ausschließlich der Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten bleiben müssen. Diese Wirkstoffe dürfen in der europäischen Union für Tiere nicht mehr zugelassen oder umgewidmet (Art. 107 Abs. 5) werden. In dem Verzeichnis sind die folgenden Antibiotika gelistet: Carboxypenicilline, Ureidopenicilline, Ceftobiprol, Ceftarolin, Kombinationen von Cephalosporinen mit Betalaktamase-Inhibitoren, Peneme, Monobactame, Phosphonsäurederivate, Glykopeptide, Lipopeptide, Oxazolidinone, Fidaxomicin, Plazomicin, Glycylcycline, Eravacyclin, Omadacyclin. Siderophor-Cephalosporine, Carbapeneme, Daneben hat die Europäische Arzneimittel Agentur (EMA) gemäß Artikel 107 Abs. 6 ein Verzeichnis antimikrobieller Wirkstoffe erstellt, die nur noch unter bestimmten Voraussetzungen von den Zulassungsbedingungen abweichend, bei Tieren angewendet werden dürfen. Die wissenschaftlichen Empfehlungen der EMA für die Umwidmung dieser Antibiotika sind in Tabelle 1 wiedergegeben und wurden am 15 Juni 2023 veröffentlicht (5). Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Europäische Kommission den Empfehlungen der EMA folgt und sie in dieser Form in eine rechtsverbindliche Durchführungsverordnung übernehmen wird. Über europäische Einschränkungen hinaus können Mitgliedstaaten nach Art. 107 Abs. 7 die Anwendung bestimmter antimikrobieller Wirkstoffe weiter einschränken oder verbieten, wenn deren Verabreichung einer einzelstaatlichen Strategie zur umsichtigen Verwendung von antimikrobiellen Wirkstoffen zuwiderläuft. Denkbar wäre beispielsweise, dass durch eine Änderung der Tierärztlichen Hausapotheken-verordnung (6) Colistin (Polymyxin E) den Regelungen zu Fluorochinolonen und Cephalopsporinen der 3. und 4. Generation gleichgestellt wird. Diese Wirkstoffe werden als besonders kritisch hinsichtlich Ihrer Bedeutung für die öffentliche Gesundheit angesehen und befinden sich in denselben Kategorien der WHO: HPCIA (highest priotity critically important antimicrobials) (7) und der AMEG (Antimicrobial Advice Ad Hoc Expert Group): Kategorie B (8). Daneben wären für kritische Wirkstoffe oder antibiotische Klassen Einschränkungen hinsichtlich Ihrer Anwendung zur Prophylaxe oder Metaphylaxe denkbar. 38 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Tabelle 1: Einschränkungen für die Umwidmung e n i r o p s o l a h p e C . n e G . 4 & . 3 1 e n i x y m y l o P l e n o o n h C i l i , e n o o n h c o r o u F l i n e r o t i b h n I - e s a m a t k a l a t e B t i m e n i l l i c i n e p o n m A i e l o k i n e h p m A 2 e n i z y m a f i R n e g e g e f f o t s k r i W l e s o u k r e b u T e n i z a n e f o n m R i i i n e r u ä s n n o m o d u e s P Erregeridentifikation und Empfindlichkeitsprüfung für Anwendungsgebiete (z.B. best. pathogene Bakterien), die nicht in der Fachinformation genannt sind Keine Anwendung bei zur Lebensmittelgewinnung dienenden im Wasser lebenden Tierarten Keine Anwendung bei Geflügel Behandlung von Salmonellose: Einzeltiere mit potenziell lebensbedrohlichen Infektionen, nur mit Injektabila Anwendung nur bei Einzeltieren Nicht zur therapeutischen und metaphylaktischen Behandlung von Salmonella spp. bei Geflügel Anwendung anderer Anwendungswege als in der Fachinformation genannt, Zubereitungen nach tierärztlicher Verschreibung: nur bei Einzeltieren Anwendung von Humanarzneimitteln: nur bei Einzeltieren Keine Anwendung von oralen Darreichungsformen für Tiergruppen zur therapeutischen oder metaphylaktischen Behandlung von Salmonella spp. Nur zur Behandlung von Mykobakterien und multi-resistenten Staphylokokken; nicht zur Prophylaxe von Rhodococcus equi Infektionen Nur zur Behandlung von Infektionen durch MRSA und MRSP wenn zugelassene topische Tierarzneimittel gegen Staphylokokkeninfektionen unwirksam sind; nicht zur routinemäßigen Dekolonisation von MRSA/MRSP; nur zur topischen Anwendung x x x x x3 x x x x x x x x x x3 x x x x x x x x x x x x x x x 1Bedingungen gelten nicht für Polymyxin B zur systemischen Behandlung von Endotoxämie bei Equiden, einhergehend mit schwerer Kolik und anderen gastrointestinalen Erkrankungen 2Bedingungen gelten nur für humanmedizinische Produkte, für Zubereitungen nach tierärztlicher Verschreibung und für Tierarzneimittel, die in Drittländern zugelassen sind. Sie gelten nicht für rifamixinhaltige TAM, die in der EU zugelassen sind und sie gelten nicht für die Behandlung von Rhodococcus equi Infektionen bei Equiden mit Rifampicin 3Ausnahme: in geschlossenen Wassertanks lebende Tiere zur Arterhaltung, Ziertiere 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 39

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Ob und in welcher Form in Deutschland von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, war zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung nicht bekannt. Bisher besteht lediglich nach Art. 17 Abs. 3 der Arzneifuttermittelverordnung 2019/4 (2) ein grundsätzliches Verbot der prophylaktischen Anwendung für Arzneifuttermittel (z.B. Prämixe), die antimikrobiell wirksame Tierarzneimittel enthalten. Mögliche Änderungen könnten sich zukünftig für antimikrobielle Wirkstoffe basierend auf der Erstellung von zwei weiteren Verzeichnissen ergeben. Dies ist nach Art. 114 Abs. 3 zum einen ein Verzeichnis für Wirkstoffe, die für zur Lebensmittelgewinnung dienende im Wasser lebenden Tierarten umgewidmet werden können (9) und zum anderen ein Verzeichnis für Wirkstoffe, die als wesentlich für die Behandlung von Equiden angesehen werden und daher für auch für Lebensmittel-liefernde Equiden mit einer Wartezeit von 6 Monaten umgewidmet werden dürfen (10). Diese Listen müssen per Implementierungsakt von der Europäischen Kommission bis spätestens zum 27 Januar 2027 (9) beziehungsweise bis zum 29 Januar 2025 (10) verabschiedet sein. Literatur 1. Verordnung (EU) 2019/6 des europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A32019R0006 2. Verordnung (EU) 2019/4 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Verwendung von Arzneifuttermitteln, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/167/EWG des Rates https://eur- lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A32019R0004 3. Gesetz über den Verkehr mit Tierarzneimitteln und zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend Tierarzneimittel (Tierarzneimittelgesetz - TAMG) https://www.gesetze-im-internet.de/tamg/ 4. DURCHFÜHRUNGSVERORDNUNG (EU) 2022/1255 DER KOMMISSION vom 19. Juli 2022 zur Bestimmung von antimikrobiellen Wirkstoffen oder von Gruppen antimikrobieller Wirkstoffe, die gemäß der Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates der Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten bleiben müssen https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32022R1255 5. Scientific advice under Article 107(6) of Regulation (EU) 2019/6 for the establishment of a list of antimicrobials which shall not be used in accordance with Articles 112, 113 and 114 of the same Regulation or which shall only be used in accordance with these articles subject to certain conditions Implementing measures under Article 107(6) of Regulation (EU) 2019/6 on veterinary medicinal products, Establishment of a list of antimicrobials, which shall not be used in accordance with Articles 112, 113 and 114 or which may be used in accordance with these articles subject to certain conditions (EMA/CVMP/151584/2021) https://food.ec.europa.eu/animals/animal-health/vet-meds-med-feed/implementation/regulation- eu-20196-implementing-acts_de 6. Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) https://www.gesetze-im-internet.de/t_hav/BJNR021150975.html 7. WHO Critically Important Antimicrobials for Human Medicine, 6th Revision 2018 https://www.who.int/publications/i/item/9789241515528 8. Categorisation of antibiotics in the European Union Answer to the request from the European Commission for updating the 9. 10. scientific advice on the impact on public health and animal health of the use of antibiotics in animals (EMA/CVMP/CHMP/682198/2017) https://www.ema.europa.eu/en/news/categorisation-antibiotics-used-animals-promotes- responsible-use-protect-public-animal-health Implementing measures under Article 114(3) of Regulation (EU) 2019/6 as regards substances used in veterinary medicinal products authorised in the Union for use in food-producing terrestrial animal species or substances contained in a medical product for human use authorised in the Union in accordance with Directive 2001/83/EC or Regulation (EC) No 726/2004, which may be used in food-producing aquatic species in accordance with Article 114(1) https://food.ec.europa.eu/animals/animal-health/vet-meds-med-feed/implementation/regulation-eu-20196-implementing- acts_de Implementing measures under Article Art 115(5) of Regulation (EU) 2019/6 as regards the list of substances which are essential for the treatment of equine species and for which the withdrawal period for equine species shall be six months https://food.ec.europa.eu/animals/animal-health/vet-meds-med-feed/implementation/regulation-eu-20196-implementing- acts_de Kontakt Dr. Christine Schwarz; Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) Berlin, Abteilung 3 Tierarzneimittel, Referat 314 Wirksamkeit und Zieltierverträglichkeit christine.schwarz@bvl.bund.de 40 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Resistenzen bei tierpathogenen Bakterien: Nehmen sie ab? Heike Kaspar, Anne-Kathrin Karaalp, Antje Römer, Maria Kluge, Britta Ballhausen, Ulrike Steinacker Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), Berlin Einleitung Jeder Einsatz antibakteriell wirksamer Substanzen sowohl in der Human-, wie auch in der Veterinärmedizin schafft neue Resistenzen bzw. es werden bereits bestehende Antibiotikaresistenzen dadurch selektiert. Diesem Problem kann nur in einem interdisziplinären Ansatz im Sinne von „One health“ wirkungsvoll begegnet werden. Mit dem Antibiotikaminimierungskonzept des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft soll unter anderem der sorgfältige und verantwortungsvolle Umgang mit Antibiotika in der Therapie von erkrankten Tieren gefördert werden. Ebenso soll die Anwendung von Antibiotika auf das notwendige therapeutische Maß beschränkt werden, um die Entstehung und Weiterverbreitung von Antibiotikaresistenzen einzudämmen. Als wesentliches Tool des Risikomanagements zur Minimierung der Antibiotikaresistenz dient das repräsentative Resistenzmonitoring und Lebensmittelsicherheit (BVL), das valide quantitative Daten zur Einschätzung der aktuellen Resistenzsituation in Deutschland bereitstellt. Sie ermöglichen es, koordinierende Maßnahmen zu formulieren und Tierärzten Entscheidungshilfen zur kalkulierten Therapie zu geben. Außerdem gehen sie in die Zulassungsverfahren von Tierarzneimitteln ein. tierpathogener Bakterien des Bundesamtes für Verbraucherschutz Methode Das BVL erhebt seit dem Jahr 2001 jährlich Resistenzdaten zu tierpathogenen Bakterien im Rahmen des Resistenzmonitorings GERM-Vet. Bewertet wurden diese Ergebnisse anhand veterinärmedizinischer klinischer Grenzwerte, um Vorhersagen für die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolges treffen zu können. Standen diese Grenzwerte nicht zur Verfügung, wurden stattdessen die MHK90-Werte herangezogen, um diese Wahrscheinlichkeit einschätzen zu können. Es werden Empfindlichkeitsdaten nach einem dezidierten Stichprobenplan gegenüber 24 antibakteriell wirksamen Substanzen erhoben, wobei den Wirkstoffen, die nach WHO als „critically important“ für die Humanmedizin eingestuft werden, eine besondere Bedeutung zukommt. Ergebnisse Das Resistenzniveau für Erreger von Atemwegsinfektionen bei Rindern und Kleintieren lag im Studienjahr 2021 mit maximal 21 % resistenter Isolate in sehr günstigen Bereichen. Auch bei Isolaten, die aus Mastitiden bei Milchkühen stammten, kann das Resistenzniveau als bislang günstig angesehen werden. Alle getesteten Wirkstoffe zeigten Resistenzraten von maximal 12 %. Ausnahmen waren Enterococcus faecalis und Streptococcus spp., bei denen die Resistenzrate für Tetracyclin bis zu 82 % betrug. Wie in den Studienjahren zuvor traten bei der Bakterienspezies Klebsiella spp. sehr vereinzelt ESBL-Bildner auf, die gegen die für die Behandlung beim Menschen wichtige Wirkstoffklasse der neueren Cephalosporine Resistenzen ausbilden. Sehr viel höhere Resistenzraten fanden sich bei den Erregern von Enteritiden und Hautinfektionen. Betroffen sind hierbei in erster Linie die Bakterienspezies E. coli und S. aureus, isoliert von Nutztieren. Gegenüber vielen Antibiotika wiesen sie Resistenzraten von bis zu 70 % bzw. 78 % auf. Ebenso befinden sich die MHK90-Werte gegenüber den Cephalosporinen der neueren Generation und den Fluorchinolonen in stark erhöhten Bereichen. Auch bei der Indikation Septikämie beim Geflügel ist Staphylococcus aureus mit hohen Resistenzraten (bis zu 61 %) gegenüber einigen Antibiotika zu nennen. Bis auf den erhöhten Anteil von Oxacillin-resistenten Isolaten (20 %), unterschieden sich die Werte kaum von denen der Vorjahre, allerdings ist in den letzten Jahren ein Anstieg der MHK90-Werte gegenüber Enrofloxacin und teilweise den Cephalosporinen zu verzeichnen. ESBL-Bildner bei E. coli werden am häufigsten bei Isolaten von Kälbern nachgewiesen (13 % der untersuchten E. coli-Isolate), gefolgt vom Mast- und Milchrind, Katze, Schwein, Hund und Geflügel. Insgesamt wurden für E. coli vom Nutztier bei einem Großteil der getesteten Wirkstoffe höhere Resistenzraten bzw. MHK90-Werte 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 41

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ bestimmt als bei denjenigen vom Kleintier. Allerdings wurden auch im Kleintierbereich hohe Resistenzraten bzw. MHK90-Werte für Ampicillin (ca. 35 %), Tetracyclin (20 %) und Enrofloxacin bzw. Marbofloxacin detektiert. Schlussfolgerung Aufgrund dieser soliden wissenschaftlichen Datenbasis im veterinärmedizinischen Bereich zu bewerten und in Bezug zur Einschätzung des Risikos für die Humanmedizin zu setzen. Die Bewertung ist stets tierartenspezifisch zu sehen, so dass bei einigen Tierarten und Indikationen durchaus ein Rückgang der Resistenzraten zu beobachten ist, während dies bei anderen Tierarten nicht der Fall ist. ist es möglich, die Resistenzlage Literatur 1. CLSI document VET01 6th Edition. Performance standards for antimicrobial disk and dilution susceptibility tests for bacteria isolated from animals. Clinical and Laboratory Standards Institute, Wayne, PA, USA (2023). 2. CLSI document VET06 1st Edition. Methods for Antimicrobial Susceptibility Testing of Infrequently Isolated or Fastidious Bacteria Isolated from Animals. Clinical and Laboratory Standards Institute, Wayne, PA, USA (2019). Kontakt Dr. Heike Kaspar, Abteilung 5 Methodenstandardisierung, Referenzlaboratorien und Antibiotikaresistenz, Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), Berlin heike.kaspar@bvl.bund.de 42 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Multiresistente Zoonose-Erreger – wirkt die Antibiotikaminimierung? Bernd-Alois Tenhagen Bundesinstitut für Risikobewertung, Abteilung Biologische Sicherheit, Berlin In diesem Jahr (2024) jährt sich die 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes mit der Einführung des Antibiotikaminimierungskonzeptes zum zehnten Mal. Damit ist es an der Zeit, zurückzuschauen und zu betrachten, ob das Ziel der Novelle, nämlich die Reduktion des Einsatzes antimikrobieller Substanzen in der Tierhaltung und die Verminderung der Resistenzentwicklung erreicht wurden. Im Hinblick auf die Antibiotikaabgabemengen, also die Mengen, die an Tierärztinnen und Tierärzte verkauft wurden, ist der Erfolg seit Jahren gut belegt. Von den 1706 Tonnen, die im Jahr 2011, dem ersten Jahr der Erfassung, gemeldet wurden, haben sich die Mengen auf 600 Tonnen reduziert, wie das zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) im August 2023 vermeldet. Bis auf das Jahr 2020, als es zu einem kurzfristigen leichten Anstieg kam, wurden in jedem Jahr geringe Abgabemengen gemeldet als im jeweiligen Jahr zuvor (Sander et al., 2022). Die Reduktion begann bereits 2012, erhielt aber durch die 16. AMG- Novelle einen erheblichen Schub. Mittlerweile sind die Rückgänge nicht mehr so stark, die absoluten Mengen sinken aber weiterhin. Auch ist der Rückgang in den letzten Jahren stärker als der Rückgang der Tierhaltung. Eine differenziertere Betrachtung der Tierarten und Nutzungsgruppen ist erst seit der 16. AMG-Novelle möglich. Hier wiesen alle sechs eingeschlossenen Tierpopulationen im ersten Jahr einen Rückgang der Therapiehäufigkeit auf (Mastferkel nach dem Absetzen <30kg Körpergewicht, Mastschweine>30 kg Kgw, Kälber zur Mast bis 8 Monate, Mastrinder >8 Monate, sowie Masthähnchen und Mastputen jeweils zwischen Schlupf und Schlachtung). Schon ab dem 2. Jahr differenzierte sich das Bild aber (Flor et al., 2019a). Während sich der Rückgang bei den Schweinen beider Altersgruppen fortsetzte, flachte die Kurve bei den Rindern auf niedrigem Niveau ab. Beim Geflügel, insbesondere bei den Masthähnchen stiegen die Therapiehäufigkeiten aber wieder an. Bei den Masthähnchen erreichte der Median der Therapiehäufigkeiten 2021 die Ausgangswerte (Flor et al., 2022). Wie sieht es nun mit den multiresistenten Erregern aus? Die meisten Daten liegen hier für Escherichia coli vor. E. coli wird aber nicht als Zoonoseerreger untersucht, sondern als sogenannter Indikatorkeim, der die Gramnegative Darmflora der Tiere repräsentieren soll (EFSA, 2012). Neben E. coli werden auch die Zoonoseerreger Campylobacter und Salmonella untersucht, aber auch Methicillin-resistente S. aureus. Die Herausforderung der Bewertung der Entwicklungen in diesem Bereich liegt darin, dass nur in einigen Bereichen systematisch und wiederkehrend dieselbe Matrix untersucht wird, so dass nicht in allen Fällen systematische Daten vorliegen. Eine Ausnahme bilden die von der Europäischen Union vorgegebenen Programme, die in den Durchführungsbeschlüssen 2013/652/EU und (EU) 2020/1729 festgelegt sind. Hier wird – und das europaweit - seit nunmehr auch fast 10 Jahren ein mehr oder weniger einheitliches Untersuchungsprogramm umgesetzt, was einen hohen Grad an Vergleichbarkeit sicherstellt. Das einzige Problem dieser Daten ist, dass sie fast alle erst nach dem Inkrafttreten der 16. AMG Novelle erhoben wurden und von daher keinen unmittelbaren Vergleich mit der Zeit vorher erlauben. Die erste systematisch Untersuchung des Effekts der AMG-Novelle auf die Resistenz von Mikroorganismen gegen antimikrobielle Substanzen wurde 2019 im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Evaluierung der Novelle veröffentlicht (Flor et al., 2019b). In den auf der Website des BMEL verfügbaren Berichten wurden unterschiedliche Aspekte beleuchtet, insbesondere aber auch der Effekt der Novelle auf die Antibiotikaresistenz in den Anlagen 3 und 4 des vom BMEL veröffentlichten Berichts. Zusammenfassend kommen diese Berichte zu dem Schluss, dass die Resistenzsituation insbesondere bei den kommensalen E. coli sich in vielen Bereichen deutlich verbessert hat, insbesondere, was die Resistenzen gegenüber den Substanzen angeht, die in der Tierhaltung besonders häufig eingesetzt wurden, also Penicilline, Tetrazykline und Sulfonamide. Dabei ist zu bedenken, dass gegenüber einigen antimikrobiellen Substanzen schon vor 2014 nur geringe Resistenzraten beobachtet wurden, so dass eine Reduktion der Resistenzraten hier nicht zu erwarten war. Dies gilt z. B. für die für Nutztiere nicht zugelassenen Carbapeneme, deren Einsatz bei Tieren seit 2022 durch EU- Recht verboten ist, aber auch für die Cephalosporine der dritten Generation. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 43

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Die nächste umfangreiche Bewertung erfolgte im Jahr 2022 als das BfR den Auftrag hatte, die Entwicklung des Antibiotikaeinsatzes bei den im Antibiotikaminimierungskonzept erfassten Nutzungsgruppen zwischen 2018 und 2021 zu bewerten. Hier stellte sich nun das Problem, dass der Startpunkt der Betrachtung nicht mehr die Resistenzsituation vor 2014 war, sondern die Resistenzsituation nach 2014. Der Effekt der drastischen Reduktion der Abgabemengen zwischen 2014 und 2015 war hier schon eingetreten, entsprechend konnten nur noch die möglichen Effekte der weiteren, langsameren Reduktion beobachtet werden. Es zeigte sich, dass die Resistenzen nicht mehr deutlich gesunken sind. Eine Ausnahme bildeten hier die E. coli Isolate von Mastputen bei der Schlachtung, bei denen tatsächlich gegenüber 7 Substanzen ein Rückgang der Resistenzraten eintrat. Die jüngste Bewertung erfolgte dann im Jahr 2023 über die Daten aus dem Jahr 2022. Hier wurden die Analysen aus den Vorjahren fortgeführt. Allerdings waren die Veränderungen der Resistenzraten minimal (Flor et al., 2023). Abbildung 1: Anzahl der Substanzklassen, gegen die E. coli aus Blinddarmproben bei der Schlachtung resistent waren (2014-2022) Mastschweine Mastkälber/Jungrinder Masthähnchen Mastputen Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl der Substanzklassen, gegen die die E. coli Isolate aus Blinddarmproben resistent waren, zwischen 2014 und 2022. 44 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Bei der Betrachtung der Multiresistenz (>3 Substanzklassen) und des Anteils vollständig sensibler Isolate zeigt sich, dass auch hier nur für Mastputen seit 2014 eine signifikant positive Entwicklung zu verzeichnen war, d.h. der Anteil sensibler Isolate stieg und der multiresistenter Isolate sank. Dabei ist zu bedenken, dass 2014 E. coli von Mastputen die höchsten Resistenzraten aufwiesen. Der Anteil sensibler Isolate stieg bei Schweinen zwar geringfügig an. Die Veränderungen waren aber insgesamt nicht signifikant (OR für den Anteil resistenter Isolate im Lauf der Jahre 0,94 (p=0,51)). Der Anteil multiresistenter Isolate verringerte sich nicht. Bei Masthähnchen und Mastkälbern/ Jungrindern zeigten sich keine signifikanten Veränderungen hinsichtlich dieser Parameter. Fazit Während es in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten der 16. AMG-Novelle z.T. deutliche Rückgänge der Antibiotikaresistenz gab, waren die geringeren Veränderungen der letzten Jahre nur bei der Pute mit signifikanten Verbesserungen der Resistenzsituation verbunden. Dies gilt sowohl für die Betrachtung einzelner Substanzklassen als auch für die Betrachtung des Anteils sensibler Isolate und multiresistenter Isolate. Literatur 1. EFSA, 2012. Technical specifications on the harmonised monitoring and reporting of antimicrobial resistance in Salmonella, 2. 3. 4. 5. Campylobacter and indicator Escherichia coli and Enterococcus spp. bacteria transmitted through food. EFSA J 10, 2742. Flor, M., Käsbohrer, A., Kaspar, H., Tenhagen, B.-A., Wallmann, J. 2019a. Beiträge der Arbeitsgruppe Antibiotikaresistenz zur Evaluierung der 16. AMG-Novelle - Themenkomplex 1: Entwicklung der Antibiotikaabgabe- und -verbrauchsmengen sowie der Therapiehäufigkeit, Landwirtschaft, B.f.E.u., ed. (Berlin). Flor, M., Käsbohrer, A., Kaspar, H., Tenhagen, B.-A., Wallmann, J. 2019b. Beiträgeder Arbeitsgruppe Antibiotikaresistenz zur Evaluierung der 16. AMG-Novelle - Themenkomplex 2: Entwicklung der Antibiotikaresistenz bei Tieren - Teil 1: Kommensale E. coli und Campylobacter spp., Landwirtschaft, B.f.E.u., ed. (Berlin). Flor, M., Käsbohrer, A., Tenhagen, B.-A. 2022. Therapiehäufigkeit und Antibiotikaverbrauchsmengen 2018–2021: Entwicklung in zur Fleischerzeugung gehaltenen Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten, Bundesinstitut für Risikobewertung, ed. (Berlin), 45. Flor, M., Käsbohrer, A., Tenhagen, B.-A. 2023. Therapiehäufigkeit und Antibiotikaverbrauchsmengen 2022 - Entwicklung in zur Fleischerzeugung gehaltenen Rindern, Schweinen, Hühnern und Puten, Bundesinstitut für Risikobewertung, ed. (Berlin, Bundesinstitut für Risikobewertung), 59. 6. Sander, S., Klabunde-Negatsch, A., Hofmann, K., Daher, R., Heberer, T., 2022. Abgabemengenerfassung von Antibiotika in Deutschland 2021. Auswertung der an das BVL übermittelten Daten 2021 und Vergleich mit den Daten aus den Vorjahren. Deutsches Tierärzteblatt 70, 1316-1324. Kontakt PD Dr. Bernd-Alois Tenhagen; Bundesinstitut für Risikobewertung, Abteilung Biologische Sicherheit, Berlin Bernd-Alois.Tenhagen@bfr.bund.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 45

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Stetig wachsende Anforderungen an die tierarzneimittelrechtliche Überwachung Jürgen Sommerhäuser Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz Brandenburg Eine ernsthafte Betrachtung mit den Anforderungen an die tierarzneimittelrechtliche Überwachung führt unmittelbar zum Rechtsstaatsprinzip. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes bindet die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht (1). Die behördliche Arbeitsweise wird in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder geregelt. Wachsende Anforderungen durch Änderungen am Rechtsstaatsprinzip sind nicht zu erwarten. Eine einschneidende Änderung erfolgte mit der Ablösung des nationalen Arzneimittelrechts durch ein europäisches Tierarzneimittelrecht in Form der Verordnung (EU) 2019/6 und des Tierarzneimittelgesetzes (TAMG) (2,3). Die grundlegenden Instrumente der Sicherheit von Tierarzneimitteln sind dabei erhalten geblieben. Zulassungspflicht, Herstellungserlaubnis, Verschreibungspflicht etc. werden in ihren Grundzügen fortgeführt. Dies entbindet nicht von der Pflicht, sich mit den Details der Vorschriften zu befassen und alles Neue und Geänderte gegenüber dem bisherigen Arzneimittelrecht bei den Kontrollen zu berücksichtigen. Die Anforderung an die Beschäftigten in den Behörden besteht darin, das alte Rechtsverständnis aufzugeben und sich auf das neue Recht einzulassen. Das Tierarzneimittelrecht besteht nicht nur in der Verordnung (EU) 2019/6, sondern auch in rund einem Dutzend delegierter und Durchführungsverordnungen. Um die Verbrauchsmengenerfassung bei antimikrobiellen Tierarzneimitteln zu regeln, legt die Verordnung (EU) 2019/6 fest, dass es eine Erfassung geben soll, und regelt die Details in zwei weiteren Verordnungen (2, 4, 5). Das TAMG verweist für die Umsetzung in Deutschland auf die Unionsrechtsakte (3). Die Behörden müssen alle genannten Vorschriften in allen Details beachten, um die Verbrauchsmengenerfassung überwachen zu können. Eine kaum zu erfüllende Anforderung bei der Erfassung der Verbrauchsmengen findet sich in Art. 6 Abs. 1 Verordnung (EU) 2021/578. Die Behörden werden verpflichtet, für vollständige und korrekte Daten zu sorgen (4). Die erfassten Daten geben der Behörde keinen Hinweis, dass sie fehlerhaft sein könnten. Werden Antibiotikaanwendungen nicht in die die Datenbank eingetragen, lässt sich das in der Datenbank nicht feststellen. Eine wirksame Überwachung der Verbrauchsmengenerfassung ist nur durch Vor-Ort-Kontrollen und durch die zeitaufwändige Sichtung aller Aufzeichnungen über die Antibiotikaanwendungen möglich. In der kurzen Zeitspanne zwischen dem Ende des Erfassungszeitraums und der Weiterleitung der Daten kann eine Behörde stichprobenhaft die erfassten Daten überprüfen. Eine Vollkontrolle aller Daten und Anwendungen, um der Anforderung der Vollständigkeit und Richtigkeit gerecht zu werden, ist unmöglich. Die Verbrauchsmengenerfassung wurde laut Erwägungsgrund 50 der Verordnung (EU) 2019/6 eingeführt, weil in der EU immer noch Daten fehlen, um Risikofaktoren auszumachen, die als Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen zur Begrenzung von antimikrobiellen Resistenzen und zur Beobachtung der Wirkung der bereits eingeführten Maßnahmen dienen könnten (2). Das fehlende Wissen hat den europäischen Gesetzgeber nicht davon abgehalten, Vorgaben zum Umgang mit Antibiotika zu erlassen. Dazu gehören eine Verschreibungspflicht, eine Pflicht zur klinischen Untersuchung zwecks Rechtfertigung einer Anwendung, ein Anwendungsverbot für bestimmte Wirkstoffe mit Humanvorbehalt sowie Umwidmungsverbote und – beschränkungen. Dem Auftrag der Europäischen Kommission, den Antibiotikaeinsatz um 50 % gegenüber dem Verbrauch in 2018 zu reduzieren, hat der deutsche Gesetzgeber durch die Aufnahme in § 1 Abs. 2 TAMG Gesetzeskraft verliehen (3). Der Wissensstand während des Gesetzgebungsverfahrens war offensichtlich ausreichend, um Beschränkungen und Verbote, d. h. größtmögliche Eingriffe in Freiheiten zu erlassen. Den Zweck der Verbrauchsmengenerfassung, zunächst Wissenslücken zu schließen und dann Vorschriften zu erlassen, hat der Gesetzgeber damit selbst in Frage gestellt. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 47

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Zu den Einzelheiten einer Anwendung liefert die Verbrauchsmengenerfassung keine Erkenntnisse. Die Einhaltung der Verschreibungspflicht, damit verbundene Untersuchungs- und Rechtfertigungspflichten oder die rechtskonforme Umwidmung von Antibiotika können folglich nicht überprüft werden. Der europäische Gesetzgeber hat mit dem Erlass der Verordnung (EU) 2019/6 seinem eigenen Erwägungsgrund widersprochen und lässt die Überwachungsbehörden alleine mit einer Verbrauchsmengenerfassung, deren Erkenntnisgewinn offen ist. Die Länderbehörden haben zur Evaluierung der 16. AMG-Novelle darauf hingewiesen, dass die Verbesserung der Tiergesundheit nicht allein mit dem Tierarzneimittelrecht erreicht werden kann. Andere Rechtsbereiche, insbesondere Tierschutz und Tiergesundheit, können mit ihren typischen Regelungsinhalten viel stärker auf Tiere und ihre Lebensumstände einwirken (6). Darauf ist der Gesetzgeber bislang nicht eingegangen. Er überlässt es weiterhin der Behörde, die Lebensumstände in einem Betrieb so auszugestalten, dass Tiere seltener erkranken. Dazu ermächtigt der Gesetzgeber in § 58 Abs. 3 TAMG die Behörde Maßnahmen anzuordnen (3). Der Betrieb wird mittels dieser Maßnahmen durch die Behörde zur Antibiotikareduktion gezwungen, und die Behörde wird gezwungen diesen Zwang auszuüben. Infolge der Formulierung „Die Behörde trifft die notwendigen Anordnungen…“ muss die Behörde handeln; ihr Entschließungsermessen ist auf Null reduziert (7). Behörden treffen Anordnungen, wenn ein Verstoß vorliegt, um einen ordnungsgemäßen Betrieb wiederherzustellen. Das Erfordernis, die Behandlung mit Antibiotika zu verringern, stellt jedoch keinen Verstoß dar. Die Behörde muss handeln, weiß aber nicht, unter welchen Umständen ihr Einschreiten zur wirksamen Verringerung der Behandlung mit Antibiotika erforderlich ist, wann sie also handeln darf. Hinsichtlich der geeigneten Maßnahmen hat die Behörde das volle Auswahlermessen (7). Sie soll die geeignete Maßnahme finden, die der Tierhalter, der seinen Betrieb bestens kennt, mit Unterstützung seiner Tierarztpraxis, die viel erfahrener in der Therapie und Prävention von Infektionskrankheiten als eine Behörde sein dürfte, nicht gefunden hat. Es ist anzunehmen, dass die Behörden bei dieser Anforderung rasch an ihre fachlichen Grenzen kommen und aus diesem Grund die Anordnungsbefugnis in den letzten Jahren kaum genutzt haben. Die Tierarztpraxen beklagen einen zunehmenden Mangel an Arbeitskraft, besonders in der Nutztierpraxis, mit dem die anfallende Arbeit nicht erledigt werden kann. Manche Praxen bekennen offen, dass sie die geforderte Untersuchung vor der Verschreibung eines Tierarzneimittels nicht immer durchführen. Die Behörden sehen das Bemühen der Praxen um gute tierärztliche Arbeit mit zu wenig Personal, aber auch die Verstöße gegen die Vorschriften zur Verschreibungspflicht. Die Praxis gerät in den Konflikt, entweder die Vorschriften einzuhalten mit der Folge, dass aufgrund des zeitlichen Aufwandes nicht alle Tiere behandelt werden können, oder die Praxis kümmert sich um alle Fälle und ignoriert dabei z. T. die Untersuchungspflicht, um zeitlich zurechtzukommen. Das Tierarzneimittelrecht kollidiert in dieser Situation mit dem Tierschutz. Diesen Konflikt kann keine Behörde auflösen, da sie den rechtlichen Vorgaben des Tierschutzes wie denen zu Tierarzneimitteln gleichermaßen verpflichtet ist. Die Überwachungsbehörden können die Vorschriften nicht ändern, aber den Zweck des Tierarzneimittelrechts beim Vollzug in den Vordergrund rücken. Die Tierarzneimittelsicherheit muss im Mittelpunkt stehen, d. h. der Nutzen einer Anwendung muss größer als ihr potentieller Schaden sein. Die Verordnung (EU) 2019/6 nennt als Zweck auch den Schutz von Tieren (2). Man kann darin die Absicht des Gesetzgebers erkennen, dass kein Tier aufgrund der Vorschriften unbehandelt bleiben soll. Die Behörde darf diesen Zweck bei ihren risikoorientierten Kontrollen berücksichtigen und dem Risiko, das sich aus der tierärztlichen Tätigkeit ergibt, gegenüberstellen. Literatur 1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2478) geändert worden ist 2. Verordnung (EU) 2019/6 der Europäischen Parlamentes und des Rates vom 11. Dezember 2018 über Tierarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/82/EG (ABl. L 4 vom 7.1.2019, S. 43) 48 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ 3. Tierarzneimittelgesetz vom 27. September 2021 (BGBl. I S. 4530), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2852) geändert worden ist 4. Delegierte Verordnung (EU) 2021/578 der Kommission vom 29. Januar 2021 zur Ergänzung der Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf Anforderungen an die Erhebung von Daten über das Verkaufsvolumen und die Anwendung von antimikrobiellen Arzneimitteln bei Tieren (Abl. L 123 vom 9.4.2021, S. 7) 5. Durchführungsverordnung (EU) 2022/209 der Kommission vom 16. Februar 2022 zur Festlegung des Formats der zu erhebenden und zu meldenden Daten für die Bestimmung des Verkaufsvolumens und der Anwendung von antimikrobiellen Arzneimitteln bei Tieren gemäß der Verordnung (EU) 2019/6 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 35 vom 17.2.2022, S. 7) 6. Arbeitsgruppe Tierarzneimittel (AG TAM) der Länderarbeitsgemeinschaft Verbraucherschutz (LAV). Evaluierung der 16. Arzneimittelgesetz (AMG) – Novelle, Beitrag der Länder 7. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Tierarzneimittelgesetzes zur Erhebung von Daten über antibiotisch wirksame Arzneimittel und zur Änderung weiterer Vorschriften. Bundesrat Drucksache 361/22 vom 05.08.22 Kontakt Dr. Jürgen Sommerhäuser; Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz Brandenburg, Potsdam juergen.sommerhaeuser@msgiv.brandenburg.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 49

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Neue Therapieoptionen bei Osteoarthritis Heidrun Potschka Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Ludwig-Maximilians-Universität München In diesem Beitrag werden die neuen Therapieoptionen für das therapeutische Management der Osteoarthritis vorgestellt. Der „Standard-of-Care“ für das therapeutische Management basiert auf der Anwendung von Nicht- steroidalen Antiphlogistika, die idealerweise transient in Phasen mit akuter Verschlechterung Anwendung finden sollen. Zudem finden seit vielen Jahren Glucocorticoide und Chondroprotektiva für die Therapie von Osteoarthritiden Anwendung. Nicht-steroidale Antiphlogistika limitieren durch Inhibition von Cyclooxygenasen (COX) die Synthese verschiedener Prostanoide inklusive Prostaglandin E2. Prostaglandin E2 ist von zentraler pathophysiologischer Bedeutung für Entzündungsprozesse und damit assoziierte Schmerzen. Von den traditionellen oder klassischen NSAIDs ist die Gruppe der selektiven Cyclooxygenase-2(COX-2)- Inhibitoren (Coxibe) abzugrenzen, die in den vergangenen Jahren um verschiedene Wirkstoffe erweitert wurde. Das ursprüngliche Entwicklungskonzept basierte auf der Annahme einer eher pathophysiologischen Rolle der Cyclooxygenase-2 und einer eher physiologischen Bedeutung der Cyclooxygenase-1. Während Forschungsergebnisse und Daten zur klinischen Verträglichkeit von Coxiben gezeigt haben, dass diese strikte Zuordnung nicht zutrifft, so können Coxibe bei Veterinärpatienten doch Vorteile im Hinblick auf die Verträglichkeit aufweisen. Im Jahr 2019 wurde der Wirkstoff Grapiprant als erster Vertreter einer neuen Wirkstoffklasse (sogen. Piprante) zugelassen. Das Arzneimittelentwicklungskonzept für diese Wirkstoffklasse basiert auf der Annahme, dass ein Targeting eines spezifischen Prostaglandin-Rezeptors in Bezug auf die Verträglichkeit Vorteile gegenüber einer Hemmung der Prostaglandin E2-Synthese mit sich bringen kann. Piprante, wie Grapiprant wirken als Antagonisten an EP4-Rezeptoren, die Effekte von Prostaglandin E2 vermitteln, welche für inflammatorische Prozesse von Relevanz sind. Grapiprant wurde zugelassen für das Management leichter bis mittelgradiger Osteoarthritiden bei Hunden. Die Applikation erfolgt oral mit Abstand vor der nächsten Fütterung. Laut Produktinformation ist mit einer Besserung klinischer Symptome zwischen Tag 7 und 14 zu rechnen. Zu den Nebenwirkungen zählen Symptome einer gastrointestinalen Reizung inkl. Erbrechen, Diarrhoe und Inappetenz. Eine intermittierende Applikation kann in Erwägung gezogen werden. Die klinischen Studiendaten belegen eine relevante Wirksamkeit bei caniner Osteoarthritis (Rausch-Derra et al., 2016). In einem induzierten akuten caninen Arthritismodell wurde zudem ein Head-to-Head-Vergleich zwischen Grapiprant und Firocoxib durchgeführt (de Salazar et al., 2019). Die Studiendaten werden im Vortrag diskutiert. Seit vielen Jahren gab es Bemühungen alternative therapeutische Ansätze zu entwickeln, die anders als klassische NSAIDs, Coxibe und Piprante nicht auf ein Targeting der Arachidonsäurekaskade abzielen. In diesem Kontext ist die Bedeutung des Nerve Growth Factors (NGF) von besonderem Interesse. NGF wirkt über TrKA-Rezeptoren, die unter anderem auf Mastzellen und an den Nozizeptoren primärer sensorischer afferenter Bahnen zu finden sind und in diesen Lokalisationen eine Freisetzung inflammatorischer Mediatoren und eine Aktivierung des nozizeptiven Systems vermitteln. Zur Hemmung der von NGF vermittelten pathophysiologischen Effekte wurden spezies-spezifische Anti-NGF-Antikörper entwickelt. Mit Bedinvetmab und Frunevetmab wurden Präparate für Hunde und Katzen zugelassen. Die Zulassung der Präparate erfolgte zur Linderung Osteoarthrose-bedingter Schmerzen. Experimentelle und klinische Studien haben Hinweise für analgetische Effekte bei chronisch degenerativen Gelenkserkrankungen erbracht (Gruen et al., 2016; Gearing et al., 2016; Lascelles et al., 2015). Die Applikation erfolgt einmal monatlich durch subkutane Injektion. Zu den Nebenwirkungen gehören lokale Reaktionen an den Injektionsstellen und sehr selten anaphylaktoide Reaktionen. Zu beachten ist, dass in der Humanmedizin bei Subgruppen von Patienten eine rasch-progediente Arthrose bei Kombination mit NSAIDs beschrieben wurde. 50 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Auf Grund mangelnder Studiendaten sollen weder Grapiprant noch die Anti-NGF-Antikörper bei trächtigen oder laktierenden Tieren Anwendung finden. Die Anwendung von mesenchymalen Stammzellen für die Therapie von Osteoarthritiden wird seit einigen Jahren diskutiert. In Frage kommen autologe Stammzellen, die zum Beispiel aus dem Fettgewebe des Patienten gewonnen werden. Eine Vermeidung einer patienten-individuellen Entnahme von Stammzellen wird möglich durch die Verwendung von xenogenen Stammzellen von einer anderen Tierart. In einer vor kurzem veröffentlichten doppelt verblindeten, placebo-kontrollierten klinischen Studie wurde die Wirksamkeit einer intraartikulären Applikation von mesenchymalen Stammzellen des Pferdes bei Hunden mit Osteoarthritis geprüft (Punzon et al., 2022). Die Studie erbrachte Hinweise für einen verzögerten Wirkungseintritt nach mehreren Wochen. Nach Wirkungseintritt scheint die Stammzelltherapie bei der Mehrzahl der Patienten mit einer positiven Beeinflussung der Lebensqualität verbunden zu sein. Zudem zeigte sich in den orthopädischen Untersuchungen bei der Mehrzahl der Patienten eine klinische Verbesserung. Die Verträglichkeit erwies sich als gut. Bei einer kleinen Gruppe von Patienten wurden transient akute lokale Reaktionen mit erhöhter Schmerzhaftigkeit und verstärkter Lahmheit beobachtet. Zu erwähnen bleibt, dass auch die Wirksamkeit von Cannabidiol in verschiedenen klinischen Studien analysiert wurde (Gamble et al., 2018; Brioschi et al., 2020; Verrico et al., 2020; Meija et al., 2021). Der aktuelle Kenntnisstand zu CBD und weiteren therapeutischen Ansätzen mit noch limitierter Evidenz wird im Vortrag dargestellt. Literatur 1. Punzón E, Salgüero R, Totusaus X, Mesa-Sánchez C, Badiella L, García-Castillo M, Pradera A. Equine umbilical cord mesenchymal stem cells demonstrate safety and efficacy in the treatment of canine osteoarthritis: a randomized placebo- controlled trial. J Am Vet Med Assoc. 2022: 260(15):1947-1955. 2. Gruen ME, Thomson AE, Griffith EH, Paradise H, Gearing DP, Lascelles BD. A Feline-Specific Anti-Nerve Growth Factor Antibody Improves Mobility in Cats with Degenerative Joint Disease-Associated Pain: A Pilot Proof of Concept Study. J Vet Intern Med. 2016; 30(4):1138-48. 3. Gearing DP, Huebner M, Virtue ER, Knight K, Hansen P, Lascelles BD, Gearing RP, Drew AC. In Vitro and In Vivo Characterization of a Fully Felinized Therapeutic Anti-Nerve Growth Factor Monoclonal Antibody for the Treatment of Pain in Cats. J Vet Intern Med. 2016; 30(4):1129-37. Lascelles BD, Knazovicky D, Case B, Freire M, Innes JF, Drew AC, Gearing DP. A canine-specific anti-nerve growth factor antibody alleviates pain and improves mobility and function in dogs with degenerative joint disease-associated pain. BMC Vet Res. 2015; 11:101. de Salazar Alcalá AG, Gioda L, Dehman A, Beugnet F. Assessment of the efficacy of firocoxib (Previcox®) and grapiprant (Galliprant®) in an induced model of acute arthritis in dogs. BMC Vet Res. 2019; 15(1):309. 4. 5. 6. Rausch-Derra L, Huebner M, Wofford J, Rhodes L. A Prospective, Randomized, Masked, Placebo-Controlled Multisite Clinical Study of Grapiprant, an EP4 Prostaglandin Receptor Antagonist (PRA), in Dogs with Osteoarthritis. J Vet Intern Med. 2016; 30(3):756-63. 7. Gamble LJ, Boesch JM, Frye CW, Schwark WS, Mann S, Wolfe L, Brown H, Berthelsen ES, Wakshlag JJ. Pharmacokinetics, Safety, and Clinical Efficacy of Cannabidiol Treatment in Osteoarthritic Dogs. Front Vet Sci. 2018;5:165. 8. Brioschi FA, Di Cesare F, Gioeni D, Rabbogliatti V, Ferrari F, D'Urso ES, Amari M, Ravasio G. Oral Transmucosal Cannabidiol Oil Formulation as Part of a Multimodal Analgesic Regimen: Effects on Pain Relief and Quality of Life Improvement in Dogs Affected by Spontaneous Osteoarthritis. Animals (Basel). 2020;10(9):1505. 9. Verrico CD, Wesson S, Konduri V, Hofferek CJ, Vazquez-Perez J, Blair E, Dunner K Jr, Salimpour P, Decker WK, Halpert MM. A randomized, double-blind, placebo-controlled study of daily cannabidiol for the treatment of canine osteoarthritis pain. Pain. 2020;161(9):2191-2202. 10. Mejia S, Duerr FM, Griffenhagen G, McGrath S. Evaluation of the Effect of Cannabidiol on Naturally Occurring Osteoarthritis-Associated Pain: A Pilot Study in Dogs. J Am Anim Hosp Assoc. 2021;57(2):81-90. Kontakt Prof. Dr. Heidrun Potschka, Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Königinstr. 16, Ludwig- Maximilians-Universität München 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 51

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Der alte Hund als Modell für kognitive Störungen: translationale Arzneimittelentwicklungen Holger A. Volk Klinik für Kleintiere, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Unsere Haustiere leben zunehmend länger, dank besserer medizinischer Versorgung, Vorsorge und Ernährung. Doch mit dem Alter treten auch typische Alterserkrankungen des Nervensystems vermehrt auf. Hunde und Katzen zeigen häufig im Alter Anzeichen von Demenz, bekannt als felines oder canines kognitives Dysfunktionssyndrom. Etwa jeder dritte Hund ab 12 Jahren und mehr als die Hälfte der Hunde ab 15 Jahren sind betroffen. Bei älteren Katzen zwischen 16 und 19 Jahren berichteten neun von zehn Haltern von Verhaltensänderungen wie dem Verlust der Stubenreinheit und verminderter Aktivität. Der Hund ist ein anerkanntes Model für Gehirnalterung. Das kognitive Dysfunktionssyndrom ist keine normale Alterserscheinung, sondern eine ernsthafte Erkrankung, die fortschreitet und die Lebensqualität des betroffenen Tieres und seiner Halter stark beeinträchtigen kann. Die rechtzeitige Erkennung ist entscheidend, um das canines und felines kognitive Dysfunktionssyndrom effektiv zu behandeln. Leider bleiben viele Tierbesitzer und sogar Tierärzte die Frühwarnzeichen oft unerkannt. Bei Tieren mit kognitiver Dysfunktion kann durch Veränderungen des Gehirnstoffwechsels, Veränderungen der Botenstoffe im Gehirn, Gefäßveränderungen, Entzündungen und Ablagerungen bestimmter Eiweiße ausgelöst werden. Die betroffenen Tiere zeigen Verwirrung, Verhaltensänderungen wie verringerte Interaktion mit den Haltern, gestörten Schlaf, Angststörungen und ein Vergessen bekannter Kommandos. Begleiterkrankungen wie Gelenks- und Zahnerkrankungen beeinträchtigen zusätzlich das Wohlbefinden der Patienten und können neurologische Symptome verstärken. Neben höherem Alter gibt es weitere Risikofaktoren wie die idiopathische Epilepsie, die die Entwicklung von Demenz begünstigt. Eine frühe Prophylaxe kann für viele Patienten sinnvoll sein. Die Lebensqualität der Patienten und das Fortschreiten der Krankheit können durch verschiedene prophylaktische und therapeutische Maßnahmen verbessert werden. Wesentliche Elemente sind die Behandlung von Begleiterkrankungen, Ernährungsanpassungen, verschiedene Ergänzungen (siehe Tabelle) zur Unterstützung des Gehirnstoffwechsels, geistige Förderung und gegebenenfalls Medikamente. Angepasste Fütterungsansätze und Kombinationspräparate haben in experimentellen Gruppen alter und dementer Hunde zu einer deutlichen Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit geführt. Diese "Nutraceuticals" oder Nahrungsergänzungsmittel können die verschiedenen Prozesse des Gehirnalters beeinflussen. Mittelkettige Fettsäuren (MKT), die von uns intensiv erforscht wurden, dienen als alternative und effektive Energiequelle und verbessern die mitochondriale Funktion, also die Funktion der "Energie-Kraftwerke" der Nervenzellen. Sie haben auch antikonvulsive und entzündungshemmende Effekte sowie Auswirkungen auf die Darmflora (Mikrobiom). Omega-3-Fettsäuren, B-Vitamine, Antioxidantien und mitochondriale Cofaktoren haben ebenfalls einen positiven Effekt bei Patienten mit kognitiver Dysfunktion. Die optimale Kombination verschiedener Ansätze für den vierbeinigen Patienten sollte immer individuell abgewogen und im Verlauf an veränderte Bedürfnisse angepasst werden. Leider ist eine vollständige Heilung derzeit noch nicht möglich. Es können verschiedene Medikamente zur pharmakologischen Behandlung von Demenz bei Hunden in Betracht gezogen werden. Derzeit ist Selegelin das einzige Medikament, das speziell für Hunde in diesem Zusammenhang zugelassen ist. Es hemmt die Monoaminooxidase B, reduziert den Dopaminabbau im Gehirn und verringert zusätzlich freie Radikale. Der Wirkungseintritt dauert jedoch mehrere Wochen, und es besteht das Risiko von Medikamenteninteraktionen sowie Hyperaktivität durch erhöhte Katecholaminlevel. Propentofyllin könnte den zerebralen Blutfluss und somit die kognitive Funktion verbessern, allerdings fehlen kontrollierte Studien. Die Beeinflussung des cholinergen Systems, beispielsweise mit Phenserin, zeigte eine positive Wirkung auf die kognitive Leistungsfähigkeit beim Hund. Derzeit sind jedoch keine Medikamente dieser Gruppe für den Hund zugelassen. Je nach individuellem Krankheitsbild können auch Antidepressiva (z.B. Fluoxetin), Mittel zur Anxiolyse (wie Clonazepam, Trazedon) oder zur leichten Sedation vor dem Schlafengehen 52 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ ist die Behandlung von Begleiterkrankungen wie (Gabapentin) eingesetzt werden. Zusätzlich Zahnerkrankungen oder Osteoarthrose wichtig, da sie Unruhe, Schlafstörungen, Schmerzen und verminderte Aktivität verursachen können. Mittelkettige Fettsäuren (MCT) Alternative Energiequelle, verbesserte Positive Auswirkung Supplemente/Nutraceuticals Alterungsprozess im Gehirn Substanz Verminderter Glukosemetabolismus Reduktion des DHA-Gehalts Omega-3-Fettsäuren (DHA) Verminderung B-Vitamine, Anstieg Homocystein B-Vitamine Mitochondriale Dysfunktion Mitochondriale Dysfunktion Oxidativer Stress Neurotransmitter- Verschiebungen Calcium-Dysregulation L-Carnitin alpha-Liponsäure Vitamin E, Vitamin C, Selen S-adenosylmethionin Apoaequorin mitochondriale Funktion, Entzündungshemmung, antikonvulsiver Effekt, Beeinflussung Mikrobiom Anti-inflammatorisch Neuroprotektiv Senkung Homocystein-Level Antioxidativer Effekt Mitochondrialer Cofaktor, ß-Oxidation Mitochondrialer Cofaktor Reduktion freier Radikale Zellmembranstabilisierung, Neurotransmitter- Turnover Verminderter neuronaler Zelltot Ein vielversprechender Ansatz ist der Einsatz des Antiepileptikums Levetiracetam bei Menschen, da es neuroprotektiv wirkt und die Kognition bei Patienten mit Alzheimer und epileptischen Anfällen verbessern kann. Für Hunde liegen derzeit keine entsprechenden Daten vor. Immuntherapien gegen Amyloid-ß-Plaques sind in Bezug auf Hunde und Menschen Zukunftsmusik und mit sehr widersprüchlichen Daten sowie potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen verbunden. Kontakt Prof. Dr. Holger A. Volk; Klinik für Kleintiere, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Holger.Volk@tiho-hannover.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 53

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Krebstherapeutika in der Kleintiermedizin – eine Kurzübersicht Enni Markkanen1 und Csilla Fejös2 1Institut für Veterinärpharmakologie und –toxikologie, Vetsuisse-Fakultät, Universität Zürich (Schweiz); 2Klinik für Radioonkologie, Vetsuisse-Fakultät, Universität Zürich (Schweiz) Einführung Krebs stellt eine der häufigsten Todesursachen sowohl bei Menschen als auch Kleintier dar. Eine retrospektive Betrachtung in 51‘322 Schweizer Katzen identifizierte in 34.8 % der Patienten Tumoren (1). Eine ähnliche Studie über 121‘963 Hunde diagnostizierte Tumoren in 51.8 % aller Fälle (2). Die Diagnose ‚Krebserkrankung‘ ist also aus der heutigen Kleintierpraxis nicht mehr wegzudenken. Körperzellen unterliegen strikten gewebsarchitektonischen Vorgaben, welche die optimale Funktion des Gewebes garantieren. Stark vereinfacht entsteht Krebs, wenn Zellen aufhören, sich diesen Regeln unterzuordnen und beginnen sich unkontrolliert zu teilen, weil ihre genetische Information verändert wurde. Dies führt zur Entstehung sogenannter Primärtumore, welche progressiv auch in das umliegende Gewebe einwandern und sich durch Metastasierung im gesamten Organismus verteilen können. In der Humanmedizin sind Metastasen verantwortlich für etwa 90% aller krebsbezogener Todesfälle (3), und die Situation scheint für Katze und Hund sehr ähnlich. Grundprinzipien der pharmakologischen Tumortherapie Auf molekularer Ebene sind Krebszellen gekennzeichnet durch eine Reihe von Charakteristiken, welche gemeinhin als ‚Schlüsselmerkmale von Krebs‘ (Englisch: „Hallmarks of Cancer“) zusammengefasst werden (4- 6). Für das Verständnis der Wirkmechanismen der häufig in der Kleintiermedizin verwendeten Krebstherapeutika sind hier vor allem die andauernde Zellteilung und die damit zusammenhängenden aktivierten wachstumsfördernden Signalkaskaden von Bedeutung. Die Zellteilung kann durch zytostatische Chemotherapeutika gehemmt werden. Diese entfalten ihren wachstumshemmenden Effekt unselektiv auf alle sich teilenden Zellen. Die relative Selektivität für Tumorzellen ergibt sich daraus, dass diese im Vergleich zu den übrigen Körperzellen eine höhere Teilungsrate haben. Effekte auf weitere sich schnell teilende Gewebe (z.B. im Magen-Darmtrakt oder im Knochenmark), führen zu unerwünschten Wirkungen wie Knochenmarkssuppression oder gastrotintestinalen Problemen. Medikamente, welche mit Wachstums-Signalkaskaden interferieren, sind neuere Entwicklungen und werden zu den sogenannten therapies“) gezählt. Während Immuntherapien in der Humanmedizin in gewissen Tumoren teils bahnbrechende Erfolge erzielen, sind die Erfahrungen damit in der Veterinärmedizin noch rudimentär – nicht zuletzt auch aus Kostengründen. Im Folgenden werden die wichtigsten Vertreter der Chemotherapie und der zielgerichteten Therapie kurz erörtert. ‚zielgerichteten Therapien‘ („targeted Chemotherapeutika Zytostatika oder Chemotherapeutika greifen an unterschiedlichen Punkten in den Zellzyklus ein, um diesen zu stoppen und so die Teilung der Tumorzellen zu verhindern (7,8). Sie können grob in 2 Wirktypen eingeteilt werden: Zellzyklusphase-abhängige und Zellzyklusphase-unabhängige Chemotherapeutika. Viele dieser Agenzien können einzeln oder auch in Kombination eingesetzt werden. Während die Monochemotherapie zum Vorteil hat, dass der Aufwand und die Kosten geringer ausfallen, führt sie häufiger zu Therapieresistenzen. Bei der Kombinationstherapie werden Medikamente mit unterschiedlichen Wirkungsweisen (häufig sequenziell) kombiniert, um deren synergistische Effekte bei unterschiedlichen Nebenwirkungsprofilen auszunützen. Dies führt in der Regel zu einer höheren Tumorzellabtötungsrate und weniger resistenten Zellklonen. 54 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Zellzyklus-unabhängige Chemotherapeutika Diese Zytostatika wirken unabhängig davon, in welcher Zellzyklusphase die Tumorzelle sich gerade befindet. Alkylierende Agenzien Alkylierende Chemotherapeutika wirken direkt auf das Erbgut, die DNA, und führen zu einer Störung der DNA-Replikation. Dies beruht darauf, dass die beiden DNA-Stränge quervernetzen (crosslinken), wodurch diese nicht mehr voneinander getrennt werden können. Beispiele sind Cyclophosphamid, Chlorambucil, Melphalan, Lomustin, Procarbazin und Dacarbazin. Bei gleichem Wirkmechanismus bestehen vor allem Unterschiede in der Pharmakokinetik und den unerwünschten Wirkungen. Alle Substanzen weisen eine deutliche Knochenmarkstoxizität auf, welche dosislimitierend ist und sich in Thrombozytopenie oder Neutropenie äußert. Antineoplastische Antibiotika Diese Gruppe der Zytostatika sind in der Regel Antibiotika, welche von Pilzen der Gattung Streptomyces hergestellt werden. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Agenzien mit unterschiedlichen Wirkmechanismen (Anlagerung an die DNA, Quervernetzung der DNA, Hemmung des DNA-entwindenden Enzymes Topoisomerase II, etc), die allesamt dazu führen, dass die Synthese von DNA und RNA behindert wird. Klassische Vertreter dieser Substanzgruppe sind Doxorubicin, Mitoxantron. Neben der Myelosuppression ist vor allem die Kardiotoxizität als prominente unerwünschte Wirkung zu erwähnen. Platinumderivate Diese Substanzen enthalten ein Platinatom, welches zu Quervernetzungen in der DNA führt, weil es mit zwei benachbarten Basen reagieren kann. Durch diese strukturelle Schädigung wird die DNA funktionsunfähig. Beispiele sind Cisplatin und Carboplatin, welche vor allem gastrointestinale Toxizität, Myelosuppression und Nephrotoxizität (v.a. bei Cisplatin) als unerwünschte Wirkungen haben. L-Asparaginase Hierbei handelt es sich um ein Enzym, welches den Abbau von L-Asparagin zu L-Asparaginsäure katalysiert. Neoplastische Lymphozyten (z.B. Lymphome, Mastzelltumore) haben einen Mangel an L-Asparagin produzierenden Enzymen, wodurch diese Aminosäure für sie essenziell wird. Durch Einsatz von L- Asparaginase wird diese essenzielle Aminosäure vermehrt abgebaut, wodurch die Proteinsynthese in den Tumorzellen verhindert wird. Unerwünschte Wirkungen bestehen in möglichen Hypersensitivitätsreaktionen und Pankreatitis. Zellzyklus-abhängige Chemotherapeutika Die im folgenden aufgelisteten Stoffe wirken nur in gewissen Zellzyklus-Phasen, weil sie mit phasenspezifischen Funktionen wie z.B. DNA-Synthese oder Mitose interferieren. Antimetabolite Antimetabolite sind strukturelle Analoga physiologischer Substrate, welche zur Synthese der DNA- Bausteine benötigt werden. Dadurch hemmen sie die normale DNA-Synthese spezifisch während der S-Phase und somit die Funktion und Replikation der Zelle. Ein Beispiel hierfür ist Cytosin-Arabinosid, ein Analogon der DNA-Base Cytosin. Dieses bindet kompetitiv die DNA-Polymerase und führt über Einbau in den DNA-Strang zur Störung der DNA-Synthese. Unerwünschte Wirkungen umfassen gastrointestinale und Myelotoxizität. Vincaalkaloide Es handelt sich hierbei um eine Gruppe von Stoffen pflanzlichen Ursprungs, welche sich an das Protein Tubulin anheften und so die Polymerisierung der Mikrotubuli blockiert. Mikrotubuli sind für die Mitose unerlässlich, um die Chromosomenpaare in die jeweiligen Tochterzellen zu verteilen. Ist dies nicht mehr möglich, kommt es zum Zelltod. Klassische Vertreter dieser Mitosehemmer sind Vincristin und Vinblastin. Auch hier kommt es zu Myelosuppression und gastrointestinaler Toxizität. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 55

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Neuere „zielgerichtete“ Therapieansätze Neuere Ansätze in der Tumortherapie zielen auf spezifisch in Tumoren (über-)aktivierte Signalwege ab. Als veterinärmedizinisch relevante Stoffgruppe zeichnen sich hier die Tyrosinkinase-Inhibitoren ab. Diese Stoffe hemmen verschiedene Enzyme aus der Gruppe der Tyrosinkinasen, die in Tumoren häufig übermäßig aktiviert sind. Die Tyrosinkinasen werden von den Inhibitoren so gehemmt, dass die Phosphorylierung von nachgeschalteten Proteinen nicht mehr stattfinden kann. Dies führt zum Erliegen der Signalübertragung im betroffenen Signalweg, der beispielsweise Zellwachstum, Überleben oder Gefäßneubildung kontrolliert. Beispielhaft aufgeführt sei hier Toceranib (Palladia®), ein Inhibitor verschiedener Kinasen der für die Behandlung nicht resezierbarer oder rezidivierender Mastzelltumoren des Grads II oder III zugelassen ist. Masitinib (Masivet®) ist ein weiterer Tyrosinkinase-Inhibitor, welcher für nicht resezierbare Mastzelltumoren des Grads II oder III zugelassen ist, unter der Voraussetzung, dass eine c-KIT Mutation vorliegt. Unerwünschten Wirkungen dieser Substanzklasse beinhalten unter anderem gastrointestinale Symptome (Durchfall), geringgradige Myelosuppression und Proteinverlust-Nephropathie. Der Wirkstoff Tigilanoltiglat (Stelfonta®) ist ein Aktivator der Proteinkinase C. Dies bewirkt, dass die Blutversorgung der Zellen unterbrochen wird, was zum Zelltod führt. Da der Wirkstoff direkt in den Tumor injiziert wird, werden die umliegenden Krebszellen geschädigt und der Tumor nekrotisiert. Stelfonta ist zugelassen für nicht-resezierbare, nicht metastatische kutane (beliebige Stelle) oder subkutane Mastzelltumoren (distal des Ellbogens/Tarsus) mit einem Totalvolumen von < 8cm3. Da die Wirkung des Medikamentes nicht spezifisch auf das Tumorgewebe beschränkt bleibt, sind auch unerwartet starke und über den eigentlichen Tumor hinausreichenden Nekrosen möglich. Unerwünschte Wirkungen umfassen Schmerzen, Lahmheit, starke Entzündungsreaktionen und Wunden die zumeist innert 28-42 Tagen wieder reepithelisieren, Wundinfektionen sowie potenzielle Komplikationen wie hypovolämischer Schock als Folge einer Mastzelldegranulation. Im Hinblick darauf, dass die allermeisten den o.g. Kriterien entsprechenden Mastzelltumoren chirurgisch resezierbar sind, in Kombination mit den durch die Behandlung induzierten großflächigen, lange anhaltenden Wunden, ist der Einsatz dieses Wirkstoffes auch aus der Perspektive „primum non nocere“ eher vorsichtig zu bewerten. Zusammenfassung und Ausblick Die pharmakologische Tumortherapie nimmt in der Kleintiermedizin eine zunehmend relevante Rolle ein. Während die Durchführung dieser Behandlungen zumeist spezialisierten Kliniken vorbehalten ist, ist das Wissen um die Therapiemöglichkeiten für den praktizierenden Tierarzt von Interesse um die Kundschaft adäquat beraten zu können. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft immer mehr spezifische, zielgerichtete Pharmaka den Weg in die Kleintierklinik finden und die Krebstherapie stark verbessern werden. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Graf, R. et al. Swiss Feline Cancer Registry: A Retrospective Study of the Occurrence of Tumours in Cats in Switzerland from 1965 to 2008. J Comp Pathol 153, 266–277; 2015. Grüntzig, K. et al. The Swiss canine cancer registry: A retrospective study on the occurrence of tumours in dogs in Switzerland from 1955 to 2008. J Comp Pathol 152, 161–171; 2015. Chaffer, C. L. & Weinberg, R. A. A Perspective on Cancer Cell Metastasis. Science 331, 1559–1564; 2011. Hanahan, D. & Weinberg, R. A. The Hallmarks of Cancer. Cell 100, 57–70; 2000. Hanahan, D. & Weinberg, R. A. Hallmarks of Cancer: The Next Generation. Cell 144, 646–674; 2011. Hanahan, D. Hallmarks of Cancer: New Dimensions. Cancer Discovery vol. 12 31–46 Preprint at https://doi.org/10.1158/2159-8290.CD-21-1059; 2022. Kessler, M. Kleintieronkologie. Diagnose und Therapie von Tumorerkrankungen bei Hund und Katze. Vol. 4; Georg Thieme Verlag KG; 2022. Löscher, W. & Richter, A. Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie für die Veterinärmedizin. Vol. 4 (Enke Verlag; 2016. Kontakt Prof. Dr. Dr. Enni Markkanen, Institut für Veterinärpharmakologie, Vetsuisse-Fakultät, Universität Zürich enni.markkanen@vetpharm.uzh.ch 56 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Einsatz der antiviralen Substanz GS-441524 zur Therapie der felinen infektiösen Peritonitis Katrin Hartmann Kleintierklinik der LMU München, München Einleitung Die feline infektiöse Peritonitis (FIP) ist eine häufig vorkommende und unbehandelt tödlich verlaufende Infektionskrankheit bei Katzen (1). FIP wird verursacht durch das feline Coronavirus (FCoV) der Familie Coronaviridae und ist ein einzelsträngiges Ribonukleinsäure- (RNA-) Virus (2). Es kommt in zwei Pathotypen vor, auch als felines enterales Coronavirus (FECV) und als FIP-verursachendes Virus (FIPV) bezeichnet (3-5). FCoV gelangt durch oronasale Übertragung in den Körper der Katze und vermehrt sich im Darmepithel. Das FIP-verursachende FCoV entsteht durch Mutationen des wenig pathogenen FCoV in der Katze (6, 7). Etwa 5 – 12 % der FCoV-infizierten Katzen in Mehrkatzenhaushalten entwickeln FIP. Unbehandelt verläuft FIP immer tödlich. Die mittlere Überlebenszeit ohne Therapie beträgt 9 Tage (8). Hoffnung gibt ein neues antivirales Medikament namens GS-441524. GS-441524 GS-441524 (1′-cyanosubstituiertes Adenin-C-Nukleosid-Ribose-Analogon) ist die aktive Substanz von Remdesivir und molekularer Vorläufer des pharmakologisch aktiven Nukleosid-Triphosphat-Moleküls (9). GS- 441524 ist ein RNA-Ketten-Terminator der viralen RNA-Polymerase. Es wird während Replikation anstelle von Adenosin in die RNA eingebaut (10, 11); dadurch kommt es zum Kettenabbruch und somit zur Hemmung der viralen Replikation (12). In vitro als auch in vivo konnte eine hervorragende Effektivität von GS-441524 gegen FCoV bestätigt werden (11, 13-15). GS-441524 ist in Deutschland nicht zugelassen und darf daher von Tierärzten in Deutschland nicht angewendet werden. Dies verleitet Katzenbesitzer dazu, antivirale Medikamente über den Schwarzmarkt zu beziehen und die Katzen selbst, ohne tierärztlichen Rat, zu behandeln (16). In England und Australien können an FIP erkrankte Katzen aufgrund des lokalen Apothekengesetzes legal mit GS-441524 behandelt werden, welches von BOVA Specials UK Ltd, London, hergestellt und auch vertrieben wird. Da dieses Präparat nicht zugelassen ist, kann es nicht nach Deutschland importiert werden (Ausnahme: genehmigte Tierversuche). Experimentelle Studien zu GS-441524 In einer Studie wurde bei 12 spezifisch pathogen-freie Katzen experimentell FIP induziert, davon entwickelten 10/12 Katzen eine FIP und wurden mit GS-441524 behandelt (2–5 mg/kg, q24h, SC, für 14 Tage). Die klinischen Symptome verbesserten sich in kürzester Zeit. Bei 2 Katzen zeigten sich 4 und 6 Wochen nach der initialen Therapie erneut FIP-Symptome, diese Katzen wurden für weitere 2 Wochen mit GS-441524 therapiert. Alle Katzen waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Remission (> 8 Monate nach Infektion) (11). Retrospektive Studien zu GS-441524 Zahlreiche retrospektive Studien (16-19) und Fallberichte (20) zu GS-441524 wurden veröffentlicht, auch in diesen ist GS-441524 erfolgsversprechend. Aufgrund des Studiendesigns sind diese aber nicht so aussagekräftig wie prospektive kontrollierte Studien. Prospektive kontrollierte Studien zu GS-441524 In einer prospektiven Studie wurde GS-441524 (initial 2 mg/ kg, q24h, SC) bei 31 Katzen mit FIP (Diagnosestellung: Signalement, Anamnese, klinische und labordiagnostische Veränderungen, Ergussanalyse, RT-PCR und IHC) über einen Zeitraum von 84 Tagen verabreicht. Es wurden keine Katzen mit neurologischen oder okulären Symptomen eingeschlossen aufgrund einer möglichen Undurchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und der Blut-Augen-Schranke für GS-441524 (14). Die Dosis wurde auf 4 mg/kg erhöht, wenn Katzen nicht auf 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 57

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ die initiale Dosis ansprachen oder erneut Symptome während des Therapieverlaufs zeigten. 26/31 Katzen wurden über 12 Wochen behandelt. GS-441524 war sehr effektiv; innerhalb von 12 – 36 Stunden waren die Katzen fieberfrei. Bei allen Katzen konnte schnell eine Appetits- und Gewichtszunahme erreicht werden. Abdominale und pleurale Ergüsse nahmen ab und waren nach 7–14 Tagen verschwunden. 25/26 Katzen befanden sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie in anhaltender Remission. Eine Katze verstarb an einem Herzproblem. In dieser Studie wurden nur milde Nebenwirkungen (lokale Hautreaktionen) bei 16/26 Katzen beobachtet. Eine Katze entwickelte während der Therapie eine erhöhte Konzentration an Harnstoff und SDMA, die sich nach Absetzen der Therapie wieder im Normbereich befanden (14). Eine Fallserie beschreibt 4 Katzen mit neurologischen und/oder okulären Symptomen, die GS-441524 (5– 10 mg/kg, q24h, SC, für 98–133 Tage) bekamen. Alle 4 Katzen zeigten ein gutes Ansprechen auf die Therapie (3/4 Katzen überlebten 528, 516 und 354 Tage nach Therapiestart), ohne erneut klinische Symptome zu entwickeln. Eine Katze wurde nach zweimaliger Behandlung mit GS-441524 aufgrund von erneuten neurologischen Symptomen euthanasiert (21). Eine Studie an der Kleintierklinik der LMU München untersuchte ein Präparat namens Xraphconn® (Mutian Life Sciences Limited, Nantong, China) zur oralen Therapie der FIP. Mittels Massenspektrometrie und Kernspinresonanzspektroskopie konnte als aktive Substanz GS-44152 identifiziert werden. In die Studie wurden 18 Katzen mit diagnostizierter FIP (Diagnosestellung: Vorbericht, typische klinische und labordiagnostische Parameter und positive Mutations-PCR und/oder IHC) eingeschlossen. Katzen ohne neurologische und/oder okuläre Symptome erhielten 5 mg/kg (q24h, PO für 84 Tage) der aktiven Substanz. Katzen mit neurologischen und/oder okulären Symptomen erhielten die doppelte Dosis (10 mg/kg, q24h, PO für 84 Tage). Neue Analysen des Medikamentes zeigten jedoch, dass eine Tablette Xraphconn® mehr GS- 441524 enthält als vom Hersteller offiziell deklariert (persönliche Kommunikation J. Horak). Das Allgemeinbefinden sowie die klinischen und labordiagnostischen Parameter verbesserten sich schnell (je Parameter bereits ab Tag 1–28 signifikanter Unterschied zu Tag 0) (15). Die orale Behandlung mit GS-441524 führte bei diesen Katzen mit FIP zu einer signifikanten Abnahme der FCoV-Viruslast im Blut, im Erguss und im Kot (22). Die Therapie mit GS-441524 verursachte nur geringgradige Nebenwirkungen. Eine Katze entwickelte an Tag 84 eine moderate Heinz-Body-Anämie. Diese Katze wurde mit S-Adenosyl-Methionin behandelt, die Erythrozytenzahl normalisierte sich und die Heinz-Bodies verschwanden. 11/18 Katzen zeigten während der Therapie erhöhte Leberwertenzymaktivitäten, 2/11 Katzen mit deutlicher Erhöhung (ALT > 350 IU/l, AP > 350 IU/l). Diese Katzen wurden mit Silymarin, einem Mariendistel-Extrakt, therapiert und die Leberenzymaktivitäten normalisierten sich. 14/18 Katzen zeigten eine Lymphozytose, möglicherweise als Regeneration der oftmals bei Katzen mit FIP auftretenden Lymphopenie. 11/18 Katzen hatten eine Eosinophilie, vermutlich im Sinne einer Heilung (15, 23). Alle 18 Katzen schlossen den Behandlungszyklus über 84 Tage erfolgreich ab und waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung klinisch gesund. Diese Studie konnte eine Überlebensrate von 100 % erzielen, die einerseits auf die hohe Wirksamkeit des Medikamentes, aber auch auf eine zu Beginn stattfindende intensivmedizinische Betreuung zurückzuführen ist (15). In der oben beschriebenen Studie verstarb eine der therapierten Katzen 164 Tage nach Ende der 84-tägigen Behandlung bei einem Autounfall und konnte obduziert werden. Die postmortalen Untersuchungen (Obduktion, Histopathologie, IHC, quantitative FCoV-RT-PCR) zeigten, dass durch die orale Behandlung mit GS-441524 eine vollständige Heilung der FIP-assoziierten Veränderungen und vollständigen Elimination von FCoV (mittels IHC und quantitativer RT-PCR) aus allen Geweben erzielt werden konnte (24). Die weiteren Katzen dieser Studie wurden nach Ende der Therapie alle 12 Wochen zu Follow-up Untersuchungen vorgestellt. Die Katzen waren innerhalb des Beobachtungszeitraumes von einem Jahr rückfallfrei. Zwei Katzen zeigten vorübergehend leichte neurologische Symptome (ähnlich eines felinen Hyperästhesie-Syndroms) (25). Eine neue Studie der Kleintierklinik der LMU München vergleich eine kürzere Therapiedauer (42 Tage, 20 Katzen) mit der bisherigen beschrieben Therapiedauer von 84 Tagen (20 Katzen). In die Studie wurden 40 Katzen eingeschlossen und mit GS-441524 (15 mg/kg, q24h, PO; Bova Specials UK Limited, England) behandelt. 38/40 Katzen schlossen die Therapie erfolgreich ab und befinden sich aktuell in Remission. Die Studie zeigt, dass auch eine kürzere Therapiedauer effektiv und ausreichend scheint (Daten noch unveröffentlicht). 58 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Schlussfolgerung: Leider ist GS-441524 in Deutschland nicht zugelassen und Präparate vom Schwarzmarkt dürfen von Tierärzten nicht angewendet werden. Nur die Zulassung von GS-441524 ermöglicht eine legale Therapie unter dringend notwendiger veterinärmedizinischer Betreuung (regelmäßige Kontrollen, Detektion potenzieller Nebenwirkungen), sowie die notwendige intensiv-medizinische Betreuung zu Beginn der Behandlung. Vor Therapiestart mit einem antiviralen Medikament sollte eine gesicherte Diagnose der Erkrankung FIP vorliegen. Die Behandlung von Katzen mit FIP sollte nicht allein den Besitzern überlassen werden. Aktuell gibt es für Tierärzte nur wenige legale Optionen, um FIP zu therapieren. (1) Eine Therapie mit dem umgewidmetem Remdesivir ist legal möglich, aber unter den derzeitigen Bedingungen extrem teuer. (2) Eine Überweisung der Katze zu einem Tierarzt nach Großbritannien oder Australien ist in den meisten Fällen unrealistisch. (3) Eine Teilnahme an einer wissenschaftlichen Therapiestudie. Um die nicht absehbare Zeit bis zur Zulassung von GS- 441524 oder von GC376 zu überbrücken, müssen Therapiestudien in Deutschland genehmigt werden, um den an FIP erkrankten Katzen eine legale und tierärztlich kontrollierte Therapie zu ermöglichen. Wenn Sie eine Katze zur FIP-Therapiestudie an die Kleintierklinik der LMU überweisen wollen, melden Sie sich bitte per E-Mail: fip@medizinische-kleintierklinik.de. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. Cave TA, Thompson H, Reid SW, et al. Kitten mortality in the United Kingdom: a retrospective analysis of 274 histopathological examinations (1986 to 2000). Vet Rec. 2002;151(17):497-01. Lai MM, Cavanagh D. The molecular biology of coronaviruses. Adv Virus Res. 1997;48:1-100. Pedersen NC, Boyle JF, Floyd K, et al. J. 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Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ 21. 22. 23. 24. 25. Dickinson PJ, Bannasch M, Thomasy SM, et al. Antiviral treatment using the adenosine nucleoside analogue GS- 441524 in cats with clinically diagnosed neurological feline infectious peritonitis. J Vet Intern Med. 2020;34(4):1587- 93. Meli ML, Spiri AM, Zwicklbauer K, et al. Fecal feline coronavirus RNA shedding and spike gene mutations in cats with feline infectious peritonitis treated with GS-441524. Viruses. 2022; 14(5):1069. Mateos González M, Sierra Gonzalo E, Casado Lopez I, et al. The prognostic value of eosinophil recovery in COVID- 19: a multicentre, retrospective cohort study on patients hospitalised in Spanish hospitals. J Clin Med. 2021;10(2). Krentz D, Zwicklbauer K, Felten S, et al. Clinical follow-up and postmortem findings in a cat that was cured of feline infectious peritonitis with an oral antiviral drug containing GS-441524. Viruses. 2022;14(9):2040. Zwicklbauer K, Krentz D, Bergmann M, et al. Long-term follow-up of cats in complete remission after treatment of feline infectious peritonitis with oral GS-441524. J Feline Med Surg. 2023;25(8):1098612x231183250. Kontakt Prof. Dr. Katrin Hartmann; Kleintierklinik der LMU München, München vorstandsassistenz@medizinische-kleintierklinik.de 60 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Neue Therapeutika zur Hypertoniebehandlung bei Katzen Melanie Hamann Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Fachbereich Veterinärmedizin, Justus-Liebig-Universität Gießen Einleitung Hypertonie repräsentiert eine bei Katzen relativ oft vorkommende Diagnose, wobei die sekundäre Hypertonie die häufigste Form darstellt. Hierbei führen die zugrundeliegenden systemischen Erkrankungen zur Störung körpereigener Regulationssysteme, die für die Aufrechterhaltung eines normalen Blutdrucks verantwortlich sind. Die häufigste dieser Erkrankungen ist die chronische Nierenerkrankung (CNE). Ungefähr 60 % der Katzen, bei denen Bluthochdruck diagnostiziert wurde, weisen auch Anzeichen einer CNE auf. Bei etwa 20 % der Katzen mit der Diagnose Hyperthyreose, einer weiteren häufigen Erkrankung älterer Katzen, wird auch Bluthochdruck diagnostiziert. Auch seltenere Erkrankungen wie Hyperaldosteronismus, Hyperadrenokortizismus oder Phäochromozytome können mit Bluthochdruck bei Katzen assoziiert sein. In einigen Fällen lässt sich jedoch keine zugrundeliegende Ursache identifizieren, was auf eine primäre Hypertonie hinweist. Als Folge des Bluthochdrucks kommt es vor allem zur Schädigung von Geweben und Organen mit hoher arterieller Versorgung. Die hierbei am häufigsten befallenen „Zielorgane“ (target organs) sind demnach die Augen, die Nieren, das Gehirn und das Herz. Das oberste Ziel der Pharmakotherapie einer Hypertonie ist es daher, das Risiko von Folgeschäden an den Zielorganen zu minimieren. Im Falle einer sekundären Hypertonie sollte hierbei zunächst die Therapie der Grunderkrankung im Fokus stehen. Die Behandlung der Hypertonie selbst kann mit den im Folgenden dargestellten Therapieoptionen behandelt werden. Therapie der felinen systemischen Hypertonie Als Mittel der Wahl zur Behandlung der Hypertonie bei der Katze gelten derzeit der Calciumkanalblocker Amlodipin(besilat), ACE-Hemmer wie Benazepril und der Angiotensin-II-Rezeptor(Subtyp AT1)-Antagonist Telmisartan (1-4). Der als „First-line“ zur Behandlung der felinen systemischen Hypertonie geltende Calciumkanalblocker Amlodipin(besilat) ist in den für Katzen auch für diese Indikation zugelassenen Präparaten Amodip® 1,25 mg und Lodisure® 1,0 mg enthalten. Die empfohlene Initialdosis beträgt 0,125 - 0,25 mg Amlodipin pro kg Körpergewicht pro Tag. Nach 14tägiger Behandlung sollte das klinische Ansprechen beurteilt werden. Sollte es unzureichend sein, d.h. systolischer Blutdruck weiterhin über 150 mm Hg oder ein Absinken um weniger als 15% gegenüber dem Ausgangswert, kann die Dosis verdoppelt bzw. bis zu einer täglichen Maximaldosis von 0,5 mg/kg Körpergewicht erhöht werden. Das Ansprechen auf Dosisanpassungen sollte nach weiteren zwei Wochen neu beurteilt werden. Der Angiotensin-II-Rezeptor(Subtyp AT1)-Antagonist Telmisartan ist im für Katzen zur Behandlung der systemischen Hypertension zugelassenen Präparat Semintra® enthalten, das in den Stärken 4 mg/ml und 10 mg/ml erhältlich ist. Die empfohlene Initialdosis zur Behandlung von systemischem Bluthochdruck beträgt 2 mg Telmisartan/kg Körpergewicht, bei gleichzeitigem Vorliegen einer chronischen Nierenerkrankung wird ieselbe Dosierung empfohlen, wobei als mindestwirksame Dosis hierbei 1 mg/kg einzusetzen sind. Sollte vier Wochen nach Beginn der Behandlung der systolische Blutdruck unter 140 mmHg liegen, kann die Dosis in Schritten von 0,5 mg/kg herabgesetzt werden. Der Zielbereich sollte bei fortlaufender Kontrolle während der Dosiseinstellung zwischen 120 und 140 mmHg liegen. An dieser Stelle soll unter Berücksichtigung der derzeitigen arzneimittelrechtlichen Situation darauf hingewiesen werden, dass im Hinblick auf ACE-Hemmer derzeit für Katzen nur Präparate mit dem Wirkstoff Benazepril und diese ausschließlich zur Verminderung der Proteinurie bei chronischer Niereninsuffizienz zugelassen sind. Eine direkte Zulassung für die Behandlung der systemischen Hypertonie besteht hingegen nicht. Hiermit kann Benazepril aus arzneimittelrechtlicher Sicht nur eingesetzt werden, wenn als Ursache der Hypertonie eine chronische Nierenerkrankung vorliegt bzw. die Niere als Zielorgan durch einen systemischen Bluthochdruck so geschädigt ist, sodass eine Proteinurie besteht. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 61

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Therapie der felinen pulmonalen Hypertonie Lungenhochdruck repräsentiert einen unphysiologisch erhöhten Blutdruck im Lungenkreislauf, der zu Atemnot und verminderter körperlicher Leistungsfähigkeit führt. In der Humanmedizin stellt er mittlerweile ein gut untersuchtes Krankheitsbild dar. Seit geraumer Zeit ist diese klinische Entität allerdings auch in der Veterinärmedizin bekannt, sodass im Jahr 2020 ACVIM Leitlinien zur Diagnose, Klassifikation, Behandlung und zum Monitoring von Lungenhochdruck beim Hund veröffentlicht wurden (5) und auch für die Katze gibt es Beschreibungen (6). Im Hinblick auf spezifische Therapieoptionen für Lungenhochdruck in der Kleintiermedizin konzentrieren sich die Studien auf Inhibitoren der Phosphodiesterase V (PDE V) und der Phosphodiesterase III (PDE III). In einer bereits länger zurückliegenden experimentellen Studie zu Effekten des PDE V Inhibitors Zaprinast und des PDE III Inhibitors Milrinon bei Katzen auf einen erhöhten Lungengefäßtonus wurde gezeigt, dass beide Substanzen einen vasodilatatorischen Effekt hatten. Der Effekt des PDE V Inhibitors war jedoch stärker (7). Als der heute im Humanbereich weltweit am meisten verwendete PDE V Inhibitor zur Behandlung pulmonaler Hypertonie ist Sildenafil anzusehen. Mittlerweile konnten einige Studien eine Reduktion von pulmonaler Hypertonie durch Sildenafil bei Hunden und auch bei Katzen nachweisen (6). Anzumerken ist, dass in Deutschland neben Sildenafil der Wirkstoff Tadalafil als weiterer PDE V Inhibitor in der Humanmedizin als zugelassenes Arzneimittel zur Verfügung steht und in der Therapie der pulmonalen Hypertonie breite Anwendung findet. Als Hoffnungsträger für die Zukunft zur Behandlung der pulmonalen Hypertonie wird derzeit die Inhibition von Interleukin 6 angesehen (8). Neuere Ansätze in der Humanmedizin zur Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen Um einen Ausblick auf zukünftig möglicherweise auch in der Veterinärmedizin Eingang findende neue Therapieansätze zu geben, lohnt sich ein Blick in die Humanmedizin. Im Folgenden werden Substanzklassen vorgestellt, die in ersten Studien zu einer Verbesserung der Lebensqualität und der Mortalitätsrate bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz geführt haben, u.a. durch ihre hypertonen Effekte (zur Übersicht: 9). Ihr durchschlagender Erfolg in der Humanmedizin sowie ihr Einsatz in der Veterinärmedizin bleiben abzuwarten. ARNI Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitoren (ARNI) kombinieren die Inhibition des Renin-Angiotensin- Aldosteron-Systems (RAAS) mit der Abbauhemmung von endogen freigesetzten natriuretischen Peptiden (NP). So existiert mittlerweile eine feste Kombination aus dem AT1-Antagonisten Valsartan mit dem Neprilysin- Inhibitoren Sacubitril. Neprilysin-Inhibitoren führen zu einem verzögerten Abbau biogener Peptide sowie vasoaktiver Polypeptide (z.B. Bradykinine, AT-II sowie Substanz P), sodass diese Stoffklasse folglich vasodilatatorische und inotrope Eigenschafen aufweist. SGLT2-Inhibitoren Natrium-Glukose-Cotransporter-2-Inhibitoren (SGLT2-Inhibitoren) wie beispielsweise Dapagliflozin oder Empagliflozin hemmen spezifisch den renalen, natriumabhängigen Glukosetransporter SGLT-2 (sodium- dependent glucose co-transporter 2). Dieses Transportprotein befindet sich im proximalen Tubulus der Niere und ist für etwa 90 % der Glukoserückresorption verantwortlich. Als Folge kommt es zur vermehrten Glukoseausscheidung über den Harn mit osmotischer Diurese. Die erhöhte Glukose- und Wasserausscheidung führt zu einem reduzierten Plasmavolumen und somit zur Senkung einer Hypertonie. Guanylatzyklase-Aktivatoren Es ist bekannt, dass bei chronischer Herzinsuffizienz ein Mangel an zyklischem Guanosinmonophosphat (cGMP) zur vaskulären endothelialen Dysfunktion beiträgt. Vericiguat ist ein oral anzuwendender Guanylatzyklase-Stimulator, der die Bildung von cGMP über eine direkte Stimulation der Guanylatzyklase aktiviert und hierüber direkt die Bildung von Stickstoffmonoxid (NO) stimuliert sowie zusätzlich die aktivierende Wirkung von endogener Stimulation der NO-Synthase sensibilisiert. Hierüber liegt ein positiver Einfluss auf hypertone Zustände vor. 62 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Arzneimittel und Arzneimittelrecht ___________________________________________________________________________________________________________ Fazit Die drei wichtigsten zu beachtenden Elemente bei der Therapie der systemischen Hypertonie der Katze sind a) die Therapie einer möglichen Grunderkrankung, b) die Senkung des Blutdrucks zur Minimierung von Folgeschäden an Zielorganen und c) die Kontrolle der hierfür eingeleiteten Therapie. Als Mittel der Wahl stehen die Wirkstoffe Amlodipin und Telmisartan in für die Katze zur Behandlung der systemischen Hypertonie zugelassenen Präparaten in Deutschland zur Verfügung. Als Herausforderung stellt sich die neuere klinische Entität der felinen pulmonalen Hypertonie dar. Für diese stehen noch keine für Katzen zugelassenen Präparate zur Verfügung, Für Katzen erwiesen sich in einigen Studien jedoch PDE V Inhibitoren als nützlich. Neuere Ansätze aus der Humanmedizin zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen wie ARNI, SGLT2- Inhibitoren, Guanylatzyklase-Aktivatoren oder die IL6-Inhibition könnten zukünftig auch für die Therapie von systemischer oder pulmonaler Hypertonie bei Katzen an Bedeutung gewinnen. Literatur 1. 2. Grieshober J. Hypertonie bei Katzen – Ursachen, Folgen und Management. Veterinärspiegel 2021;31:18–24 Williams JG, Hess RS. Concurrent disorders of cats with diabetes mellitus and arterial systolic hypertension. J Feline Med Surg. 2023;25(7):1098612X231187691. doi: 10.1177/1098612X231187691 Prost K. Under pressure: A survey of Canadian veterinarians in the diagnosis and treatment of feline hypertension. Can Vet J. 2023;64(1):45-53. Geddes RF. Hypertension: Why Is It Critical? Vet Clin North Am Small Anim Pract. 2020;50(5):1037-1052. doi: 10.1016/j.cvsm.2020.04.001. Reinero C, Visser LC, Kellihan HB, et al. ACVIM consensus statement guidelines for the diagnosis, classification, treatment, and monitoring of pulmonary hypertension in dogs. J Vet Intern Med 2020;34:549–573. Rolph KE, Cavanaugh SM. Feline pulmonary hypertension: are we overlooking an important comorbidity? J Feline Med Surg. 2022;24(12):e636-e646. doi: 10.1177/1098612X221127233. Matot I and Gozal Y. Pulmonary responses to selective phosphodiesterase-5 and phosphodiesterase-3 inhibitors. Chest 2004;125:644–651 Gugliandolo E, Macrì F, Fusco R, Siracusa R, Cordaro M, D'amico R, Peritore AF, Impellizzeri D, Genovese T, Cuzzocrea S, Di Paola R, Crupi R. Inhibiting IL-6 in medicine: a new twist to sustain inhibition of his cytokine tin the therapy of Pulmonary Arterial Hypertension. Pharmacol Res. 2023;192:106750. doi: 10.1016/j.phrs.2023.106750 Abdin A, Böhm M. Innovationen in der medikamentösen Therapie der Herzinsuffizienz. CARDIOVASC 2021; 21(4),39-46. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Kontakt Prof. Dr. Melanie Hamann; Justus-Liebig-Universität Gießen, Fachbereich Veterinärmedizin, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Gießen Melanie.Hamann@vetmed.uni-giessen.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 63

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Notfalltherapie bei Intoxikationen Esther Haßdenteufel, Julia Ortlieb, Fabienne Blunschi, Matthias Schneider, Andreas Moritz Klinik für Kleintiere, Innere Medizin, Justus-Liebig-Universität, Gießen Einleitung Patienten mit Intoxikationen werden häufig in einem kritischen Allgemeinzustand vorgestellt. Dabei handelt es sich meist um Notfälle, die eine Akut-Therapie benötigen, um bereits bestehende Symptome zu lindern und Langzeitfolgen zu vermeiden. Häufig kommen plötzliche neurologische Symptome (z.B. Ataxie, Anfälle, reduzierte Ansprechbarkeit) vor, aber auch eine vermehrte Blutungsneigung (z.B. infolge einer Intoxikation mit Cumarin-Derivaten) ist möglich. Einige Vergiftungen können im weiteren Verlauf zu schwerer Leber- oder Nierenschädigung ist eine konkrete Angabe, welches Toxin vorliegt; bei einem Vergiftungsverdacht kann gegebenenfalls versucht werden, über die Lokalisation der Giftaufnahme (z.B. Haushalt, Garten oder beim Spaziergang) das mögliche Toxin weiter einzugrenzen. Bei unklarer Vergiftung hilft eine unspezifische Entgiftungstherapie weiter. Eine Lipid-Therapie hilft insbesondere bei der forcierten Elimination lipophiler Giftstoffe. Abhängig vom aufgenommenen Toxin kann, wenn vorhanden, eine gezielte Antidot-Therapie oder auch eine spezifische Therapie eingeleitet werden. führen. Hilfreich Unspezifische Therapie Zu den unspezifischen Therapie-Maßnahmen zählt eine gastro-intestinale Dekontamination. Erbrechen kann dann induziert werden, wenn der Patient noch keine neurologischen Auffälligkeiten aufweist, da sonst das Risiko einer Aspiration zu hoch ist. Auch bei der Aufnahme ätzender, öliger, stark schäumender oder flüchtiger Substanzen ist das Auslösen von Erbrechen nicht indiziert. Als Medikamente zur Emesis-Induktion werden beim Hund Apomorphin (z.B. in einer Dosis von 0,04 mg/kg s.c.) und bei der Katze entweder Dexmedetomidin (7-10 µg/kg i.m.) oder Xylazin (0,44 mg/kg i.m.) eingesetzt (1, 6). Bei schon bestehender Symptomatik kann eine Magenspülung erfolgen, wenn die Giftaufnahme noch nicht lange zurückliegt. Auch eine dermale Dekontamination ist wichtig bei Toxinen, die topisch aufgetragen werden (z.B. akzidentell verabreichte Permethrin-Präparate bei der Katze). Bezüglich oral aufgenommener Toxine ist im weiteren Verlauf bei den meisten Substanzen der Einsatz von Aktiv-Kohle wichtig, um eine Toxin-Absorption und auch Re-Absorption nach Passage des enterohepatischen Kreislaufes zu verhindern. Lipid-Therapie Eine weitere Maßnahme, welche bei Verdacht auf eine Intoxikation mit lipophilen Substanzen eingesetzt werden kann, ist die Lipid-Therapie (2). Dabei wird eine 20%ige Fett-Emulsion infundiert, diese soll dazu dienen, den Fettgehalt im Plasma zu erhöhen und darin lipophile Toxine zu binden und einer beschleunigten Elimination zuzuführen. Beispiele für Toxine, bei denen die Lipid-Therapie bereits beschrieben wurde, sind Permethrin, Ivermectin, Ibuprofen, Baclofen, THC-(Tetrahydrocannabinol)-haltige Drogen und Lidocain. Das Dosisregime bei der Lipid-Therapie besteht in den meisten Beschreibungen aus einer initialen Bolus-Therapie (1,5 ml/kg) und einer anschließenden Kurzzeitinfusion (0,25-0,5 ml/kg/min) über 30-60 Minuten. Diese Dosis sollte reduziert werden, wenn der Patient ein Risiko für eine Volumenüberladung (z.B. eine Herzerkrankung) aufweist. Spezifische Therapie Eine spezifische Therapie ist dann möglich, wenn das Toxin bekannt ist oder ein hochgradiger Verdacht auf eine bestimmte Vergiftung vorliegt. Wichtige Antidota sind beispielsweise das Vitamin K bei Cumarin-Derivaten oder Atropin bei Organophosphaten und Carbamaten. Extrakorporale Verfahren sind bei schwerwiegenden Vergiftungen beschrieben, z.B. die Hämodialyse bei Metaldehyd-Vergiftung (3) und Ethylenglykol-Aufnahme (4), oder die Plasmapherese bei der Intoxikation mit Nicht-Steroidalen Antiphlogistika (5). 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 65

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. Willey JL, Julius TM, Claypool SA, Clare MC. Evaluation and comparison of xylazine hydrochloride and dexmedetomidine hydrochloride for the induction of emesis in cats: 47 cases (2007-2013). J Am Vet Med Assoc 2016; 248 (8): 923–928 Gwaltney-Brant S, Meadows I. Intravenous lipid emulsions in veterinary clinical toxicology. Vet Clin Small Anim 2018; 48: 933–942 Teichmann-Knorrn S, Doerfelt S, Doerfelt R. Retrospective evaluation of the use of hemodialysis in dogs with suspected metaldehyde poisoning (2012–2017): 11 cases. J Vet Emerg Crit Care 2020; 30 (2): 194-201 Schweighauser A, Francey T. Ethylene glycol poisoning in three dogs: Importance of early diagnosis and role of hemodialysis as a treatment option. Schweiz Arch Tierheilkd 2016; 158 (2): 109–114 Butty EM, Suter SE, Chalifoux NV, Lynch AM, Mauro KD, Moyle RB, Ehrhardt CM, Robertson JB, Culler CA, Londono LA, Vigani A, Ueda Y, Labato MA. Outcomes of nonsteroidal anti-inflammatory drug toxicosis treated with therapeutic plasma exchange in 62 dogs. J Vet Intern Med 2022; 36: 1641–1647. Lee JA. Chapter 127: Decontamination and Toxicological Analyses of the Poisoned Patient. In Drobatz KJ, Hopper K, Rozanski E, Silverstein DC (Editors). Textbook of Small Animal Emergency Medicine First Edition John Wiley & Sons, Inc., 2019 p. 821-830 Kontakt Dr. Esther Haßdenteufel; Klinik für Kleintiere, Innere Medizin, JLU Gießen Esther.Hassdenteufel@vetmed.uni-giessen.de 66 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Intoxikationen durch Zimmerpflanzen - eine Übersicht Sabine Wanderburg1, Alexandra Schümann2 1prakt. Tierärztin, Süsel; 2prakt. Tierärztin, Eutin Giftpflanzen in der freien Natur und im Garten sind meist recht gut bekannt, aber auch im Haus droht die Gefahr, dass Haus- oder Heimtiere sich an Zimmerpflanzen vergiften. Daher sollten Tierhalter prüfen, welche Pflanzen in Reichweite der Tiere sind. Insbesondere in Räumen, in denen Vögel frei fliegen, sollte es keine giftigen Pflanzen geben, weil schon das Beknabbern von Blättern gefährlich sein kann. Oxalate dreifach problematisch Ein im Pflanzenreich weit verbreiteter Schutz vor Fressfeinden ist die Bildung von Calciumoxalatkristallen. Die gibt es beispielsweise in vielen beliebten Zimmerpflanzen aus der Familie der Aronstabgewächse. Die Oxalate sind dreifach gefährlich. Mechanisch führen die schwer löslichen Raphide zur Schleimhautreizung, schlimmstenfalls bis zur Ulzeration. Resorbiertes Oxalat kann Calcium binden und eine Hypokalzämie auslösen. Bei der Ausscheidung können wiederum Calicumoxalatkristalle ausfallen, die die Nierentubuli verstopfen. Die tödliche Dosis für Hunde beträgt 1 g Oxalsäure pro kg Körpergewicht. Insbesondere für Meerschweinchen kann schon das Trinken aus einem Untersetzer gefährlich sein. Auch bei den meisten anderen Intoxikationen durch Zimmerpflanzen sind Schleimhautreizungen unmittelbar nach der Aufnahme und spätere systemische Effekte zu unterscheiden, manchmal weitere Folgen bei der Ausscheidung. Allerdings bleiben bei den allermeisten Intoxikationen durch Zimmerpflanzen nur symptomatische Behandlungen und die Entfernung des Giftstoffes als mögliche Maßnahmen. Tabelle 1 zeigt wenige spezifische Therapiemöglichkeiten. Tabelle 1: Spezifische Therapien bei Intoxikationen durch Zimmerpflanzen Pflanze Aronstabgewächse und Schefflera spezifische Therapie Analgetika, Lokalanästhetika, Eugenol (Gewürznelkenöl) lokal (reduziert evtl. das Zungenödem), evtl. Antihistaminika. Bei starker Schwellung: Glukokortikoide. Nach sehr hohen Dosen Calciumsubstitution. Nach schweren Vergiftungen sollten die Serumelektrolyte sowie die Herz- und Nierenfunktion des Patienten 72 Stunden lang überwacht werden. Katze: aggressive Flüssigkeitstherapie (NaCl-Lösung, 2-3facher Erhaltungsbedarf, innerhalb der ersten 24 Stunden nach Ingestion, für 1- 3 Tage) bei Anurie Peritoneallavage oder Hämodialyse Atropin bei Bradykardie Lilie Amaryllis, Narzissen, Azalee, Rhododendron Lilien besonders für Katzen giftig Ein bisher unbekanntes Gift für Katzen ist in allen Pflanzenteilen von Lilien enthalten. Schon nach Aufnahme kleinster Pflanzenteile oder nach Trinken von geringen Mengen Vasenwasser treten initial Vomitus, Hypersalivation und Apathie auf. Das typische Verschwinden der gastrointestinalen Symptome nach 2 bis 6 Stunden täuscht eine Verbesserung vor. Doch nach 12 bis 30 Stunden kommt es durch Nekrose der tubulären Epithelialzellen zur Polyurie und später zur Anurie. Nach 3 bis 7 Tagen tritt der Tod durch Nierenversagen ein. Schon in der gastrointestinalen Phase sollte mit aggressiver Infusionstherapie (2 bis 3-facher Erhaltungsbedarf) 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 67

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ begonnen werden, um das Nierenversagen zu verhindern. In der anurischen Phase ist eine Peritoneallavage oder Hämodialyse notwendig. Allerdings ist die Prognose in diesem Stadium schlecht. Häufiges Symptom: Bradykardie Die Alkaloide aus vielen Amaryllisgewächsen, darunter den verbreiteten Narzissen, wirken schon bei der Aufnahme lokal inflammatorisch. Nach Resorption lösen sie zentralnervöse Störungen und cholinerge Effekte aus. Bei Bradykardie steht mit Atropin eine spezifische Therapie zur Verfügung. Dies gilt auch bei vergleichbaren Effekten durch Rhododendrongewächse, zu denen auch Azaleen gehören. Diese sind stark giftig, besonders für Vögel. Verantwortlich dafür sind Gravanotoxine, die an die α-Untereinheit spannungsabhängiger Na+-Kanäle binden und damit zur Dauerdepolarisation führen. Dies führt zu erhöhtem Ca2+-Einstrom in ventromedialen hypothalamischen Neuronen. Die folgende erhöhte Freisetzung von GABA und Glutamat gilt als Erklärung für Hypotension und Bradykardie. Ricinus: Zimmerpflanze als biologische Waffe Ein herausragendes Beispiel für eine toxische Zimmerpflanze ist Ricinus, der Wunderbaum, der mit Ricin eines der stärksten natürlichen Toxine enthält. Das fettunlösliche (daher nicht in Rizinusöl), hitzeempfindliche Ricin hemmt die Proteinbiosynthese und gilt als potentielle biologische Waffe. Schon wenige Samen der Pflanze lösen bei Hunden ein lebensbedrohliches Multiorganversagen aus. Tabelle 2: Auswahl von Zimmerpflanzen mit toxischen Effekten Pflanze Aronstabgewächse: Dieffenbachie, Symptome Speicheln, Giftstoff Ca-Oxalate (Raphide), Oxalsäure starke Schleimhautschwellung, Larynx- und Pharynxödem, Gastroenteritis, Hypokalzämie, Nierenversagen unbekannt vorübergehend gastrointestinale Symptome, Besonderheit Katze: nach akutes Stunden 12-30 Nierenversagen Kritische Dosis Hund LD50 (oral): 1 g Oxalsäure/kg Körpergewicht; Meerschweinchen LD50 (oral): 600-900 mg Stammsaft/Tier Katze: schwere Vergiftungssymptome schon nach Aufnahme von einem Blatt- oder Blütenteil Philodendron, Einblatt, Calla, Buntwurz (Kaladium), Efeutute, Fensterblatt, Flamingoblume (Anthurium) Schefflera Lilie Amaryllisgewächse: Narzisse, Ritterstern („Amaryllis“), Belladonna- Lilie (echte Amaryllis) Rhododendron, Azalee Wüstenrose (Apocynaceae: Hundsgiftgewächse) Ricinus (Euphorbiaceae) Alkaloide Vomitus, Diarrhoe, unbekannt Diterpene, v.a. Grayanotoxine Herzrhythmusstörungen, Ataxie, Krämpfe, Zittern, Bradykardie, Hypotonie Vomitus, Diarrhoe, Herzrhythmusstörungen, Ataxie, Krämpfe, Zittern, Bradykardie, Hypotonie toxische Dosis Hund: 1 bis 2 Blätter beim Herzwirksame Schleimhautreizung, nach unbekannt; herzwirksam Steroidglykoside Resorption Digitalis-ähnlich nur bei großer Menge Ricin (Toxalbumin) Hämorrhagische Hund: wenige Gastroenteritis, Schwäche, Kreislaufkollaps, Multiorganversagen Kolik, Krämpfe, Koma, Ricinussamen tödlich 68 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Tabelle 2 (Fortsetzung) Weihnachtsstern (Euphorbiaceae) Christusdorn (Euphorbiaceae) Triterpene Gastroenteritis mit unbekannt Erbrechen, ZNS-Störungen unbekannt Diterpene: Ingenolester, Phorbolester, Milliamine A-G lokal Milchsaft stark allergische reizend, Kontaktdermatitis mit Blasenbildung und Nekrosen, Stomatitis, Gastroenteritis. Keratokonjunktivitis bei Augenkontakt Phorbolester: hochwirksame Tumorpromotoren Alpenveilchen (Cyclamen), Efeu Saponine, vor allem Cyclamin (Alpenveilchen), Vomitus, Diarrhoe, Kolik, Kreislaufstörungen, Krämpfe, Hämolyse, Atemlähmung unbekannt Gummibaum (Ficus) Kalanchoe Chili (Solanaceae) und Sesquiterpene (Efeu) Triterpene, Proteasen (Ficin), Furanocumarine (in Ficus carica) Cardenolidgly koside Solanin (ganze Pflanze, nicht die Früchte) Korallenbäumchen (Solanaceae) Mistel Solanocapsin weitere und Alkaloide Lectine, Thionine Tulpe (Liliaceae) Tulipin (Glycoprotein), Tuliposid A und B, Lectin, alle Pflanzenteile giftig Vomitus, Diarrhoe erst zentrale Erregung, dann Lähmung Furanocumarine: phototoxisch und kanzerogen Krämpfe, Dyspnoe, Paralyse Schleimhautreizung, nach Resorption Hämolyse, erst zentrale Erregung, Lähmung, dann Atemlähmung LD Zwergkaninchen: 3-4 Blätter von Ficus pumila (Krämpfe, Lähmungen, Tod) unbekannt LD Kaninchen (i.p.): 20- Solanin/kg 30 mg Körpergewicht; LD50 Maus (i.p.): 32 mg Solanin/kg Körpergewicht Vomitus, Diarrhoe, Kolik unbekannt unbekannt Salivation, Gastroenteritis, selten Polyurie, Ataxie, Hypothermie, Mydriasis, Hyperästhesie, Muskelzuckungen, Todesfälle gastrointestinale unbekannt Symptome Vielfältige Pflanzen, Inhaltsstoffe und Symptome Weniger spektakulär, aber viel häufiger ist der Weihnachtsstern, bei dem Pflanzen mit toxischen Triterpenen äußerlich nicht von untoxischen Züchtungen zu unterscheiden sind. Hier wirkt schon der Milchsaft lokal stark reizend und führt zu einer Kontaktdermatitis, bei Aufnahme zu Stomatitis und Gastroenteritis. Nach Resorption folgen ZNS-Störungen sowie Schädigungen von Leber, Nieren und Milchdrüsen. Todesfälle wurden jedoch nur selten dokumentiert. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 69

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Bei diesen und vielen weiteren Zimmerpflanzen mit toxischen Inhaltsstoffen fällt die große Vielfalt auf. Tabelle 2 zeigt zahlreiche Beispiele. Es geht dabei um die unterschiedlichsten Pflanzenfamilien, und die Effekte werden durch sehr verschiedene Stoffe ausgelöst. Vielfach sind die toxischen Inhaltsstoffe und erst recht die Mechanismen der Toxizität unbekannt. Zudem werden in der Literatur teilweise sehr vielfältige Symptome beschrieben. Für die Behandlung ist es daher besonders wichtig, die jeweiligen Symptome gut zu beobachten und zügig darauf zu reagieren. Literatur 1. Institut für Veterinärpharmakologie und -toxikologie der Universität Zürich, Herausgeber. CliniTox Klinische Toxikologie. Zürich: Datenbank begründet 1998, fortlaufend aktualisiert. ISSN 1662-7709. www.vetpharm.uzh.ch/clinitox (letzter Zugriff am 26.09.2023) Kontakt Sabine Wanderburg, prakt. Tierärztin, Süsel s.wanderburg@t-online.de 70 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Giftiges Hundespielzeug Barbara Krebs-Breuer Kleintierpraxis am Sonnenstück, Schliengen Wie Menschen, die ihren Hobbys frönen, möchten auch Hunde artgerecht beschäftigt werden. Sehr beliebt ist unkaputtbares Hundespielzeug, denn mit der hohen Beißkraft und unermüdlichen Ausdauer stellen gerade die Kauer und die jungen Hunde im Zahnwechsel ihre Besitzer auf eine harte Probe. Was beim Einkauf unbeachtet bleibt, sind die Ingredienzien, auf die die Zähne und der Speichel einwirken. Da sich die Gesetzgeber nicht für Hundespielzeug interessieren, gibt es keine Vorgaben oder Richtlinien bei der Herstellung von Hundespielzeug. Was sind das für Substanzen, die in den Spielzeugen verwendet werden? Untersuchungen haben gezeigt, dass Hundespielzeug aus Gummi und Kunststoffen mit verschiedenen Verbindungen aus den Klassen der polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK), Bisphenol A (BPA), Nonylphenolen, Nitrosaminen und Phthalaten belastet sein können. Im Folgenden wird kurz auf die Stoffgruppen und ihre Toxizität eingegangen. Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) werden bei der Herstellung zugesetzt, um den Materialien die gewünschten mechanischen und verarbeitungstechnischen Eigenschaften zu verleihen (1). Aufgrund ihrer Eigenschaften in der Umwelt werden PAK als sogenannte „PBT“-Stoffe bewertet, dies sind Stoffe, die sowohl persistent als auch bioakkumulierend und toxisch sind, was in der Ökotoxikologie als besonders kritisch betrachtet wird. Denn einmal in die Umwelt entlassen, reichern sie sich an und können so über längere Zeit ihre giftige Wirkung entfalten. Zudem wirken zahlreiche⁠ PAK krebserregend und zählen somit auch zu den „CMR“-Substanzen (cancerogen, mutagen, reproduktionstoxisch). Die Aufnahme kann inhalativ, oral oder auch durch Hautkontakt (dermal) erfolgen. Dass PAK in der Umwelt fast überall vorkommen, macht sie in Verbindung mit ihren Eigenschaften zu einer besonders problematischen Stoffgruppe (2). Über die europäische Chemikalien-Verordnung (REACH) sind Grenzwerte für acht PAK festgelegt (1). In Deutschland gelten seit 2015 niedrigere Grenzwerte, die vom TÜV überprüft werden und für die Zuerkennung des GS- Zeichens gelten (3). Während es aber etwa für Autoreifen einen PAK-Grenzwert von 0,1 mg/kg gibt, liegt für Spielzeug und Artikel für Kleinkinder und Säuglinge seit 2015 der Wert bei 0,5 mg/kg (4). Für die Herstellung von Polycarbonatkunststoffen wird vor allem Bisphenol A (BPA) als Ausgangssubstanz verwendet. Der Stoff hat zwar eine geringe akute Toxizität, allerdings wird er im Tierversuch bei langfristiger Exposition mit einer Reihe von Effekten in Zusammenhang gebracht. BPA wurde von der EU als reproduktionstoxisch und als endokriner Disruptor für die menschliche Gesundheit eingestuft. Nach dem europäischen Chemikalienrecht gilt BPA als besonders besorgniserregende Substanz (5). Nonylphenole werden ebenfalls bei der Herstellung von Kunststoffen verwendet, und gehören wegen ihrer schädigenden Wirkung auf Leber und Nieren ebenfalls zu den endokrinen Disruptoren. Seit Dezember 2003 sind sie für den direkten Kontakt mit dem Menschen nicht mehr zugelassen. Nach einer Untersuchung der schwedischen Naturschutzvereinigung SNF gelangen Nonylphenole auch über importierte Textilien aus Ländern wie China, Indien oder der Türkei in die EU-Länder (6). Bei der Stabilisierung und Härtung von Gummimischungen können sich Nitrosamine bzw. deren Vorstufen bilden. Nitrosamine sind Stoffe, die als krebserregend eingestuft sind, wovon einige sogar als genotoxische Kanzerogene gelten. Sie können bereits in kleinsten Mengen krebsauslösend sein, und die Exposition sollte daher so weit wie möglich reduziert werden (7). Beim Hund wird die Verabreichung bestimmter Nitroso- Verbindungen mit Magenkrebs assoziiert (8). Als Weichmacher in Polyvinylchlorid (PVC) und anderen Kunststoffen werden überwiegend Phthalate verwendet. In den Kunststoffen sind sie chemisch nicht festgebunden und können über lange Zeit in geringen Mengen in die Umgebungsluft abgegeben werden (9). Im Mittel ist Hausstaub mit 7,7 µg Phthalaten pro Gramm Hausstaub belastet und kann auch im Blut bei Hunden nachgewiesen werden. Während phthalathaltige Stoffe nicht mehr für die Herstellung von Kinderspielzeug zugelassen sind, finden sie bei der Herstellung von 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 71

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Hundespielzeug und anderen Utensilien weiterhin Verwendung (10). Phthalate haben eine geringe akute Toxizität, die erst bei längerer und wiederholter Belastung ihre gefährlichen Eigenschaften zeigt. Experimentell wurden bei Haustieren Fortpflanzungsstörungen nachgewiesen. Daher reduzierte die chemische Industrie in den letzten Jahren den Einsatz dieser als fortpflanzungsgefährdend eingestuften Phthalate (z.B. DEHP, Di- ethyl-hexyl-phtalat) und ersetzte sie durch die weniger bedenklichen und nicht als fortpflanzungsgefährdend eingestuften langkettigen Phthalate wie Di(2-propylheptyl)phthalat (DPHP). Aktuell wird DPHP als Weichmacher in Spielzeugen und Produkten für Kinder eingesetzt, wobei eine offizielle Einstufung oder gesetzliche Regulierung bislang fehlt. Im Tierversuch erwies sich dieser Stoff als schädigend für die Schilddrüse und die Hypophyse. Die Behörden der EU klären z.Zt. ab, ob dieser Stoff endokrin schädliche Eigenschaften besitzt (9). Im Gegensatz zu Kinderspielzeug gibt es für Hundespielzeug keine Grenzwerte für gesundheitsgefährdende Stoffe oder eine Kennzeichnungspflicht. Lediglich zwei Verbraucherorganisationen, der Verein für Konsumenteninformation (VKI) in Österreich (11) und der Stiftung Warentest (12) haben Untersuchungen zu Hundespielzeug durchführen lassen. Im Jahr 2013 ließ der VKI 18 beliebte Hundespielzeuge aus Kunststoff in einem Labor auf gesundheitliche Unbedenklichkeit untersuchen. Kein einziges Produkt war frei von Giftstoffen, in allen wurden zum Teil hohe Konzentrationen von PAKs gefunden. Fünf der getesteten Produkte waren zudem stark mit BPA belastet, in einem der Spielzeuge fanden die Tester den hochproblematischen Stoff DEHP, in sechs Produkten Nonylphenole. In einem, einer Badeente für Kinder zum Verwechseln ähnlich aussehenden Hundespielzeug, fanden sich große Mengen von BPA und Nonyphenol (11). Die Stiftung Warentest ließ 2022 Materialproben von 15 exemplarisch ausgesuchten Hundespielzeugen auf vier Substanzen testen: PAK, Phthalate, Nitrosamine und nitrosierbare Stoffe, sowie Chlorparaffine (12). Zur Anwendung kamen die gesetzlichen Grenzwerte für Kinderspielzeuge, die für unter drei Jährige gelten (13). In elf der 15 Produkte fanden sich keine der untersuchten Substanzen (12). Das Hundespielzeug „Kong classic“ wies zu hohe Mengen an Nitrosaminen sowie eine erhöhte Dosis an Naphthalin, einem PAK, auf. In vier der von der Stiftung Warentest untersuchten Materialproben fanden sich Nitrosamine bzw. nitrosierbare Stoffe oberhalb des Grenzwertes der Spielzeugnorm auf (12). Dass sich die Hersteller der Problematik bewusst sind, zeigt, dass bei 14 der vom VKI untersuchten Produkte das Entsorgen von beschädigten Spielzeugen empfohlen wurde (11). Acht der 15 von der Stiftung Warentest untersuchten Produkte trugen das CE-Zeichen für Spielzeug, welches eine Selbstauskunft der Anbieter ist, die angibt, der europäischen Kinderspielzeug-Richtlinie zu entsprechen (13, 14). Drei der vier mit mangelhaft bewerteten Produkten trugen das CE-Zeichen, darunter der hoch belastete „Kong“ (12). In der Literatur sind keine Vergiftungen durch Hundespielzeug beschrieben worden. Direkte klinische Symptome sind selten, sie äußern sich unspezifisch (10), können sowohl nach einigen Stunden als auch bei chronischer Exposition mit eher unspezifischer Symptomatik auftreten und sollten entsprechend behandelt werden. Ob die vermeintlich ungefährlichen Alternativen dieser Stoffe unbedenklich sind, oder ob es wie am Beispiel der Phthalate eine Verlagerung der Schädigung auf andere Organsysteme kommt, wird sich in Zukunft zeigen. Was bleibt ist das Ausweichen auf kunststofffreies Spielzeug, wie zum Beispiel unbedenkliche Naturmaterialien. Literatur 1. Stellungnahme des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit vom 01.12.2022, Keine krebserregenden Stoffe (PAK) im Spielzeug 2. Umweltbundesamt vom 31.05.2012, Warum sind PAK für den Menschen und die Umwelt bedenklich? 3. 4. Stellungnahme des BfR vom 09.08.2019, 29/2019, PAK-Gehalte in Verbraucherprodukten sollten so gering wie möglich TÜV Süd, Änderung bei PAK-Grenzwerten, 2015 sein 5. Aktualisierte FAQ des BfR vom 13Juli2023, Bisphenol A in Alltagsprodukten: Antworten auf häufig gestellte Fragen 6. Seite „Nonylphenole“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 20. September 2023, 18:26 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nonylphenole&oldid=237499769 (Abgerufen: 23. September 2023, 16:41 UTC) 72 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ 7. Stellungnahme des BfR vom 17.Januar 2011, Spielzeug aus Natur- und Synthesekautschuk für Kinder unter drei Jahren: Freisetzung von N-Nitrosaminen sollte so gering wie möglich sein 8. Schmidt JM: Ätiologie und Pathologie von Krebserkrankungen. In: Kessler M (Hrsg.): Kleintieronkologie. 4. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2022, 20-27 9. Eidgenössisches Departement des Inneren EDI, Bundesamt für Gesundheit BAG, Mai 2021, Factsheet Phthalate 10. Löwe G, Löwe O: Quellen von Vergiftungen. In: Löwe G, Löwe O (Hrsg.): Vergiftungen bei Hund und Katze. 2. Auflage. Nerdlen: Kynos Verlag; 2021, 108-1 11. Verein für Konsumenteninformation (VKI) 11/2013 Zeitschrift KONSUMENT, Schadstoffe in Hundespielzeug 12. Stiftung Warentest Heft 9/2022: Unbelastet spielen, Schadstoffe in Hundespielzeug 13. Richtlinie 2009/48/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Sicherheit von Spielzeug 14. Verordnung (EG) Nr.: 765/2008 des europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 Kontakt Dr. Barbara Krebs-Breuer; Schliengen krebsbreuer@gmx.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 73

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Vergiftungen mit Molluskiziden Julia-Rebecca Llewellyn Internistische Fachpraxis für Kleintiere, Feldkirchen Immer wieder kommt es vor, dass Hunde und Katzen vermeintlich unschädliche Schneckenkörner zu sich nehmen und Vergiftungserscheinungen zeigen. Die giftigen Bestandteile in Schneckenkorn sind entweder Metaldehyd oder Eisen-III-Phosphat. Die Mortalitätsrate nach der Aufnahme von metaldehydhaltigem Schneckenkorn liegt bei 16-17 % (1,2). Die tödliche Dosis von Metaldehyd liegt bei 100-300 mg/kg, was ca. einem Teelöffel Schneckenkorn mit 2 % Metaldehyd pro 4,5 kg Körpergewicht entspricht (3). Eine Dekontamination wird bereits bei Aufnahme von mehr als 2 mg/kg empfohlen (3). Klinische Symptome treten 1-4 Stunden nach oraler Aufnahme auf und betreffen hauptsächlich das Nervensystem, da sowohl Metaldehyd als auch Acetaldehyd die Blut-Hirn-Schranke durchqueren können (2). Beschrieben sind Ataxie, Krämpfe, Unruhe, Hyperästhesie, Speicheln, Hyperthermie, Tachykardie, Tachypnoe, Erbrechen, Durchfall und Muskeltremor (4-6). Durch die hohe Körpertemperatur kommt es sekundär zu Organnekrosen. Metaldehyd beeinflusst auch den Säure-Basen und Elektrolythaushalt. Unbehandelt kann die Aufnahme von großen Mengen Schneckenkorn nach 4-24 Stunden zu einem Atemstillstand führen, nach 2-3 Tagen kann sich ein Leberversagen entwickeln. Bei Kontakt mit Magensäure entsteht Acetaldehyd, welches einen enterohepatischen Kreislauf durchläuft. Die Eliminationshalbwertszeit von Metaldehyd liegt bei 27 Stunden, weshalb die Tiere oft 4 Tage stationär betreut werden müssen (4). Es existiert kein Gegengift, die Therapie ist daher auf eine Dekontamination und symptomatische Therapie beschränkt. Kurz nach der Aufnahme und bei normalem Bewusstsein, kann durch induziertes Erbrechen eine weitere Resorption von Metaldehyd verhindert werden. Bei krampfenden Tieren, oder solchen mit reduziertem Bewusstsein, ist eine Magen-und Darmspülung in Narkose indiziert. Zum Schutz der Atemwege muss dafür unbedingt eine Intubation erfolgen. Im Anschluss an die Spülung oder das Erbrechen, sollte Aktivkohle eingegeben werden. Tieren mit Krampfanfällen verabreicht man Benzodiazepine (Diazepam oder Midazolam), sollten diese alleine nicht ausreichen um eine Anfallsfreiheit zu erreichen, müssen die Tiere in eine Dauernarkose gelegt werden (6). Hierfür eignen sich Propofol, Isofluran oder Sevofluran. Die Verwendung von Barbituraten wie Pentobarbital gilt als kontraindiziert, da diese mit Acetaldehyd um Plasmabindungsstellen konkurrieren und die Toxizität dadurch erhöhen können (6). Tiere mit Hyperthermie müssen gekühlt werden, dafür verwendet man lauwarmes Wasser. Sobald die Körpertemperatur bei 39,3°C liegt, wird die Kühlung unterbrochen um eine Hypothermie zu verhindern. Zum Ausgleich von Flüssigkeitsdefiziten und Elektrolytimbalancen werden Vollelektrolytlösungen intravenös verabreicht. Eine Kontrolle der Leberenzyme und Leberfunktionsparameter sollte die ersten 3 Tage alle 24 Stunden erfolgen. Neben metaldehyd- gibt es eisenhaltige Schneckenkörner, diese enthalten Eisen-III-Phosphat mit oder ohne EDTA. Der Eisengehalt in eisenhaltigen Schneckenkörnern liegt bei 4,6-5,6 g/kg. Eisenionen sind ab einer Dosis von 20-60 mg/kg Körpergewicht giftig, schwere Symptome sind ab 60 mg/kg Körpergewicht zu erwarten, die tödliche Dosis liegt bei 100 mg/kg. Sechs bis 24 Stunden nach der Aufnahme von Eisen-III-Phosphat kann es zu Erbrechen, Durchfall, Lethargie, Anorexie, Bauchschmerzen, Dehydratation, Übelkeit, Ataxie und Krämpfen kommen (7,8). Auch blutiges Erbrechen und blutiger Durchfall sind beschrieben (8). Sollte ein 5 kg schwerer Hund oder eine Katze mehr als 1 Handvoll Körner aufgenommen haben, wird zu einer Dekontamination durch induziertes Erbrechen geraten. Die Gabe von Aktivkohle ist nicht sinnvoll, da Eisen nicht durch Aktivkohle gebunden wird. Erbrechen wird symptomatisch mit einem Antiemetikum (z.B. Maropitant) behandelt, da es durch Eisen zu einer Reizung der Magenschleimhaut kommt, sollten Magenprotektiva wie Sucralfat verabreicht werden. Bisher liegen keine Berichte über Todesfälle nach Eisen-III-Phosphataufnahme vor (8). 74 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Yas-Natan E, Segev G, Aroch I. Clinical, neurological and clinicopathological signs, treatment, and outcome of metaldehyde intoxication in 18 dogs. Journal of Small Animal Practice. 2007;48:438-443 Bates NS et al. Suspected metaldehyde slug bait poisoning in dogs: a retrospective analysis of cases reported to the Veterinary Poisons information service. Vet Rec. 2012 Metaldehyde poisoning: introduction, In: The Merck Veterinary Manual, Whitehouse Station, NJ: Merck Sharp & Dohme Corp; 2011, www.merckvetmanual.com/mvm/index.jsp?cfile=htm/bc/212000.htm&word=metaldehyde. Accessed August 2023 Wickstrom E. Metaldehyde, International Programme on Chemical Safety. 1999. www.inchem.org/documents/pims/chemical/pim332.htm Macintire D, Drobatz K, Haskins S, et al. Manual of Small Animal Emergency and Critical Care Medicine. Philadelphia, PALippincott Williams & Wilkins; 2005: 270 Booze T, Oehme F. An Investigation of Metaldehyde and Acetaldehyde Toxicities in Dogs. Toxicological Sciences. 1986;6(3):440-446 Haldane SL et al. Acute toxicity in five dogs after ingestion of a commercial snail and slug bait containing iron EDTA. Aust Vet J. 2009 Buhl KJ et al. Reports of metaldehyde and iron phosphate exposures in animals and characterization of suspected iron toxicosis in dogs. J AM Vet Med Assoc. 201; 1244-1248 Kontakt Dr. Julia-Rebecca Llewellyn; Internistische Fachpraxis für Kleintiere, Feldkirchen Llewellyn@internistische-fachpraxis.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 75

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Inhalative Vergiftungen bei Ziervögeln Volker Schmidt Klinik für Vögel und Reptilien, Universität Leipzig Vögel sind aufgrund einer hohe Diffusionskapazität der Lunge, einer große Gesamtgasaustauschfläche und eines hohes Atemzeitvolumen besonders empfindlich gegenüber gasförmigen Toxinen (1). Viele der Stoffe die Ursache einer inhalativen Vergiftungen beim Ziervogel sein können, finden sich üblicherweise im Haushalt. Die bekannteste und häufigste Vergiftung hierbei ist die sogenannte Polytetrafluorethylen-Vergiftung, aber auch Vergiftungen durch andere Aerosole im Rahmen von Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen, Kohlenmonoxid, Tabakqualm oder Verbrennungsprodukte können vorkommen. Polytetraflourethylen (PTFE) Der Kunststoff Polytetrafluorethylen (PTFE) ist als Antihaftbeschichtung von Bratpfannen, Töpfen, Raclette Pfännchen und anderen Kochutensilien weit verbreitet. Weiterhin findet PTFE Verwendung als Beschichtung von Glätteisen, Haartrocknern, Waffeleisen, Toastern, Backformen, Bügeleisen, Bügelbrettbezügen, Backöfen mit Selbstreinigungsmechanismus und manchen Wärmelampen. Wenn PTFE über 260°C erhitzt wird erfolgt eine Pyrolyse, bei welcher stark toxische, gas- und partikelförmige Fluorverbindungen freigesetzt werden, unter anderem Carbonylfluorid, Fluorwasserstoff und Perfluorisobuten (1). Die dafür erforderliche Temperatur wird am ehesten erreicht, wenn PTFE - beschichtetes Kochgeschirr ohne Inhalt erhitzt wird. Beim ersten Gebrauch von neuen, vorher noch nie erhitzten PTFE-beschichteten Utensilien scheinen auch größere Mengen an Pyrolyseprodukten freigesetzt zu werden (2). Unmittelbar nach Exposition zeigen die Vögel Dyspnoe, Unruhe, Gleichgewichtsstörungen, Somnolenz und Krämpfe. Der Tod tritt, abhängig von der Konzentration der Pyrolyseprodukte in der Atemluft, sofort oder nach wenigen Minuten ein. Aufgrund des äußerst schnellen Verlaufs der Vergiftung wird jedoch von den Besitzern meistens nur der plötzliche Todesfall festgestellt (3). Insbesondere kleinere Spezies wie Wellensittiche, Nymphensittiche oder Kanarienvögel sind besonders häufig betroffen. Ursache ist eine Asphyxie aufgrund einer direkt schädigenden Wirkung der sauren Dämpfe auf die dünnen Zellmembranen der respiratorischen Epithelzellen. Dies führt zu Nekrosen und Hämorrhagien, so dass postmortal eine Blutstauung in der Lunge sowie ein Lungenödem hinweisend sind (4). Bei rechtzeitiger Vorstellung der betroffenen Vögel kann eine Therapie durch rasche Verbringung an die frische Luft bzw. in einen Sauerstoffkäfig versucht werden. Eine einmaligen Applikation von Dexamethason 0,8 mg/kg KM i.v., Aminophyllin 10 mg/kg KM i.v. alle 3 Stunden, und Heparin 40-50 IE/kg KM i.v. einmalig, zusätzlich zu Sauerstoff- und Flüssigkeitstherapie kann hilfreich sein (5). Eine begleitende Inhalationstherapie mit Heparin, Dexamethason und Ringerlösung ist ebenfalls möglich, wobei die Prognose aufgrund der starken Schädigung des Lungengewebes als schlecht zu beurteilen ist (2). Natriumhypochlorit (Chlorbleiche) und andere Desinfektionsmittel/Haushaltsreiniger Natriumhypochlorit (NaOCl) oder Chlorbleiche (OCl-) frei, beide von relativ geringer Toxizität. Trotzdem kann die ist Bestandteil verschiedener weit verbreiteter Haushaltsreiniger und wird aufgrund der desinfizierenden Wirkung auch gelegentlich zur Reinigung von Volierenanlagen verwendet. Natriumhypochlorit setzt beim Kontakt mit Wasser hypochlorige Säure (HOCl) und Hypochlorit Inhalation von Natriomhypochlorit-Aerosolen, die zum Beispiel beim Ausspritzen von vorher mit Chlorbleiche desinfizierten Volieren entstehen können, eine Intoxikation verursachen (6). Des Weiteren entsteht beim Mischen von Natriumhypochlorit-haltigen Reinigern mit sauren Substanzen (etwa anderen Reinigungsmitteln) hochgiftiges Chlorgas. So sind tödliche Vergiftungen bei Psittaziden beschrieben, in deren Anwesenheit ein Rohrreiniger mit Natriumhypochlorit und ein handelsübliches Reinigungsmittel zeitgleich im selben Ausfluss verwendet wurden. Ammoniak ist als Ammoniumhydroxid, auch Ammoniakwasser oder Salmiakgeist genannt, in verschiedenen Reinigungsmitteln enthalten. Außerdem wird es bei mangelnder Käfighygiene durch die Zersetzung von Fäzes, Futter- und Einstreuresten freigesetzt. Chronische Ammoniakvergiftungen durch regelmäßige Inhalation von 76 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Ammoniakgasen führen zu einer verminderten Immunantwort und somit zu einer Prädisposition für Sekundärinfektionen. Akute Intoxikationen sind ebenfalls möglich (3). Kohlenmonoxid Kohlenmonoxid (CO) entsteht bei Verbrennungsprozessen kohlenstoffhaltiger Verbindungen. Es besetzt die Bindungsstellen für Sauerstoff des Hämoglobins, wodurch der Sauerstofftransport im Blut behindert wird und es zu einer Hypoxie kommt. Eine Intoxikation tritt beim Vogel schon bei geringeren Konzentrationen von CO in der Atemluft auf als beim Säuger. Besonders empfindlich reagieren Kanarienvögel und andere Finken (1). Mögliche Quellen sind defekte oder in schlecht belüfteten Räumen betriebene Heizöfen oder Autoabgase beim Transport des Vogels im Kofferraum (3). Plötzliche Todesfälle ohne vorherige Symptomatik werden häufig beschrieben. Post mortem fällt lediglich das hellrote, dünnflüssige Blut auf. Tabakrauch Neben akuten Intoxikationen durch die orale Aufnahme von Tabak sind auch chronische Vergiftungen durch Tabakrauch beschrieben, wenn regelmäßig im Beisein der Vögel geraucht wird. Der Rauch führt zu Konjunktivitis und Sinusitis. Durch die wiederholte Irritation der Schleimhäute werden diese für sekundäre bakterielle Infektionen empfänglich. Auch Federrupfen und Hautirritationen werden mit Tabakrauchexposition in Verbindung gebracht. Eine symptomatische Behandlung und eine Therapie von eventuellen bakteriellen Sekundärinfektionen sind nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig die Tabaksrauchexposition beendet wird. Vögel sollten nicht in Räumen untergebracht werden, in denen geraucht wird (3). Literatur 1. Brown RE, Brain JD, Wang N. The avian respiratory system: a unique model for studies of respiratory toxicosis and for monitoring air quality. Environ Health Perspect. 1997;105:188-200. 2. Richardson J. Implications of toxic substances in clinical disorders. In: Harrison GJ, Lightfoot T, Herausgeber. Clinical Avian Medicine. Palm Beach,Florida, Spix Publishing; 2005. S. 711-9. 3. Dumonceaux G, Harrison GJ. Toxins. In : Richie BW, Harrison GJ, Harrison LR, Herausgeber. Avian Medicine: principles and applications. Lake Worth, Florida, Wingers Publishing; 1994. S. 1030-52. 4. Schmidt RE, Reavill DR, Phalen DN. Respiratory system. In: Pathology of Pet and Aviary Birds. Iowa, Iowa State Press; 2003. S. 17-40. 5. Harrison GJ, Lightfoot T, Flinchum GB. Emergency and critical care. In: Harrison GJ, Lightfoot T, Herausgeber. Clinical Avian Medicine. Palm Beach,Florida, Spix Publishing; 2005. S. 213-32. 6. Wilson H, Brown CA, Greenacre CB, Fontenot D, Carmichael KP. Suspected sodium hypochlorite toxicosis in a group of psittacine birds. J Avian Med Surg. 2001;15:209-215. Kontakt PD Dr. Volker Schmidt; Klinik für Vögel und Reptilien, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig, An den Tierkliniken 17, 04103 Leipzig vschmidt@vogelklinik.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 77

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Endophyten als Vergiftungsrisiko bei Weidetieren? Jochen Krauss Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie, Biozentrum, Universität Würzburg Hintergrund Endophytische Pilze der Gattung Epichloë sind systemische Symbionten in Gräsern der kalt-gemäßigten Breiten (Abb. 1). Einige Epichloë Arten können nur asexuell über die Samen weiterverbreitet werden, andere vermehren sich auch sexuell, wobei die befallenen Gräser dann meist keinen Blütenstand ausbilden können (1,2). Weltweit sind weniger als 40 Arten aus der Gattung Epichloë bekannt (3). Durch die Pilz-Gras Symbiose, vor allem der asexuellen Formen, werden zahlreiche Alkaloide gebildet, die toxisch oder abschreckend für Insekten und Weidetiere sind (1,2). Die wichtigsten Vertebraten toxischen Stoffe Lolitrem B und Ergovalin verursachen große ökonomische Kosten (Schätzungen bis 2 Mrd US-Dollar pro Jahr) vor allem in den USA, Australien und Neuseeland (4). Das Alkaloid Lolitrem B wird in hohen Konzentrationen im infizierten Deutschen Weidelgras (Lolium perenne) produziert und verursacht die Weidelgras-Taumelkrankheit (Ryegrass Staggers) (Abb. 2). Das Alkaloid Ergovalin hat besonders hohe Konzentrationen im infizierten Rohr-Schwingel (Festuca arundinacea) und ist verantwortlich für Schwingelgras Vergiftungen (Fescue Toxicosis). Die zwei weiteren häufigen Alkaloidgruppen Peramin und verschiedene Loline sind insektentoxisch bzw. abschreckend und sind für Regionen mit starkem Schadinsektendruck ebenfalls von hoher ökonomischer Bedeutung (1,2). Saatgutzüchter von Gräsern haben daher ein großes Interesse an der Nutzung Epichloë infizierter Gräser. Abb. 1: Myzel des asexuellen endophytische Pilzes Epichloë fesctucae var. lolii innerhalb der Blattscheide des Deutschen Weidelgrases Lolium perenne. Abb. 2: Ein Schaf in Neuseeland, welches mit Epichloë fesctucae var. lolii infiziertem Deutschen Weidelgras gefüttert wurde und unter der Weidelgras-Taumelkrankheit (Ryegrass Staggers), einer Vergiftung durch das Alkaloid Lolitrem B leidet. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 78

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Die Situation in Deutschland Epichloë infiziertes Gras-Saatgut wird weltweit, aber auch in Deutschland in den Handel gebracht, da die infizierten Gräser meist eine bessere Trockenheit-Resistenz, ein besseres Wachstum (höhere Biomasse) und einen guten Herbivorieschutz haben (4, 5). Dies führte in Übersee (v.a. Neuseeland, Australien, USA, Argentinien) zu größeren Vergiftungen von Weidetieren. In diesen Regionen wird auch intensiv daran geforscht, wie Epichloë infizierte Gräser die Vorteile durch die Infektion behalten können, aber nicht toxisch für Weidetiere sind. Entsprechendes „Animal Safe“ Saatgut gibt es, die Produkte sind aber teuer und werden in Europa kaum genutzt. Auf dem deutschen Markt findet man gelegentlich Saatgut einiger Grassorten, die infiziert sind (5). Da Weidegras jedoch meist in Mischungen ausgesät wird, sind die Verdünnungseffekte pro Aussaatfläche in der Regel ausreichend, um deutlich unter den Toxizitätsschwellen für Weidetiere zu bleiben (6). Klare Belege für Vergiftungen durch Epichloë infiziertes Gras-Saatgut nach Beweidung in Deutschland gibt es aus jüngerer Vergangenheit nicht und wissenschaftliche Veröffentlichungen zu dem Thema fehlen. Mit zunehmender Klimaerwärmung in unseren Breiten könnten sich jedoch Individuen und Populationen von Gräsern mit Epichloë weiter ausverbreiten. Ansaaten von Monokulturen mit den beiden Grasarten, Deutsches Weidelgras und Rohr- Schwingel, welche hauptsächlich zu den Vergiftungen in Übersee beigetragen haben, können zusätzlich die mögliche Problematik verstärken. Den meisten Weidetierhaltern ist die Problematik unbekannt, bei Pferdehaltern dagegen gibt es oft Befürchtungen und Ängste, dass die Weiden giftig für ihre Tiere sein könnten. Leider fehlen zurzeit großflächigere Untersuchungen und validierbare Daten zu diesem Thema. Vergiftungen von Weidetieren mit Ergotalkaloiden muss zum Beispiel nicht durch Ergovalin sein, sondern kann auch durch Mutterkornbefall Claviceps purpurea, verursacht werden, welches ähnliche Ergotalkaloide produziert. Nur mit den richtigen molekularen und analytischen Methoden lassen sich mögliche Vergiftungen durch Epichloë infiziertes Gras sicher nachweisen. Andere Süßgräser, vor allem aus der Verwandtschaft Festuca/Lolium können ebenfalls in Symbiose mit Epichloë Pilzen produzieren. Ob die Alkaloidkonzentrationen allerdings Toxizitätsschwellen auf Weiden erreichen können, ist zumindest bisher eher unwahrscheinlich (7). Weidelgrasarten und Schwingelarten sind in Deutschland ebenso heimisch wie Epichloë Pilze in diesen Arten, was im Gegensatz zu Übersee Regionen ist, an denen das Deutsche Weidelgras und der Rohr-Schwingel eingeführt wurden, um großflächige Weiden anzulegen. In Deutschland werden daher oft deutlich geringere Infektionsraten durch Epichloë Pilze gefunden (7). In den infizierten Gräsern werden die höchsten Alkaloidkonzentrationen einige Jahre nach der Ansaat jeweils im späten Hochsommer unter Hitzestress erreicht (8). Dabei können die Alkaloidkonzentrationen durch Herbivore Tiergruppen-spezifisch erhöht werden (9). Die Alkaloide in herbivoren Insekten können dann später auch in deren Räuber nachgewiesen werden. Zum Beispiel wurden Alkaloide aus Epichloë infizierten Gräsern, sowohl in Blattläusen als auch in ihren Räubern, z.B. Marienkäfern nachgewiesen (10). Was kann getan werden toxische Alkaloide Das Überprüfen von Saatgut und Futterpflanzenproben auf Epichloë Infektionen und Alkaloidkonzentrationen ist zurzeit kommerziell nur in den USA möglich. Probennahme Aufwand und Kosten sind beträchtlich. Derzeit erscheinen Vergiftungen in Europa aber noch relativ unwahrscheinlich, ausgeschlossen kann es aber nicht werden (4,6,7). Weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema in Deutschland und Europa sind dringend notwendig. Um als Weidetierhalter bereits frühzeitig möglichen Problemen durch Epichloë infiziertes Saatgut entgegenzuwirken, sollten folgende Maßnahmen vor der Ansaat von Weiden helfen. 1. Ansaat von Artenreichen Weiden anstatt Monokulturen von Weidelgräsern (Lolium) oder Schwingelarten (Festuca), 2. Verzicht auf Rasengräser (z.B. Sportplatzgras) auf Weiden, da bei Rasengräsern der Pflanzenschutz vor Schädlingen bei der Zucht im Vordergrund stand und dieses Saatgut manchmal bewusst durch Züchter mit Epichloë infiziert wurde, und 3. Verzicht auf unbekanntes Saatgut aus dem Internet. Literatur 1. Schardl CL, Leuchtmann A, Spiering MJ. Symbioses of grass with seed borne fungal endophytes. Ann Rev Plant Biol 2004; 55:315-340. 2. Müller CB, Krauss J. Symbiosis between grasses and asexual fungal endophytes. Curr Opin Plant Biol. 2005; 8:450-456. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 79

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ 3. Leuchtmann A, Bacon CW, Schardl CL, White JF, Tadych M. Nomenclatural realignment of Neotyphodium species with genus Epichloë. Mycologia 2014; 106.2:202-215. 4. Hume DE, Ryan GD, Gibert A, Helander M, Mirlohi A, Sabzalian MR. Epichloë fungal endophytes for grassland ecosystems. In: Lichtfouse E, Herausgeber. Sustainable Agriculture Reviews: Volume 19, Springer International Publishing, Cham; 2016 S. 233–305. 5. Krauss J, Vikuk V, Young CA, Krischke M, Mueller MJ, Baerenfaller K. Epichloë endophyte infection rates and alkaloid content in commercially available grass seed mixtures in Europe. Microorganisms 2020; 8: 498 https://doi.org/10.3390/microorganisms8040498 6. Vikuk V, Fuchs B, Krischke M, Mueller MJ, Rueb S, Krauss J. Alkaloid concentrations of Lolium perenne infected with Epichloë festucae var. lolii with different detection methods-A re-evaluation of intoxication risk in Germany? J Fung 2020; 6: 177 https://doi.org/10.3390/jof6030177. 7. Vikuk V, Young CA, Lee ST, Nagabhyru P, Krischke M, Mueller MJ, Krauss J. Diversity matters - infection rates and alkaloid patterns of different grass species with systemic Epichloë endophytes. J Appl Environ Microbiol 2019; 85 e00465- 19; https://doi.org/10.1128/AEM.00465-19. Fuchs B, Krischke M, Mueller MJ, Krauss J. Plant age and seasonal timing determine endophyte growth and alkaloid biosynthesis. Fung Ecol 2017; 29:52-58. Fuchs B, Krischke M, Mueller MJ, Krauss J. Herbivore-specific induction of defence metabolites in a grass-endophyte association. Funct Ecol 2017; 31:318-325. 8. 9. 10. De Sassi C, Müller CB, Krauss, J. Fungal plant endosymbionts alter life history and reproductive success of aphid predators. Proc Roy Soc B 2006; 273:1301-1306. Kontakt Prof. Dr. Jochen Krauss; Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie, Biozentrum, Universität Würzburg j.krauss@uni-wuerzburg.de 80 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Schokoladenintoxikationen Esther Haßdenteufel, Julia Ortlieb, Fabienne Blunschi, Matthias Schneider, Andreas Moritz Klinik für Kleintiere, Innere Medizin, Justus-Liebig-Universität, Gießen Die Aufnahme von Schokolade stellt gerade beim Hund häufig eine akute Vergiftung dar, welches saisonal (z.B. Weihnachts- und Osterzeit) vermehrt vorkommen kann (1). Schokolade ist aufgrund des enthaltenen Theobromins giftig. Symptome einer Vergiftung zeigen sich bei betroffenen Tieren ab der Aufnahme von ca. 20 mg/kg Theobromin (2, 4, 5). Der Anteil von Theobromin in Milchschokolade wird zwischen 0,5 und 2,3 mg/g angegeben. Die LD50 liegt bei 100-200 mg/kg beim Hund, schwere Symptome findet man jedoch bereits bei deutlich tieferen Aufnahmemengen (40-60 mg/kg), leichte Symptome bereits ab 20 mg/kg. Abhängig von der Art der Schokolade (Theobromin-Anteil in Kakaopulver 18-35 mg/kg, dunkle Schokolade 5-8 mg/kg, Milchschokolade 1,5-2 mg/kg) sowie der aufgenommenen Menge können somit unterschiedlich ausgeprägte Symptome einer Schokoladenvergiftung entstehen. Oftmals finden sich schnelle Programme zur Berechnung der aufgenommenen Menge der Schokolade („chocolate toxicity calculator“) auf verschiedenen Homepages den (zum Beispiel: Methylxanthinen, Symptome der Intoxikation sind Hyperaktivität, Tachykardie und Tachyarrhythmie, sowie Anfälle. Durchfall und Erbrechen sowie eine verstärkte Diurese sind ebenfalls beschrieben. Der Theobromin- Nachweis im Serum kann mittels Hochdruckflüssigkeitschromatographie erfolgen (3). Besonderheiten der Therapie bestehen neben der antiarrhythmischen Therapie (z.B. mit Esmolol oder Lidocain) in der Platzierung eines Harnkatheters, um eine Rückresorption der Methylxanthine aus der Blase zu verhindern (2). Daneben gilt es, den Patienten adäquat zu hydrieren. Aktivkohle reduziert die Aufnahme von Theobromin aus dem Magen- Darm-Trakt, auch eine wiederholte Gabe zur Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs ist sinnvoll. Diese Prognose dieser Vergiftung ist bei Dekontamination und symptomatischer Therapie gut (1-5). Literatur http://petsci.co.uk/chocolate-toxicity-calculator-dogs/). Theobromin zählt zu 1. Weingart C, Hartmann A, Kohn B. Chocolate ingestion in dogs: 156 events (2015-2019). J Small Anim Pract 2021; 62: 979- 983. 2. Luiz JA, Heseltine J. Five common toxins ingested by dogs and cats. Compend Contin Educ Vet 2008; 30 (11): 578-87. 3. Stosic A, Ondreka N, Henrich E, Hassdenteufel E, Schneider M. Chocolate intoxication in a dog. Tierärztl Prax Ausg K Kleintiere Heimtiere 2011; 39 (2): 111–115. 4. Cortinovis C, Caloni F. Household food items toxic to dogs and cats. Front Vet Sci 2016; 3:26. 5. Bates N, Rawson-Harris P, Edwards N. Common questions in veterinary toxicology. J Small Anim Pract 2015; 56: 298-306. Kontakt Dr. Esther Haßdenteufel, Klinik für Kleintiere, Innere Medizin, JLU Gießen Esther.Hassdenteufel@vetmed.uni-giessen.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 81

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Intoxikationen durch Süßstoffe (Xylit) bei Kleintieren Romy M. Heilmann Innere Medizin der Kleintiere, Klinik für Kleintiere, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig Zusammenfassung Die Aufnahme des Zuckeraustauschstoffs Xylit, welcher häufig in zuckerfreien Kaugummis, Zahnpflegeprodukten und Backwaren verwendet, kann bei Hunden Dosis-abhängig zu hochgradiger Hypoglykämie, akuter Leberinsuffizienz und erworbener Koagulopathie führen. Bei Katzen gibt es zum Xylit- Metabolismus und möglicher Toxizität nur begrenzt Daten, die darauf hindeuten, dass die Katze deutlich weniger anfällig ist als der Hund. Die Zunahme Xylit-haltiger Produkte für den menschlichen Bedarf oder Konsum hat dazu geführt, dass Hunde zunehmend exponiert sind und die Häufigkeit einer lebensbedrohlichen Toxizität beim Hund zugenommen hat. Da Xylit für den Menschen als unbedenklich gilt, sind sich die Tierbesitzer häufig dem toxischen Potenzial für den Hund nicht bewusst. Eine umgehende intensive Therapie und Überwachung betroffener Hunde erhöhen die Aussicht auf einen positiven Verlauf. Süßstoffe Xylit (oder Xylitol) wird zunehmend als Zuckeraustauschstoff in Kaugummis, Backwaren, Süßspeisen, Getränken, Cerealien, Nahrungsergänzungsmitteln, Zahnpasta und Pflegeprodukten verwendet (1). Natürlicherweise enthalten auch Beeren (z.B. Himbeeren), Obst, Gemüse und Pilze geringe Mengen von Xylit. Bei Menschen gilt die Aufnahme von Xylit als unbedenklich (2), während diese Substanz bei Hunden Dosis- abhängig toxische Wirkungen haben kann (3–5). Nach Aufnahme von ≥0,1 g Xylit/kg Körpergewicht besteht ein hohes Risiko eine Hypoglykämie zu entwickeln und ab ≥0,5 g Xylit/kg Körpergewicht das einer akuten Leberinsuffizienz mit erworbener Koagulopathie (3–7). Dabei scheint besonders die Lebertoxizität idiosynkratisch dosisabhängig zu sein (6,7). Bei der Katze werden möglicherweise deutlich höhere Dosen an Xylit (bis 1,0 g/kg Körpergewicht) ohne Anzeichen einer Toxizität vertragen (8), die Datenlage ist bei der Katze zum aktuellen Zeitpunkt jedoch deutlich geringer, so dass auch bei dieser Spezies eine Toxizität nicht auszuschließen ist. Spezies-spezifische Unterschiede im Xylit-Metabolismus machen den Hund – im Gegensatz zum Menschen – besonders anfällig für eine Toxizität. Innerhalb von etwa ½ Stunde nach Aufnahme sind beim Hund die Höchstspiegel an Xylit im Plasma erreicht (9). Anschließend erfolgen insulinunabhängig die Verstoffwechslung und Umwandlung zu größtenteils Glukose, nur eines Bruchteils zu Laktat, in der Leber. Im Gegensatz zum Menschen folgt dosisabhängig nach Xylit-Aufnahme ein massiver Anstieg des Serum-Insulinspiegels, welcher dessen nach Glukosegabe um ein Vielfaches (3- bis 7-faches) übersteigt (3,10) und zu einer hochgradigen Hypoglykämie indem einerseits zur Energieverarmung der Hepatozyten und andererseits zur Entstehung reaktiver Sauerstoffradikale beiträgt (4,5). Die daraus folgende Lebernekrose kann in einem fulminanten Leberversagen und erworbener Koagulopathie bis hin zur disseminierten intravaskulären Koagulopathie (DIC) münden (4,5). führt. Darüber hinaus wirkt Xylit beim Hund hepatotoxisch, Klinisches Bild Die klinische Symptomatik der Xylit-Toxizität beim Hund stellt sich zunächst mit Vomitus nach der Aufnahme und ab ½–1 Stunde später (mitunter bis zu 12–48 Stunden verzögert) Anzeichen der Hypoglykämie dar. Dazu zählen Apathie, Schwäche, Ataxie, akute Blindheit und Krampfanfälle. Eine Verzögerung des Einsetzens der Hypoglykämie kann dabei auch auf die progressive Leberinsuffizienz zurückzuführen sein. Seltener entsteht eine Hyperglykämie, die aus einer Gegenregulation – ähnlich wie bei Insulinüberdosierung – durch Freisetzung diabetogener Hormone wie endogenem Glukagon, Adrenalin und Cortisol resultieren dürfte. Die blutchemischen Veränderungen beinhalten folglich neben der mittel- bis hochgradigen Hypoglykämie (seltener Hyperglykämie) erhöhte Serum-Leberenzymaktivitäten mit hepatozellulärem Muster (d.h. insbesondere Alanin- und Aspartat-Aminotransferase-Erhöhung) sowie Hyperbilirubinämie (4,5). Auch eine Hypokaliämie und zunächst Hypophosphatämie sind häufig, die Entwicklung einer Hyperphosphatämie ist 82 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ prognostisch relevant (4,5). Veränderungen im Gerinnungsprofil hängen vom jeweiligen Schweregrad der Betroffenheit ab und können hochgradig verlängerte Gerinnungszeiten, gering- bis mittelgradige Thrombozytopenie und weitere Verschiebungen als Ausdruck einer Verbrauchskoagulopathie (DIC) (4,7). In der histologischen Untersuchung der Leber, welche häufig eher postmortale Relevanz hat, zeigen sich Hinweise auf Lebernekrosen mit vakuolärer Degeneration und ausgeprägtem Untergang von Hepatozyten, Auflösung der lobulären Organisation und Cholestase. Therapie und Überwachung Für die Behandlung ist es hilfreich, die aufgenommene Dosis an Xylit abschätzen zu können (z.B. Anzahl an Kaugummis oder Menge an Süßspeise und jeweiliger Xylit-Gehalt des Produkts). Da mitunter jedoch die Menge an Xylit nicht auf dem Etikett angegeben ist, können Schätzwerte herangezogen werden (z.B. 0,3 g Xylit je Stück Kaugummi) veranschlagt werden (6]) Da ab einer Xylit-Aufnahme ab ≥0,1 g/kg Körpergewicht mit einer Hypoglykämie (ab ≥0,5 g/kg Körpergewicht mit akuter Leberinsuffizienz und Koagulopathie) gerechnet werden muss, empfiehlt sich eine stationäre Aufnahme, Behandlung und Überwachung. Eine Dekontamination durch induzierte Emese setzt die Abwesenheit klinischer Konsequenzen voraus und eignet sich daher nur unmittelbar nach der versehentlichen Aufnahme. Der Einsatz von Aktivkohle ist umstritten, da es Xylit nur ungenügend bindet. Da es jedoch sicher ist, wird es klinisch mitunter eingesetzt, wenn größere Mengen an Xylit aufgenommen wurden. Ein spezifisches Antidot gibt es nicht, daher bleibt die symptomatische Therapie. Einer Hypoglykämie sollte zunächst mit einem intravenösen Dextrose-Bolus (1 ml/kg einer 50%igen Dextrose-Lösung, d.h. 0,5 g/kg, diese 1:2 mit einer kristalloiden Lösung verdünnt) begegnet und anschließend eine 2,5%ige oder 5%ige Dextrose- Lösung im Dauertropf infundiert werden. Dabei ist der Blutglukosespiegel weiter engmaschig zu kontrollieren. Auch ohne eine bereits eingetretene Hypoglykämie wird mitunter präemptiv eine intravenöse Dextrose-Gabe in Erwägung gezogen und die Blutglukosekonzentration alle 2–4 Stunden überwacht. Bleibt der Blutglukosespiegel über mindestens 24 Stunden im Normalbereich, kann die Dextrose-Infusion ausgeschlichen oder beendet werden. Kalium und Phosphat müssen ergänzt werden, wenn sich eine Hypokaliämie bzw. mittel- bis hochgradige Hypophosphatämie entwickelt. Hepatoprotektiva und Antioxidantien (N-Acetylcystein, S- Adenosylmethionin, Silymarin und Vitamin E) sollten aufgrund der hepatotoxischen Wirkung von Xylit ebenfalls in Betracht gezogen werden. Auch wenn deren Wirkung bei Xylit-Toxizität nicht bewiesen ist, sind es generell sichere Präparate. Eine erworbene Koagulopathie erfordert die Transfusion entsprechender Blutprodukte (frisches Plasma, gefrorenes Frischplasma oder – insbesondere bei einer Blutung oder Anämie – Vollblut). alle 4–6 Stunden Die Überwachung der Blutglukose bei betroffenen Hunden sollte engmaschig erfolgen, am besten stündlich über 12–24 Stunden bei Aufnahme einer geringeren Xylit-Menge. Dazu sollten Kalium- und Phosphorkonzentration überprüft werden. Hämatokrit, Thrombozytenzahl, Leberenzymaktivitäten, Bilirubinkonzentration und das Gerinnungsprofil sollten mindestens 2- bis 3-mal im Abstand von 24 Stunden kontrolliert werden. Neben der Hypoglykämie und Koagulopathie kann die akute Leberinsuffizienz zu Komplikationen wie hepatische Enzephalopathie, Infektionen, akuten Nierenversagen und akuten Lungenschaden führen. In Anbetracht der Datenlage zur Xylit-Intoxikation bei der Katze, sollte auch bei betroffenen Katzen eine kurzfristige stationäre Überwachung in Betracht gezogen werden. Fazit für die Praxis • • • • Die Aufnahme von Xylit kann bei Hunden zu hochgradiger Hypoglykämie, akuter Leberinsuffizienz (fulminante hepatische Nekrose) und erworbener Koagulopathie führen. Je nach der aufgenommenen Dosis, bedarf es einer umgehenden intensiven Therapie und Überwachung des Hundes, um die bestmögliche individuelle Prognose zu erzielen. Die steigende Frequenz einer Toxizität beim Hund reflektiert die zunehmende Verfügbarkeit Xylit-haltiger Produkte für den menschlichen Bedarf bzw. Konsum. Die von Xylit-haltigen Produkten ausgehende Gefahr für Hunde ist den Besitzern häufig nicht bewusst, insbesondere da die Produkte keine Warnhinweise enthalten. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 83

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ • • Bei Vorstellung eines Hundes mit Hypoglykämie, akuter Leberenzymaktivitäts-Erhöhungen oder Hinweisen auf ein akutes Leberversagen ist differenzialdiagnostisch immer eine Xylit- Toxizität in Betracht zu ziehen. Bei einer transienten, unkomplizierten Hypoglykämie ist die Prognose generell gut, vorsichtig bis schlecht da-gegen bei einer Hepatotoxizität und Entwicklung einer Leberinsuffizienz. Literatur 1. Cronin JR. Xylitol: a sweet for healthy teeth and more. Altern Complement Ther. 2003; 9: 139–141. 2. Asano T, Levitt MD, Goetz FC. Xylitol absorption in healthy men. Diabetes. 1973; 22(4): 279–281. 3. Dunayer EK. Hypoglycemia following canine ingestion of xylitol-containing gum. Vet Hum Toxicol. 2004; 46: 87–88. 4. Dunayer EK, Gwaltney Brant SM. Acute hepatic failure and coagulopathy associated with xylitol ingestion in eight dogs. J 5. Am Vet Med Assoc. 2006; 229(7): 1113–1117. Todd JM, Powell LL. Xylitol intoxication associated with fulminant hepatic failure in a dog. Vet Emerg Crit Care. 2007; 17(3): 286–289. 6. Piscitelli CM, Dunayer EK, Aumann M. Xylitol toxicity in dogs. Compend Contin Educ Vet. 2010; 32(2): E1–4. 7. Murphy LA, Dunayer EK. Xylitol toxicosis in dogs. Vet Clin Small Anim. 2018; 48: 985–990. 8. Jerzsele Á, Karancsi Z, Pászti-Gere E, et al. Effects of p.o. administered xylitol in cats. J Vet Pharmacol Ther. 2018; 41(3): 409–414. 9. Kuzuya T, Kanazawa Y, Kosaka K. Stimulation of insulin secretion by xylitol in dogs. Endocrinology. 1969; 84(2): 200–207. 10. Kuzuya T, Kanazawa Y, Kosaka K. Plasma insulin response to intravenously administered xylitol in dogs. Metabolism. 1966; 15(12): 1149–1152. Kontakt Prof. Dr. Romy M. Heilmann; Klinik für Kleintiere, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig romy.heilmann@kleintierklinik.uni-leipzig.de 84 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Weitere Lebensmittel bedingte Intoxikationen Hermann Ammer Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Ludwig-Maximilians-Universität München Einleitung Aufgrund des geringen öffentlichen Bewusstseins treten vor allem bei Hund und Katze immer wieder schwerwiegende Vergiftungen durch Lebensmittel auf. Neben verdorbenen oder mit Umweltkontaminanten belasteten Lebensmitteln sind vor allem Vergiftungen durch für unsere Haustiere per se unverträgliche Lebensmittelinhalts- und Zusatzstoffe chemischer und pflanzlicher Natur von Bedeutung. Die Vergiftungsbilder sind entweder unspezifisch oder gehen mit typischen Symptomen einher. Im vorliegenden Referat werden die häufigsten Vergiftungen mit ihren Ursachen, Vergiftungsbildern und Behandlungsmöglichkeiten besprochen. Verdorbene und kontaminierte Lebensmittel Vor allem Lebensmittel tierischen Ursprungs können beim Verderb größere Mengen an Histamin enthalten, die nach ihrer Aufnahme Erbrechen, Durchfall und Herz-Kreislaufstörungen hervorrufen. Lebensmittel wie auch Tierfutter können zudem mit spezifischen Infektionserregern belastet sein, die entsprechende Krankheitsbilder auslösen. Kontaminationen von Lebensmitteln mit Mykotoxinen, Schwermetallen und organisch-chemischen Verbindungen sind aufgrund der für Lebensmittel geltenden Grenzwerte selten, es wird jedoch hin und wieder von Vergiftungen mit Arsen, z.B. nach dem Verfüttern von Reis oder nach Aufnahme von Quellwasser mit erhöhten Arsengehalten, berichtet. Unverträgliche Lebensmittel Neben den bereits besprochenen Methylxanthinen und Zuckerersatzstoffen verursachen bei Hund und Katze vor allem Alkohol, Weintrauben, Rosinen, Zwiebel, Knoblauch sowie Wal- und Macadamianüsse teils schwerwiegende Vergiftungen [1]. Ethanol Vergiftungen durch Alkohol werden nach zufälliger Aufnahme von alkoholischen Getränken, rohem Hefeteig und vergorenem Obst beobachtet. Das darin enthaltene Ethanol wird schnell und vollständig aus dem Magen/Darmtrakt resorbiert und löst dosisabhängig wie beim Menschen auch einen Rauschzustand aus. Dieser geht mit zentralnervösen Erscheinungen wie initiale Erregung mit nachfolgender Depression, Ataxie, Lethargie, Sedation und Narkose inher. Der Tod stellt sich durch Atemlähmung ein. Bei kalter Außentemperatur können die Tiere erfrieren. Durch Metabolisierung in Essigsäure bildet sich zeitversetzt eine metabolische Azidose aus. Bei Aufnahme von Hefeteig oder vergorenem Obst kann zudem ein aufgeblähtes und schmerzhaftes Abdomen beobachtet werden. Die Diagnose wird nach Anamnese und Symptomatik gestellt. Der Nachweis von Ethanol im Blut bzw. Azetaldehyd in der Atemluft ist möglich. Für die Therapie steht kein spezifisches Antidot zur Verfügung, die Behandlung ist daher ausschließlich symptomatisch. Eine Resorptionshemmung mit Carbo medicinalis oder Ausscheidungsbeschleunigung mittels forcierter Diurese ist erfolglos. Bei hypnotischen oder komatösen Tieren soll kein Erbrechen ausgelöst werden. Aufgrund der Metabolisierung von Ethanol in Azetaldehyd und nachfolgend Essigsäure in der Größenordnung von 1 Promille pro Stunde bilden sich die Symptome zeitabhängig zurück. In schweren Fällen ist eine Hämodialyse angezeigt. Zwiebelgewächse Bärlauch, Knoblauch, Schnittlauch und die gemeine Zwiebel sind frisch und getrocknet häufiger Bestandteil von Lebensmitteln. Sie enthalten schwefelhaltige nicht-proteinogene Aminosäuren, die durch Erhitzen und Trocknen nicht zerstört werden und nach enteraler Resorption oxidative Veränderungen des Hämoglobins und eine hämolytische Anämie verursachen. In der Literatur werden für die Küchenzwiebel toxische Mengen von 5 (Katze) bzw. 15 – 30 (Hund) g/kg KGW angegeben. Als maximal verträgliche Mengen an Knoblauch wurden für Hund und Katze ca. 16 – 24 g/Tier genannt. Die klinischen Erscheinungen treten mit einer Latenz von ein 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 85

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ bis mehrere Tage auf und gehen mit Vomitus, Diarrhoe, Abdominalschmerzen, Inappetenz, Depression, Anämie mit Schwäche, blassen Schleimhäuten, Tachypnoe, Tachykardie sowie Ikterus und Hämoglobinurie einher. Beim Hund kann Blutdruckabfall, bei der Katze Polydipsie beobachtet werden. Die Diagnose wird aufgrund der Symptomatik in Verbindung mit dem Auftreten einer hämolytischen Anämie und evtl. Methämoglobinbildung gestellt. Heinz-Körperchen in Erythrozyten sind charakteristisch für eine Vergiftung mit Knoblauch. Die Therapie ist ausschließlich symptomatisch. Bei starker Anämie ist eine Bluttransfusion angezeigt. Weintrauben und getrocknete Folgeprodukte Weintrauben, Rosinen und Trester sind vor allem für Hunde stark giftig. Sie enthalten Glukose und Fruktose als auch Oxalsäure. Als toxische Dosen werden 10 – 30 g Weintrauben bzw. 3 g Rosinen/kg KGW beschrieben, die beim Hund zum Nierenversagen führen können. Als Ursachen werden entweder eine regelmäßig zu beobachtende Hyperkalzämie oder eine idiosynkratische nephrotoxische Reaktion genannt, die mit einem hypovolämischen Schock und renaler Ischämie einhergeht. Innerhalb eines Tages entwickeln sich Erbrechen, Lethargie und Abdominalschmerzen. Ein bis drei Tage nach der Aufnahme kann es zum Nierenversagen mit Oligurie oder Anurie kommen, an dem die Tiere versterben können. Die Symptome gehen mit einer Azotämie, stark erhöhten Harnstoff- und Kreatininwerten sowie einer Hyperkalzämie und Hyperphosphatämie einher. Aufgrund einer individuell unterschiedlichen Empfindlichkeit von Hunden ist jede Aufnahme von Weintrauben und Folgeprodukten als Notfall anzusehen. Die Therapie ist symptomatisch und sollte umgehende eine Resorptionshemmung mittels Auslösung von Erbrechen und wiederholter Verabreichung von Carbo medicinalis umfassen, ebenso wie eine aggressive Infusionstherapie über 2 – 3 Tage mit Überwachung der Nierenfunktion [2]. Hopfen Hopfen wird zur Bierherstellung verwendet und ist vor allem für Windhunde und Golden Retriever stark giftig. Die verantwortlichen Inhaltsstoffe sind nach wie vor unbekannt, sie lösen bei den genannten Hunderassen nach Resorption eine maligne Hyperthermie durch Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung aus. Diese ist gekennzeichnet durch eine rasche Erhöhung der Körpertemperatur innerhalb von wenigen Minuten bis auf Werte größer 41°C, Tachykardie, Hecheln/Tachypnoe, zentrale Krampfanfälle und Tod. Neben einer symptomatischen Notfalltherapie kann das myotrope Muskelrelaxans Dantrolen eingesetzt werden. Walnüsse Walnüsse stellen nach Pilzbefall stark giftige Lebensmittel dar. Penitrem A ist ein tremorgenes Mykotoxin, das über die Beeinflussung inhibitorischer und exzitatorischer Neurotransmitter bei allen Spezies Tremor und zentrale Krämpfe auslösen kann. Beim Hund werden wenige angeschimmelte Walnüsse als toxisch beschrieben. Nach einer Latenz von einigen Stunden stellen sich Salivation, Vomitus, Schwäche, Ataxie, Hyperthermie, Tremor und tonisch-klonische Krämpfe ein, die mit Hyperästhesie, Geräuschempfindlichkeit, Mydriasis und Nystagmus einhergehen. Tachypnoe und Tachykardie kann ebenfalls beobachtet werden. Die Tiere erholen sich nach 1 bis 2 Tagen. Die Therapie ist symptomatisch. Krämpfe können mit Diazepam beherrscht werden. In schweren Fällen ist eine Narkose mit Propofol angezeigt. Macadamia Macadamianüsse enthalten die schwach giftigen zyanogenen Glykoside Proteacin und Durrin, die durch kurzzeitiges Erhitzen zerstört werden. Rohe bzw. nicht ausreichend hitzebehandelte Nüsse sind für den Hund toxisch. Als minimale toxische Dosis werden in der Literatur 0,7 g/kg KGW rohe Nüsse mitgeteilt. Diese führen zu Depression, Vomitus, Ataxie, Tremor, Hyperthermie bis 40.5°C, Abdominalschmerzen, Lahmheit vor allem der Hinterhand, Steifheit, Seitenlage und blasse Schleimhäute. Die Vergiftungserscheinungen stellen sich innerhalb von 12 Stunden nach der Aufnahme ein. Die Tiere erholen sich in der Regel spontan nach ein bis 2 Tagen. Die Symptome gehen mit einer leichten Erhöhung der Lipidase, Triglyzeride und der Alkalischen Phosphatase einher. Die Therapie ist symptomatisch. 86 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Toxikologie ___________________________________________________________________________________________________________ Ausblick Mit der geplanten Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken wird künftig eine weitere „Lebensmittel- bedingte“ Vergiftung bei Kleintieren in den Fokus rücken, die durch Haschcookies. Die minimale letale Dosis von Tetrahydrocannabinol wird beim Hund mit 3 g/kg KGW mitgeteilt. Im Vordergrund stehen zentralnervöse Störungen mit Apathie, ZNS-Depression, Ataxie, Vomitus, Hyperästhesie, Mydriasis, Salivation und Bradykardie. Es kann aber Agitation, Aggression, Bradypnoe, Tachykardie und Nystagmus auftreten. In seltenen Fällen werden zentrale Krämpfe und Koma beobachtet. Die Morbitidät ist hoch, die Mortalität niedrig. THC kann im Blut nachgewiesen werden. Als Therapie kommt eine Dekontamination mit wiederholter Gabe von Carbo medicinalis bei asymptomatischen Patienten in Frage. Bei schweren neurologischen Symptomen wird neben der Stabilisierung der Herz/Kreislauffunktion eine Lipidinfusion zur Dekontamination empfohlen. Literatur 1. 2. Cortinovis C, Caloni F. Household Food Items Toxic to Dogs and Cats. Front Vet Sci. 2016 Mar 22;3:26. doi: 10.3389/fvets.2016.00026. PMID: 27047944; PMCID: PMC4801869. Croft R, Clementi E, Farmer H, Whalley R, Dunning M, Firth A. Retrospective evaluation of Vitis vinifera ingestion in dogs presented to emergency clinics in the UK (2012-2016): 606 Cases. J Vet Emerg Crit Care (San Antonio). 2021 Jan;31(1):74-79. doi: 10.1111/vec.13025. Epub 2020 Oct 31. PMID: 33128493. Kontakt Prof. Dr. Hermann Ammer; Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Ludwig-Maximilians- Universität München h.ammer@lmu.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 87

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Änderungen im Lebensmittelhygienerecht (EU/national) Edwin Ernst Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg Änderungen im Lebensmittelhygienerecht (EU/national) Die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprung werden immer wieder weiterentwickelt und angepasst. Die letzten größeren Änderungen betrafen mit der Verordnung (EU) 2021/1374 z. B. die Einführung der Regelungen zur Schlachtung von Rindern, Pferden und Schweinen im Herkunftsbetrieb, die in Deutschland auf besonderes Interesse stieß. Mit der Verordnung (EU) 2022/2258 wurde weitere Änderungen beschlossen, die z. B. Fischereierzeugnisse (Transport von ganzen und ausgenommenen Fischen in isolierten Polyethylenbehältern mit Eiswasser) und die Verlängerung der Abgabefrist für frische Eier betrafen. Weitere Änderungen sind in Vorbereitung (Stand September 2023). Diese betreffen z. B. erste Änderungen bei den 2021 beschlossenen Regelungen zur Schlachtung im Herkunftsbetrieb. Auch bei der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 mit mikrobiologischen Kriterien werden aktuell (September 2023) werden vor dem Hintergrund einiger EUGH-Urteile Änderungen bei den Salmonella-Kriterien für frisches Geflügelfleisch sowie für verzehrfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von L. monocytogens begünstigen können, beraten. Diese Änderungen machen in einigen Fällen Folgeänderungen der nationalen Hygienevorschriften erforderlich. Mit dem Vortrag soll ein Überblick über die jüngsten und einige anstehende Änderungen berichtet werden. Darüber hinaus wird aus der LAV-AG „AFFL“ zu einschlägigen Beschlüssen zur Auslegung und Umsetzung der Hygienevorschriften berichtet. Kontakt Dr. Edwin Ernst; Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, Stuttgart edwin.ernst@mlr.bwl.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 89

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Listeria monocytogenes-Ausbruchsmanagement neu gedacht für Department Veterinärmedizinische Lebensmittelmikrobiologie, Martin Wagner1,2, Werner Ruppitsch3, Adriane Pietzka3, Beatrix Stessl1 1Abteilung Öffentliches Veterinärgesundheitswesen, für Lebensmittelsicherheit, Technologie- und Forschungszentrum 1D, Tulln; 3Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, Spargelfeldstraße 191, 1220 Wien. Die Problemstellung 2Kompetenzzentrum Universität Wien; Nutztiere für und Die Inzidenz der humanen Listeriose steigt in der EU-27, wobei die treibenden Faktoren weitgehend unklar sind. Die zunehmende Zahl älterer Menschen (>64 Jahre) wurde als ein Faktor von hoher Wahrscheinlichkeit identifiziert (EFSA, 2020). Eine Risikobewertung der EFSA ergab, dass in der EU jährlich mehr als 50 Millionen Portionen verzehrt werden, die mit L. monocytogenes (>log 5 koloniebildende Einheiten-KBE) kontaminiert sind, und dass dem mehr als 2000 gemeldete Krankheitsfälle gegenüberstehen. Diese Erkenntnisse rücken die Effizienz der eigenen Immunabwehr in das Zentrum der Überlegungen, wobei die infektiöse Dosis von L. monocytogenes bei immunkompetenten Personen sehr hoch ist. Dennoch kommt es zu Ausbrüchen, die sowohl die VerbraucherInnen als auch die lebensmittelproduzierende Industrie betreffen und in der Regel schwerwiegende Konsequenzen haben. Diese umfassen Produktrückrufe, interne Sperren, Verlust an Reputation, behördliche Interventionen und im „worst case“ strafrechtliche Belangungen (Stessl et al., 2022). Das Listeria monocytogenes trotz niedriger Pathogenität als relevanter (und gesetzlich stark regulierter) Keim eingestuft wird, hängt mit der Schwere der Infektion und der bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit an die modernen Bedingungen der Lebensmittelproduktion zusammen, da sich dieses Bakterium gut an intrinsische und extrinsische Faktoren (zum Beispiel Kühlhaltung) anpassen kann (Tasara und Stephan, 2006). Aufgrund dieser Eigenschaft sind Listerien in der Lebensmittelproduktion weit verbreitet, insbesondere ist die Listeria Prävalenz höher in den Lebensmittelkategorien Fisch und Fischprodukte sowie Fleisch und Fleischprodukte (EFSA, 2018; Lourenco et al., 2022). Vor allem in den letzten Jahren wurden jedoch eine Reihe von Lebensmittel mit Listerioseausbrüchen assoziiert, die nicht dem klassischen Bild von Vektoren entsprachen, wie z.B. tiefgefrorene Gemüsemischungen, karamellisierte Äpfel, geschnittene Melonen, Salate etc. Detaillierte Analysen ergaben, dass die Ausbrüche häufig auf technologische Faktoren zurückzuführen waren, wie z. B. die Verwendung von tiefgefrorenem Gemüse ohne Erhitzungsschritt, als Smoothie oder Topping oder das Aufschneiden einer Frucht, die eigentlich durch eine intakte Schale geschützt war (wie im Fall des Melonenausbruchs) (Buchanan et al., 2017;). Diese für einen lebensmittelassoziierten Keim ungewöhnliche Breite an Übertragungsmöglichkeiten deutet auf die Besiedelung von Betriebsumfelder als Hauptproblem hin, wobei die Problemausdehnung auch den Hauptansatzpunkt der Bekämpfung impliziert (Mazaheri et al., 2021; Wagner und Stessl, 2021). Schlussendlich ist die Wahrscheinlichkeit eines Listerioseausbruchs, das Produkt aus Prävalenz, Wachstumswahrscheinlichkeit, technologischer Effizienz, Expositionsfaktoren, und der Fitness in der exponierten Kohorte (Tabelle 1). Da auf allen Ebenen dieser Wirkungskaskade Veränderungen möglich sind und Faktoren wie die alternde Bevölkerung, Verzehr exotischer Lebensmittel und die Reduktion der risikosteigernd wirken, werden uns Listerien als Lebensmitteltechnologie lebensmittelassoziierte Zukunft beschäftigen (https://www.fooddrinkeurope.eu/europe-targets-greenwashing-and-eco-labelling-for-food/). Mikroorganismen labelling“) eher pathogene („Green auch in 90 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Tabelle 1 Faktor Prävalenz Wachstum und Technologieeffizienz Expositions- wahrscheinlichkeit Fitness Risikosteigernde Effekte Hygienisch ineffizientes Rohstoffmanagement, alte, schlecht strukturierte Betriebe, mangelhaftes HACCP, ineffiziente Hygiene, meist schwache Betriebsführung Förderndes physikalisch-chemisches Profil des Lebensmittels, Stammanpassungen durch Selektion, lange Haltbarkeit Hohe Prävalenz, häufig konsumierte LM, exotische Lebensmittel, schlecht überwachte Lebensmittelsysteme, mangelhafte Zubereitung, niedriges Hygienebewusstsein bei den KonsumentInnen Hoher Anteil an Bevölkerung, die eine eingeschränkte Immunabwehr besitzen Risikovermindernde Effekte Gut kontrollierter Rohstoffeinkauf, gutes Betriebsmanagement, optimiertes „Hygienic Design“, effiziente Hygiene Effiziente Haltbarmachung und Konservierung, intakte Kühlkette Niedrige Prävalenz, dekontaminierende Prozess- und Zubereitungsschritte, gute Küchenhygiene Ausbruchssituation in Österreich Auch in Österreich hat sich die Inzidenz der Listeriose in etwa verdoppelt (von durchschnittlich 0,2/ 100.000 vor 2008, auf 0,4/100.000 2010-2020 (Zangerl et al., 2021). Die meisten Fälle sind sporadischer Natur und können keiner eindeutigen Lebensmittelquelle zugeordnet werden. Ausbrüche sind selten, in der Regel handelt es sich um kleinere Ausbrüche (< 10 Erkrankte). So wurden bis dato ausschließlich Fleisch- und Milchverarbeiter mit Listeriose-Fällen in Österreich in Verbindung gebracht. Ausgehend von einem größeren Ausbruch (35 Krankheitsfälle) 2009/2010, dessen Quelle Sauermilchkäse war, hat sich das Listerienmanagement in Österreich deutlich verbessert (https://www.ages.at/mensch/krankheit/krankheitserreger-von-a-bis-z/listerien). Neue Wege des Listerienmanagements in Österreich Wie alle Strukturen unterliegen auch die Managementaufgaben im Bereich der öffentlichen Gesundheit Entwicklungen, die in der Regel durch technische Innovationen geprägt werden. Eine solche Entwicklung war die Einführung der Hochdurchsatz-Sequenzierung, die die Analyse der Genome multipler pathogener Mikroorganismen ermöglicht. Seit 2015 werden alle eingesendeten Humanisolate von der Agentur für Ernährungssicherheit (AGES) sequenziert und Cluster sofort den zuständigen Behörden gemeldet. Gleichzeitig besteht im Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz (LMSVG) eine Pflicht zur Einsendung von Isolaten für alle Labore, die in Österreich Lebensmittel auf Listerien untersuchen. Diese umfasst Isolate von Lebensmitteln, von Kontaktflächen und auch von Nichtkontaktflächen. Weiters ist festgelegt, dass die Isolate innerhalb von 2 Tagen an das NRL zu übersenden sind. Diese Isolate werden ebenfalls bei der AGES gesammelt und sequenziert (https://www.ages.at/ages/referenzzentralen-labors/nationale-referenzzentrale- fuer-listeriose/page). Somit im Ausbruchsfall sichergestellt, dass die Ausbruchsklone mit den Lebensmittelklonen verglichen werden können (Cabal et al., 2019; Ruppitsch et al., 2015). Es ist es daher heute kaum vorstellbar, dass größere Ausbrüche in Österreich nicht auf die Verursacher zurückgeführt werden können. ist Da diese Tätigkeit seit Jahren gepflegt wird, existiert in der Zwischenzeit ein enormer „Schatz“ an gespeicherten Sequenzen, der auch für zeitlich retrograde Ausbruchsuntersuchungen genutzt werden kann. So können Kontaminationen vergangenen Ausbruchsepisoden zugeordnet werden, obwohl kein aktuelles Ausbruchsgeschehen damit verbunden ist. Es stellt sich die Frage, wie mit Betrieben umzugehen ist, die mit 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 91

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ einem zeitlich zurückliegenden Ausbruchsgeschehen in Verbindung gebracht werden, z.B. durch eine L. monocytogenes positive Probe aus dem Abflusssystem. Die behördlichen Eingriffsmöglichkeiten erweisen sich oft als schwierig, der Kenntnisstand der meist kleinen Betriebe lässt ein erfolgreiches Management des Kontaminationsgeschehens nicht erwarten. Wichtig sind in diesen Fällen „viri probati et feminae probatae“, neutrale ExpertInnen, die diese Lücke mit ihrer Fachexpertise und Erfahrung füllen können, und von beiden Seiten, der Behörde wie der Wirtschaft, anerkannt sind. Diese und ähnliche mit dem Listeriose-Management verbundene Fragen werden in der Unterkommission Hygiene des Österreichischen Codex Alimentarius besprochen, in der alle involvierten Verkehrskreise - von der Landwirtschaft über die Wirtschaft bis hin zu VerterterInnen des Konsumentenschutzes – partizipieren (https://www.verbrauchergesundheit.gv.at/Lebensmittel/buch/codex/kommission/mitglieder.html). Die Genom-Sequenzen haben einen hohen wissenschaftlichen Stellenwert, da sie für zeitliche Vergleichsstudien oder der Suche nach Biomarkern genutzt werden können. So werden in einem von HORIZON Europe geförderten Projekt (in Zusammenarbeit von FFoQSI mit der AGES) Biomarker gesucht, die das Persistenz-Phänomen bei Listerien besser charakterisieren können (https://ffoqsi.at/index.php/de-de; https://cordis.europa.eu/project/id/101060698). Da aus den Sequenzen auch die Genotypen (klonalen Komplexe) abgeleitet werden können, wird diese Information seitens der AGES interessierten Betrieben zur Verfügung gestellt. Für die Betriebe ist die Information insofern relevant, als sie ableiten können, ob sie es mit einem persistierenden „Hausklon“ zu tun haben, der trotz Hygienebestrebungen in einer Nische überlebt, oder ob es sich um transiente Klone handelt, die meist über Rohware eingeschleppt werden. Dies ist letztlich wichtig, da die innerbetrieblichen Abwehrmaßnahmen auf die Übertragungswege angepasst werden müssen (Carpentier und Cerf, 2010; Stessl et al., 2020). Begleitet werden die behördlichen Maßnahmen durch das Österreichische Listerienmonitoring, das den Betrieben seitens der Vetmeduni angeboten wird. In diesem gut nachgefragten Programm werden mit einer hochsensitiven Methode große Probenvolumina analysiert, die häufig zu den Produktionshilfsstoffen zählen, und möglichst einen guten Beprobungsquerschnitt über die Charge abbilden sollen (z.B. Käseschmiere, Käsewaschwasser, Slicerstaub etc., (Wagner und Stessl, 2021; Zangerl et al., 2021). „Public Health Burden“ zu Dieser Ansatz erhöht die Aussagesicherheit, da pathogene Mikroorganismen in der Regel nicht normalverteilt in einem Lebensmittel vorkommen, und die Ansätze der VO (EG) 2073 (Probenvolumina von 5x 25g) darauf abzielen, den reduzieren, aber nicht ausreichen, verschleppungsminimierende Konzepte zu implementieren. Die Befunde werden so schnell wie möglich ermittelt und die Betriebe im Falle einer Problematik durch Expertise und den Einsatz moderner Mittel vor Ort unterstützt. Der Ansatz wirkt präventiv, da er den Betrieben vor Eintritt einer rechtlich unzulässigen Situation einen Hinweis auf eine sich anbahnende Kontaminationsepisode gibt und damit das „Window of Response“ vergrößert. So können Betriebe gegebenenfalls Rohstoffe auslisten, Reinigungsabläufe intensivieren, oder bei L. monocytogenes kontaminierter Ware diese vor Auslieferung sperren und vernichten. Literatur 1. 2. 3. 4. Buchanan RL, Gorris LG, Hayman MM, Jackson TC., Whiting RC. A review of Listeria monocytogenes: An update on outbreaks, virulence, dose-response, ecology, and risk assessments. Food control, 2017;75:1- 13. https://www.cdc.gov/foodsafety/outbreaks/lists/index.html; https://www.ecdc.europa.eu/en/listeriosis/threats-and-outbreaks Cabal A, Pietzka A, Huhulescu S, Allerberger F, Ruppitsch W, Schmid D. Isolate-based surveillance of Listeria monocytogenes by whole genome sequencing in Austria. Front Microbiol., 2019;10: 2282. Carpentier B, Cerf O. Persistence of Listeria monocytogenes in food industry equipment and premises. Int. J Food Microbiol., 2011,145(1): 1-8. EFSA BIOHAZ Panel (EFSA Panel on Biological Hazards), Ricci A, Allende A,Bolton D, Chemaly M, Davies R, Fernandez Escamez PS, Girones R, Herman L, Koutsoumanis K,Nørrung B, Robertson L, Ru G, Sanaa M, Simmons M, Skandamis P, Snary E, Speybroeck N, Ter Kuile B,Threlfall J, Wahlstrom H, Takkinen J, Wagner M, Arcella D, Da Silva Felicio MT, Georgiadis M, Messens Wand Lindqvist R, 2018. 92 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Scientific Opinion on the Listeria monocytogenes contamination of ready-to-eat foods and the risk for human health in the EU. EFSA J. 2018;16(1):5134, 173 pp. https://doi.org/10.2903/j.efsa.2018.5134 EFSA and ECDC (European Food Safety Authority and European Centre for Disease Prevention and Control), The European Union One Health 2020 Zoonoses Report. EFSA J. 2021;19(12):6971, 324pp. https://doi.org/10.2903/j.efsa.2021.6971 Lourenco A, Linke K, Wagner M, Stessl B. The saprophytic lifestyle of Listeria monocytogenes and entry into the food-processing environment. Front. Microbiol., 2022; 13:789801. Mazaheri T, Cervantes-Huamán BR, Bermúdez-Capdevila M, Ripolles-Avila C,Rodríguez-Jerez JJ. Listeria monocytogenes biofilms in the food industry: is the current hygiene program sufficient to combat the persistence of the pathogen? Microorganisms, 2021; 9(1):181. Ruppitsch W, Pietzka A, Prior K, Bletz S, Fernandez HL, Allerberger F, Harmsen D, Mellmann A. Defining and evaluating a core genome multilocus sequence typing scheme for whole-genome sequence-based typing of Listeria monocytogenes. J. Clin. Microbiol. 2015;53: 2869-76. Stessl B, Szakmary-Brändle K, Vorberg U, Schoder D, Wagner M. Temporal analysis of the Listeria monocytogenes population structure in floor drains during reconstruction and expansion of a meat processing plant. Int. J. Food Microbiol., 2020;314:108360. Stessl B, Ruppitsch W, Wagner M. Listeria monocytogenes post-outbreak management-When could a food production be considered under control again? Int. J. Food Microbiol., 2022;379:109844. Tasara T., Stephan R. Cold stress tolerance of Listeria monocytogenes: a review of molecular adaptive mechanisms and food safety implications. J. Food Prot., 2006;69(6): 1473-1484. Wagner M, Stessl B. Sampling the food-processing environment: taking up the cudgel for preventive quality management in food processing (FP). Listeria monocytogenes: Methods and Protocols, 2021, pp. 233. Zangerl P, Schoder D, Eliskases-Lechner F, Zangana A, Frohner E, Stessl B, Wagner M. Monitoring by a sensitive liquid-based sampling strategy reveals a considerable reduction of Listeria monocytogenes in smeared cheese production over 10 years of testing in Austria. Foods, 2021; 10(9): 1977. Kontakt Prof. Dr. Martin Wagner; Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie, Department für Nutztiere und Öffentliches Veterinärgesundheitswesen, Veterinärmedizinische Universität Wien 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 93

Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Ultra-Processed Foods – die schwarzen Schafe der menschlichen Ernährung? Gabriele I. Stangl Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gekennzeichnet. Durch Die letzten 50 Jahre waren von starken Veränderungen in der globalen Nahrungsmittelproduktion und den verbesserte Ernährungsgewohnheiten Produktionspraktiken hat sich zwar die Prävalenz von Unterernährung weltweit verringert, allerdings sind Übergewicht und Erkrankungen, welche aus einer ungesunden Ernährung resultieren, deutlich häufiger geworden. Weltweit werden 20 bis 25 % aller vorzeitigen Todesfälle bei Erwachsenen mit einer unausgewogenen Ernährung in Verbindung gebracht (1). gesteigerte Ernteerträge und Angesichts dieser offenkundigen Ernährungsprobleme haben die Vereinten Nationen die Jahre 2016 bis 2025 zur Dekade der Ernährung erklärt und verschiedene Initiativen ins Leben gerufen. Damit diese Initiativen erfolgreich sind, braucht es Kenntnisse darüber, welche Lebensmittel zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen und welche ungesund sind. Im Kontext von Gesundheit und Nachhaltigkeit wird der pflanzenbasierten Ernährung ein hoher Stellenwert beigemessen. Diesen Trend hat auch die Lebensmittelindustrie aufgegriffen und wirft aktuell eine Fülle an veganen und vegetarischen Produkten auf den Markt. Allerdings ist es deutlich zu kurz gegriffen, den Gesundheitswert von Lebensmitteln nur auf der Basis ihrer pflanzlichen oder tierischen Rohstoffe festzumachen. Ein derzeit sehr häufig diskutiertes Konzept zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln ist die NOVA-Klassifikation. Diese stellt den Verarbeitungsgrad in den Mittelpunkt der gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln. NOVA unterteilt die Lebensmittel in vier Kategorien (siehe Abb 1). Abb. 1 NOVA-Klassifikation. NOVA unterteilt die Lebensmittel hinsichtlich ihres Verarbeitungsgrades in vier verschiedene Gruppen. Vor allem der Konsum von hochverarbeiteten (ultraprozessierten) Lebensmitteln aus Gruppe 4 wird in Beobachtungsstudien mit Übergewicht und übergewichtsbedingten Erkrankungen in Verbindung gebracht (2- 4). Intensiv verarbeitete Lebensmittel bestehen oftmals aus billigen industriellen Energie- und Nährstoffquellen sowie Zusatzstoffen; sie sind häufig äußerst energiereich, arm an essenziellen Nährstoffen, enthalten zudem meistens ernährungsphysiologisch ungünstige Fettarten (gesättigte Fette, trans-Fettsäuren), raffinierte Stärke, 94 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ freie Zucker und Salz und sind schlechte Quellen für Proteine, Ballaststoffe und Mikronährstoffe. Hochverarbeitete Lebensmittelprodukte dominieren heute die Lebensmittelversorgung in Ländern mit hohem Einkommen, werden aber auch in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen immer häufiger konsumiert. Streng genommen fallen auch viele pflanzenbasierte Lebensmitteln in die Kategorie der hochverarbeiteten Produkte. In einigen wenigen Studien hat man daher vegane und vegetarische Fleischersatzprodukte mit der Zusammensetzung klassischer Fleischprodukte verglichen. In einer Übersichtsarbeit, in der elf Studien zum Ernährungsprofil von pflanzlichen Fleischersatzprodukten ausgewertet wurden, zeigte sich, dass Fleischersatzprodukte zwar weniger Energie und mehr Ballaststoffe aufweisen als vergleichbare Fleischprodukte, jedoch hatten sie ähnlich hohe Gehalte an Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz (5). In einer an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Jahr 2023 durchgeführten Arbeit, in der etwa 300 kommerziell erhältliche Fleisch- und Fleischersatzprodukte verglichen wurden, konnte festgestellt werden, dass aktuell erhältliche Fleischersatzprodukte zwar deutlich weniger gesättigte Fettsäuren aufwiesen als vergleichbare Fleischprodukte, jedoch war ihr Zuckergehalt höher und der Salzgehalt vergleichbar (6). Zudem war erkennbar, dass die Zutatenliste von Fleischersatzprodukten deutlich länger ausfiel als die der Fleischprodukte. Daraus ließ sich jedoch nicht unbedingt eine ernährungsphysiologisch schlechtere Qualität ableiten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass pflanzenbasierte Lebensmittel nicht zwangsläufig als insbesondere, wenn sie einen sehr hohen gesundheitlich vorteilhafter beurteilt werden können, Verarbeitungsgrad aufweisen. Zum Wohl der menschlichen Gesundheit sollte die künftige Entwicklung von verarbeiteten pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln deutlich stärker als bisher den Prozessierungsgrad bzw. die Art der zugesetzten Zutaten ins Visier nehmen. Es muss der Anspruch sein, nicht nur tierische Rohstoffe durch pflanzliche zu ersetzen, sondern ernährungsphysiologisch hochwertige Inhaltsstoffe zugunsten von billigen und gesundheitlich problematischen Zutaten einzusetzen. Literatur 2021 Global Nutrition Report: The state of global nutrition. Bristol, UK (2021): Development Initiatives 1. 2. Askari M, Heshmati J, Shahinfar H et al. Ultra-processed food and the risk of overweight and obesity: a systematic review and meta-analysis of observational studies. Int J Obes (Lond). 2020;44(10):2080-91. 3. Canhada SL, Luft VC, Giatti L, et al. Ultra-processed foods, incident overweight and obesity, and longitudinal changes in weight and waist circumference: the Brazilian Longitudinal Study of Adult Health (ELSA-Brasil). Public Health Nutr. 2020;23(6):1076-86. Liberali R, Kupek E, Altenburg de Assis MA. Dietary patterns and childhood obesity risk: a systematic review. Child Obes. 2020;16(2):70-85. 4. 5. Romão B, Botelho RBA, Torres ML et al. Nutritional Profile of Commercialized Plant-Based Meat: An Integrative Review 6. with a Systematic Approach. Foods. 2023;12(3):448. Fiedler C. Die Zukunft des Fleischkonsums - Eine vergleichende Analyse von Fleischersatzprodukten und Fleischprodukten. Bachelorarbeit (2023) Kontakt Prof. Dr. Gabriele I. Stangl; Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg, Halle (Saale) gabriele.stangl@landw.uni-halle.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 95

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Schlafende Bakterien - Herausforderungen durch bakterielle Ruhephasen für Hygiene und Lebensmittelsicherheit Patrick Mester Institut für Lebensmittelsicherheit, Lebensmitteltechnologie und öffentliches Gesundheitswesen in der Veterinärmedizin, Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie, Wien, Österreich; FFoQSI—Austrian Competence Centre for Feed and Food Quality, Safety & Innovation, Technopark 1D, Tulln, Österreich Bakterielle Ruhephasen ermöglichen das Überleben unter Stressbedingungen Um die Lebensfähigkeit unter ständig ändernden Umweltbedingungen zu erhalten oder Stresssituationen zu überdauern, haben Bakterien verschiedene Überlebensstrategien entwickelt. Bei einer Antibiotikatherapie oder der Einwirkung von Bioziden können Bakterien eine breite Palette von grundlegend unterschiedlichen Mechanismen einzusetzen, wobei die Antibiotikaresistenz (AMR) die bekannteste und am besten untersuchte. Während es bereits weitrechende Bemühungen gibt die weitere Verbreitung und Entwicklung von AMR zu verhindern, wurden andere wichtige bakterielle Überlebensstrategien vernachlässigt, obwohl sie im Zusammenhang der Lebensmittelsicherheit und Resistenzentwicklung wichtig sind. Neben „Resistenz“ sind vor allem "Toleranz", "Persistenz durch Dormancy" und "lebensfähig, aber nicht kultivierbar (viable but non- culturable / VBNC)" zu nennen und in Abb. 1 sind die wichtigsten Merkmale jeder der aufgeführt (1). Abb 1: Schlüsselbegriffe der Klassifizierung des bakteriellen Überlebens in Gegenwart von antimikrobiellen Mitteln (1). Resistenz ist ein hochspezifischer Mechanismus, der nicht nur das Überleben, sondern auch das tatsächliche Wachstum in Gegenwart eines bestimmten antimikrobiellen Mittels ermöglicht. Im Gegensatz zeichnen sich Toleranz, Persistenz und VBNC durch eine bakterielle Ruhephase aus und sind eher unspezifische Überlebensstrategie von Bakterienzellen/-populationen, welche ein Überleben der Zellen ermöglichen ohne dabei resistent zu werden (1,2). Die erste Beschreibung des Persistenz-Phänomens stammt aus dem Jahr 1942, als eine Subpopulation (<1 %) von Staphylococcus (S.) aureus beschrieben wurde, welche die Behandlung mit Penicillin überlebte, obwohl sie für das Medikament weiter empfänglich war (3). Heute wird Antibiotikapersistenz definiert als "ein Phänomen auf Populationsebene…, die auf das Vorhandensein zweier Subpopulationen hinweisen, nämlich Zellen, die durch das Antibiotikum schnell abgetötet werden, und tolerante Zellen, die überleben können", und der wichtigste zugrunde liegende Mechanismus ist das Vorhandensein ruhender Zellen, die "lebensfähig sind, aber trotz wachstumsfördernder Umweltbedingungen nicht wachsen" (2). Ein weiterer Phänotyp von Zellen die lebensfähig sind, aber trotz wachstumsfördernder Umweltbedingungen nicht wachsen ist der VBNC-Zustand. Dieser ist meist eine Reaktion auf Stressbedingungen und wurde 96 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ erstmals 1982 für Vibrio (V.) cholerae beschrieben (4). Der VBNC-Zustand kann durch Umweltfaktoren wie Nährstoffmangel, Temperaturschwankungen, UV-Strahlung oder Exposition von Antibiotika und Desinfektionsmitteln hervorgerufen werden. VBNC-Zellen weisen sowohl eine veränderte Morphologie als auch Physiologie auf und um wieder zu wachsen, benötigen sie entweder eine längere Erholungsphase unter stabilen Umweltbedingungen oder Signalmoleküle (5). Bereits bekannte Mechanismen, die zur Induktion des VBNC- Zustands führen, sind Toxin-Antitoxin-Systeme, Proteinaggregationen, generelle Stressantworten sowie ein reduzierter Metabolismus (6). Die Schwierigkeit Bakterien im VBNC-Zustand zu untersuchen Für die meisten diagnostischen Nachweis- sowie Analyseverfahren stellen Bakterien im VBNC-Zustand eine besondere Herausforderung dar. Dies liegt daran, dass die meisten Methoden wachstumsabhängig sind und mindestens einen Kultivierungsschritt erfordern (5). Im Fall von kulturbasierten Nachweisverfahren ist folglich die Abwesenheit von Wachstum keine Garantie für die Abwesenheit lebensfähiger Krankheitserreger. Als Alternative zur Zellteilung/Kultivierbarkeit sind weitere anerkannte Parameter für die Beurteilung der Lebensfähigkeit von Bakterien ein aktiver Stoffwechsel sowie eine intakte Zellmembran. Da Stoffwechselaktivität und Membranintegrität unabhängig vom Zellwachstum analysiert werden können, bestimmen die meisten aktuellen Methoden zum Nachweis oder Untersuchung von VBNCs, als Ergänzung zu kulturellen Verfahren, mindestens einen dieser Parameter (5). Abb. 2: Methoden zur Bestimmung bakterieller Lebensfähigkeit. Nachweis von A, Zellwachstum durch Resuscitation oder mittels Zellelongation. B, Membranintegrität mittels Fluoreszenzfärbungen oder viability Polymerase-Kettenreaktion (vPCR). C, Stoffwechselaktivität mittels Abbaus fluoreszenzmarkierter Substrate, Atmungsaktivität, Produktion von ATP oder aktiver Transkription. Risiken durch Bakterien im VBNC-Zustand Die Tatsache, dass Bakterien im VBNC-Zustand temporär nicht kultivierbar sind, bedeutet nicht, dass diese Zellen inaktiv sind oder sich im Sterbevorgang befinden. Tatsächlich haben VBNC-Zellen sowohl eine intakte Zellmembran und vollständige genetische Information, welche auch weiterhin exprimiert wird. Die sind auch Stoffwechselaktiv, was in der Lebensmittelproduktion zu einer Verkürzung der Haltbarkeit und damit zu wirtschaftlichen Verlusten führen kann. Was die potenzielle Virulenz von Pathogenen im VBNC-Zustand betrifft, so gab es eine Reihe von Studien, die die Gen- und Proteinexpression sowie die Virulenz untersuchten. Wie bereits erwähnt, ist der VBNC- Zustand eine Reaktion der Bakterienzellen auf stressige oder potenziell tödliche Bedingungen, und das Niveau der Stoffwechselaktivität und der Proteinexpression ist im Vergleich zu aktiv wachsenden Zellen deutlich niedriger (7). Mehrere Studien fanden jedoch eine signifikante Hochregulierung von Effluxpumpen- und 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 97

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Stressreaktionsgenen, eine gleichbleibende oder sogar erhöhte Expression von Virulenzfaktoren und Toxinen sowie die Fähigkeit Wirtszellen zu infizieren und eine Infektion auszulösen (7). Relevanz des VBN-Zustandes für die Lebensmittelindustrie Der Eintritt in die VBNC ist eine aktive Reaktion von Zellen, welche hohen Stressbedingungen ausgesetzt sind. In diesem Zustand teilen sich die Zellen nicht, bleiben aber strukturell intakt und behalten einen aktiven, aber oft reduzierten Stoffwechsel. Obwohl die Virulenz oder Toxinproduktion von Zellen im VBNC-Zustand geringer ist als bei aktiv wachsenden Zellen, stellen Pathogene im VBNC-Zustand immer noch eine potenzielle Gefahr für die menschliche Gesundheit dar. Es ist momentan schwierig, eine aussagekräftige Risikobewertung für einen Erreger im VBNC-Zustand durchzuführen, was die Notwendigkeit neuartiger Protokolle zur Untersuchung von Zellen im VBNC-Zustand unterstreicht. Trotzdem ist es von entscheidender Bedeutung, VBNC-Zellen effizient und zuverlässig aus dem FPE zu eliminieren, um eine Wiederbelebung und anschließende Rekontamination zu verhindern, die eine eindeutige und unmittelbare Gefahr darstellt. Dies hat sich als schwierig erwiesen, da Zellen den VBNC-Zustand in erster Linie einnehmen, um zu überleben und potenziell tödlichen Bedingungen zu widerstehen. So wurde bereits für V. vulnificus, V. parahaemolyticus, Escherichia coli O157, S. aureus, Listeria monocytogenes und Campylobacter jejuni im VBNC-Zustand eine stark erhöhte Resistenz gegenüber Antibiotika sowie physikalischem und chemischem Stress gezeigt (5,7). die Resistenz von Mittels molekularer Methoden konnte ebenfalls bereits gezeigt werden, das Lebensmittel, die einer antimikrobiellen Behandlung unterzogen werden, Zellen im VBNC-Zustand beherbergen. Im Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit muss spezifischen Lebensmittelbehandlungen, wie speziellen Verarbeitungs-, Konservierungs- und Verpackungstechniken, weiter erforscht werden (7). Besonders besorgniserregend für den Lebensmittelsektor ist die Resistenz von VBNC- Zellen gegenüber Desinfektionsmitteln (5). Durch die nicht-Kultivierbarkeit von VBNC-zellen kann ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt werden, da bei den derzeitigen Wirksamkeitsprüfungen von Desinfektionsmitteln die Verringerung der kultivierbaren Zellen als einziger Parameter herangezogen und VBNCs nicht berücksichtigt werden. VBNC-Zellen gegenüber Perspektiven Viele Aspekte von bakteriellen Ruhephasen sind noch ungeklärt und es bedarf neuer methodischer Ansätze, um z.B. das Zusammenspiel zwischen Lebensmittelumfeld und VBNC-Zustand besser zu verstehen. Aufgrund der hohen Resistenz gegenüber antimikrobieller Interventionsmaßnahmen ist ebenfalls wichtig effektive Strategien zur im Gesundheits- und Lebensmittelumfeld zu finden. Inaktivierung von pathogenen Bakterien im VBNC-Zustand Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Chebotar, I. V et al. The classification of bacterial survival strategies in the presence of antimicrobials. Microb. Pathog. 104901 (2021) Balaban, N. Q. et al. Definitions and guidelines for research on antibiotic persistence. Nat. Rev. Microbiol. 17, 441– 448 (2019). Hobby, G. L., Meyer, K. & Chaffee, E. Observations on the Mechanism of Action of Penicillin. Proc. Soc. Exp. Biol. Med. 50, 281–285 (1942). Xu, H.-S. et al. Survival and viability of nonculturable Escherichia coli and Vibrio cholerae in the estuarine and marine environment. Microb. Ecol. 8, 313–323 (1982). Fleischmann, S., Robben, C., Alter, T., Rossmanith, P. & Mester, P. How to evaluate non-growing cells—current strategies for determining antimicrobial resistance of vbnc bacteria. Antibiotics 10, (2021). Ayrapetyan, M., Williams, T. & Oliver, J. D. Relationship between the viable but nonculturable state and antibiotic persister cells. J. Bacteriol. 200, (2018). Ayrapetyan, M. & Oliver, J. D. The viable but non-culturable state and its relevance in food safety. Curr. Opin. Food Sci. 8, 127–133 (2016). Kontakt Dr. Patrick Mester; Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie, Veterinärmedizinische Universität Wien Patrick-julian.mester@vetmeduni.ac.at 98 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Analyse von Fleischverderb im Projekt „Zukunftslabor 2030“ Clara Wimmer, Nadera Hanifi, Melanie Pavlovic, Nancy Bretschneider, Mareike Wenning, Ingrid Huber, Ulrich Busch Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim Im Rahmen des Projektes Zukunftslabor 2030 (ZL2030 – Zukunftsszenarien für den Verbraucherschutz auf Basis von Qualitäts- und Sicherheitsinformationen von Lebensmitteln, innovativen Messmethoden und KI) soll mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) eine Prognose der sensorischen und mikrobiologischen Qualität ausgewählter Lebensmittel ermöglicht werden. Grundlage hierfür sind verschiedene Messverfahren, wie Next- Generation Sequencing (NGS), Spektroskopie oder Analysen des Volatiloms flüchtiger Substanzen, mit denen ein digitaler Zwilling (DZ) des Produktes erstellt wird. Durch die Integration verschiedener Messmethoden sollen die wichtigsten chemischen, physikalischen und biologischen Prozesse in Lebensmitteln - und damit das gesamte komplexe System Produkt-Mikrobiom durch den DZ beschrieben werden. Das Projekt Zukunftslabor 2030 wird seit Oktober 2021 von einem Konsortium aus neun Einrichtungen aus Wissenschaft, Start-ups und Behörden durchgeführt. Zudem werden externe Partner aus der Praxis mit einbezogen. Dabei werden fünf Projektziele verfolgt: (1) Vorhersage des Frischezustands von Lebensmitteln mittels DZ anhand verschiedener Messmethoden (2) Konzeptstudie zur Anwendbarkeit verschiedener innovativer Messmethoden (3) Entwicklung einer offenen Plattform zum Austausch von Produkt- und Produktionsdaten und –modellen (4) Erstellung prognosefähiger digitaler Zwillinge auf Einzelprodukt- bzw. Chargenebene (5) Praxistest zur Demonstration der Funktionalität der DZ und der Plattform Analytischer Schwerpunkt des LGL im Rahmen dieses Projektes sind NGS-basierte Analysen insbesondere des Mikrobioms und dessen Veränderung über die Dauer einer Lagerung der Lebensmittel oder in Bezug auf unterschiedliche Lagerbedingungen (wie z.B. Temperatur oder Gasphase in der Verpackung). Im Fokus stehen zunächst fermentierte Lebensmittel wie z.B. Hackfleisch, bei denen mikrobiologischer Verderb ein relevanter Aspekt der Lebensmittelsicherheit ist. Die besondere Herausforderung bei der Analyse von Verderbserregern liegt hier in der vergleichsweise geringen bakteriellen Keimzahl im frischen Produkt und der großen Menge an eukaryotischer Begleit-DNA aus dem Fleisch. leicht verderbliche und nicht Für die Mikrobiom-Analyse wird zunächst die Matrix Hackfleisch durch selektive Zentrifugationschritte abgereichert, bevor DNA aus dem Bakteriengemisch isoliert wird. Anschließend wird aus dieser DNA die DNA-Library hergestellt. Hierzu wird zunächst mittels PCR der zur Identifizierung von Spezies gewählte DNA-Barcode mittels PCR angereichert. Im Rahmen dieser Studie wurde die V3-V4 Region der 16S-rRNA-Gene von Bakterien als bakterieller DNA- Barcode gewählt. Die in der Anreicherungs-PCR eingesetzten Primer binden an hochkonservierte Bereiche dieser Region. Anschließend werden über eine weitere PCR Adaptersequenzen an die Amplikons aus der ersten PCR gehängt. Bei diesen Adaptersequenzen handelt es sich zum einem um den probenspezifischen Index. Dieser Index ist für jede Probe im späteren DNA-Library-Pool einzigartig, um Sequenzen eindeutig einer Probe und damit z.B. einer Temperaturbedingung oder einem Tag zuordnen zu können. Zum anderen bestehen die Adapter aus Sequenzabschnitten, die für alle Proben eines Pools gleich sind und ein Binden der Amplikons auf der Sequenzierkartusche erlauben und deren Sequenzierung ermöglichen. Die einzelnen DNA-Libaries (eine je Probe) werden äquimolar gemischt. Es entsteht der DNA-Library-Pool, der zur parallelen Sequenzierung aller enthaltenen Libraries eingesetzt wird. Über die Sequenz der hochvariablen Bereiche zwischen den hochkonservierten Primern, die zur Anreicherung eingesetzt wurden, können die jeweils in einer Probe enthaltenen Bakterien identifiziert werden. Insgesamt wurden bisher drei Lagerungstemperaturen untersucht. Als standardisierte Lagerungstemperatur wurde 2°C gewählt. Um den Verderbsprozess von Hackfleisch gut abzudecken wurden zusätzlich die beiden höheren Temperaturen von 10°C und 14°C gewählt. Ebenfalls wurde die Atmosphäre der Lagerung variiert und untersucht. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 99

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Die Versuchsmessreihen wurden nach der Methodenoptimierung einheitlich mit der zuvor am LGL optimierten Metabarcoding-Methode analysiert. Im Nachfolgenden werden die Ergebnisse beispielhaft für eine Lagerungstemperatur dargestellt. Die Graphiken wurden mit dem online Tool NAMCO der Technischen Universität München (TUM) https://exbio.wzw.tum.de/namco/ erstellt. In der Abbildung sind die zwei Messreihen V01, V07 bei der Lagerungstemperatur von 2°C sowohl unter einer stickstoffreichen (70% N2, 30% CO2) als auch unter einer sauerstoffreichen (70% O2, 30% CO2) Schutzatmosphäre dargestellt. Abbildung: Relative Mikrobiom-Zusammensetzung der Versuchsmessreihen V01 und V07 bei einer Lagerungstemperatur von 2°C unter stickstoffreicher (-N2) und sauerstoffreicher (-O2) Atmosphäre. Die y- Achse zeigt den zeitlichen Verlauf. Sofern die methodische Auflösung es ermöglicht sind die Bakterien auf Gattungsebene (g) dargestellt, ansonsten die nächst höhere Taxonebene. Proben mit einer Readanzahl unter 5000 Reads sind durch einen Asterisken gekennzeichnet. Die beiden Messreihen unter stickstoffreicher Schutzatmosphäre wiesen ein ähnliches Muster auf. Man sieht eine unterschiedlich schnelle Abnahme der Diversität mit einer zunehmenden Dominanz der Lactobacillales. Unter sauerstoffreicher Atmosphäre war die Entwicklung des Mikrobioms der Versuchsmessreihe V01 ähnlich wie unter stickstoffreicher Atmosphäre. Unterschiede lassen sich auf Gattungsebene erkennen. Die Versuchsmessreihe V07 zeigt unter sauerstoffreicher Atmosphäre eine von V01 abweichende Mikrobiom- Entwicklung. Die Gattung Pseudomonas ist über den zeitlichen Verlauf dieser Messreihe durchgehend stark vertreten. Hier wird der Einfluss des im Ausgangsmaterials vorhanden Mikrobioms und der Atmosphäre auf die Mikrobiom-Entwicklung im Lebensmittel sichtbar. Insgesamt lässt sich aus den bisherigen Messreihen erkennen, dass bei beiden Atmosphären einer Messreihe der Unterschied der mikrobiellen Zusammensetzung geringer ist als zwischen den Messreihen gleicher Atmosphäre. Das weist auf einen geringeren Einfluss der Atmosphäre im Vergleich zum Ausgangsmikrobiom hin. Bei einer Lagerungstemperatur von 10°C zeigt sich eine weniger homogene Mikrobiom-Zusammensetzung und –Entwicklung als bei 2°C. Die beiden untersuchten Versuchsmessreihen weisen bereits an Tag 1 (d1) eine unterschiedliche Zusammensetzung des Mikrobioms auf. Die Gattungen Lactococcus und Leuconostoc sind stark vertreten, deren Dominanz über die Lagerungsdauer hinweg andauert. Unter der stickstoffreichen Atmosphäre setzen sich daneben auch Enterobacteriaceae durch. Bei einer Versuchsmessreihe zeigt sich 100 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ unter der sauerstoffreichen Atmosphäre eine höhere Diversität, da neben Lactobacillales und Enterobacteriales sich noch die Pseudomodales und Bacillales durchsetzen. Bei einer Lagerungstemperatur von 14°C zeigen die Versuchsmessreihen, dass sich die Lactobacillales anders als bei 2°C und 10°C nicht als dominierende Ordnung durchsetzen. Unter stickstoffreicher Atmosphäre werden sie von Enterobacterales verdrängt und unter sauerstoffreicher Atmosphäre sowohl von Enterobacterales als auch von Pseudomonadales verdrängt, die für ihre Vermehrung Sauerstoff benötigen. Bei einer Messreihe zeigte sich eine durchgehende Dominanz der Enterobacterales ab dem ersten Lagerungstag, die den Einfluss des Ausgangs-Mikrobioms widerspiegelt. Außerdem zeigen sich starke Schwankungen zwischen denselben Lagerungstagen der Messreihen bei gleicher Atmosphäre bei dieser hohen Lagerungstemperatur. Für das Ziel der Etablierung eines digitalen Zwillings ist eine fundiertere Datengrundlage durch weitere Experimente zur mathematischen Modellierung von Nöten. Literatur 1. 2. 3. https://www.lgl.bayern.de/forschung/forschung_lebensmittel/fp_zl2030_zukunftsszenarien_verbraucherschutz_auf_ba sis_von_qualitaets_und_sicherheitsinformationen_von_lebensmitteln_innovativen_messmethoden_und_ki.htm https://www.ble.de/SharedDocs/Downloads/DE/Projektfoerderung/Kuenstliche_Intelligenz/KI_Steckbriefe/Zukunftslab or2030.html https://zukunftslabor2030.de/ Kontakt Prof. Dr. Ulrich Busch; Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 101

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Wildbrethygiene 2.0...denn sie wissen nicht, was sie tun Alexandra Pantchev, Thomas Stegmanns Amt für öffentliche Ordnung, Landeshauptstadt Stuttgart Jäger, die Wildbret der von ihnen erlegten Tiere zerwirken und an Betriebe des Einzelhandels oder an Privatpersonen abgeben, gelten unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht als Lebensmittelunternehmer im Sinne des EU und des Nationalen Hygienerechtes. Als Lebensmittelunternehmer unterliegt auch der Jäger Verpflichtungen im Hinblick auf das Hygienerecht, dazu gehört zumindest eine gewisse Grundkenntnis der einschlägigen Rechtsvorschriften. Im Gegensatz dazu ist in der Praxis festzustellen, dass dieses grundlegende Wissen über die gängigen Hygienevorschriften fehlt und daraus auch in vielen Fällen ein hygienisches Handeln entsteht, welches in einem normalen Lebensmittelbetrieb zu behördlichen Anordnungen bzw. Sanktionen führen würden. Leider ist festzustellen, dass auch in der einschlägigen Fachliteratur offensichtlich grundlegende Defizite im Verständnis des Hygienerechtes vorhanden sind. Eine der größten Fachzeitschriften für Jäger wirbt beispielsweise für Schulungen zur kundigen Person mit den Worten: „Die Schulung zur kundigen Person ist erforderlich, wenn Wildbret zerlegt an andere abgegeben wird“. Diese Aussage ist sachlich und rechtlich falsch. In derselben Zeitschrift wird berichtet, dass zwei Jäger ein laufkrankes und abkommendes Kitz erlegen und dieser Jagdtag mit dem Verzehr des Aufbruches dieses Kitzes sein Ende findet. Begriffe wie bedenkliche Merkmale und Fleischuntersuchung, kommen allerdings nicht vor. Wenn darüber hinaus in der Jagdpresse diskutiert wird, ob ein Hund, der Wildbret anschneidet (anfrisst), für die Nachsuche besonders gut geeignet ist, zeigt auch diese Berichtserstattung ein erhebliches Defizit an Wissen über Vorgaben zum hygienischen Umgang mit dem Lebensmittel Wild. Die rechtlich strikt getrennten Qualifikationen „Schulung zur kundigen Person“, „Schulung zur Entnahme von Trichinenproben“ sowie „sachkundiger Jäger“ werden regelmäßig von Jägern aber auch von Behörden verwechselt. Im Hinblick auf die „Schulung zur kundigen Person“, welche in der EU-Verordnung 854/2004 geregelt ist, zeigt sich das ganze Chaos im Umgang mit Vorgaben des europäischen Hygienerechtes. Es gibt bundes- und landesweit weder ein Verzeichnis dazu, wer als kundige Person gilt, immerhin die Voraussetzung, um an EU zugelassene Wildverarbeitungsbetriebe Wild ohne die entsprechenden Innereien zu liefern, noch gibt es einheitliche Vorgaben, wie die in der EU-Verordnung geforderte Schulung auszusehen hat. In Niedersachen beispielsweise darf die Schulung nur von dazu zugelassenen Referenten gehalten werden. In Baden-Württemberg darf diese Schulung von jedem beliebigen Referenten durchgeführt werden, so lange er das landeseinheitliche Schulungsmaterial verwendet. In Baden-Württemberg wurde immerhin– vor mehr als 10 Jahren – das separate Prüfungsfach „Wildbrethygiene, Wildkrankheiten“ eingeführt und somit gilt Jeder, der seit 2010 die Jägerprüfung ablegt, als „kundige Person“. Nebenbei bemerkt hat das Fach „Wildbrethygiene, Wildkrankheiten“ unter den fünf Prüfungsfächern der mündlich-praktischen Prüfung die höchste prozentuale Anzahl an Absolventen, die die Prüfung nicht bestehen. Dies zeigt aus meiner Sicht auch Defizite bei der Ausbildung auf. In einigen anderen Bundesländern wird kein separates Fach „Wildbrethygiene, Wildkrankheiten“ geprüft und es ist durchaus möglich, die Jägerprüfung zu bestehen und anschließend als Lebensmittelunternehmer Wild in den Verkehr zu bringen, ohne in der Prüfung auch nur eine Frage zu diesem Themenkreis beantwortet zu haben. 102 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Um diese Missstände zumindest zu verbessern, ist zu fordern: • dass bundesweit das Thema Wildbrethygiene und Wildkrankheit als separates Prüfungsfach eingeführt wird. • dass regelmäßige Fortbildungen zur Hygiene im Umgang mit Wild und Wildbret verpflichtend werden (vergleichbar mit § 4 LMHV) • Es wäre ebenfalls wünschenswert, dass sich die Jagdzeitschriften, aber auch die entsprechenden Jagdverbände fachlich und inhaltlich mit diesen Themen auseinandersetzen und keine sachlich falschen Informationen bzw. Jagdberichte veröffentlichen, die grundsätzlich strafbares Handeln vermuten lassen. Kontakt Dr. Thomas Stegmanns Dr. Alexandra Pantchev Amt für öffentliche Ordnung, Stuttgart poststelle.32-23@stuttgart.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 103

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ KontRed – Die Reduktion der bakteriellen Belastung von Schlachtprodukten – Technologie, Praxis und Modell N Bandick1, T Alter2, L Kreienbrock3 1Abteilung Biologische Sicherheit, Bundesinstitut für Risikobewertung; 2Institut für Lebensmittelsicherheit und –hygiene, Freie Universität Berlin; 3Institut für Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung, WHO Collaborating Centre for Research and Training for Health at the Human-Animal-Environment Interface, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Die Zoonoseerreger Campylobacter und Salmonella stellen derzeit die hauptsächlichen lebensmittelbedingten bakteriellen Krankheitserreger in Deutschland und in der EU dar. Während die Aufmerksamkeit für Salmonellen schon lange besteht, ist Campylobacter erst in den letzten Jahren in den Fokus gerückt, da es sich hier gemäß der nach dem Infektionsschutzgesetz registrierten humanen Fälle um den mittlerweile häufigsten bakteriellen Infektionserreger handelt. Bislang sind die meisten Anstrengungen zur Reduktion von Salmonellen und Campylobacter in der Lebensmittelkette im pre harvest-Bereich erfolgt. Dabei konnten – zumindest für Salmonella (Geflügel) – an dieser Position der Lebensmittelkette auch Erfolge erzielt werden. Weitgehend erfolglos blieben bislang die Bemühungen zur Eindämmung von Campylobacter im Geflügelbereich (pre harvest) und von Salmonella beim Schwein im post harvest-Bereich. Aufgrund dieser Problematik wurde der hier vorgestellte Forschungsverbund mit der "Entwicklung und Implementierung technologischer Verfahren zur Reduktion von mikrobiellen Kontaminanten im Geflügel- und Schweineschlachtprozess (Akronym: KontRed)" beauftragt. Dieser Verbund, der Partner aus unterschiedlichsten Bereichen der Wissenschaft, Technologie und Praxis zusammengeführt hat, sollte an einer Schlüsselstelle der Lebensmittelkette Geflügel und Schwein - dem Schlacht- und Verarbeitungsprozess – Verfahren entwickeln und praxisnah testen. Übergeordnetes Ziel war dabei, durch die Optimierung und Lenkung vorhandener Prozesse und Verfahren und durch die Implementierung neuer technischer Verfahren unter hygienischen Gesichtspunkten die Belastung von Schlachtkörpern mit Zoonoseerregern am Ende der Schlachtlinie zu senken. Die Sicherheit von Geflügelfleisch- und Schweinefleischprodukten soll dadurch verbessert und das Verbrauchervertrauen nachhaltig gestärkt werden. Folgende Ziele stehen im Vordergrund: − Optimierung der bestehenden Verfahren und Prozesse im Schlacht- und Verarbeitungsprozess Geflügel/Schwein zur Reduktion des Vorkommens und des Transfers von Zoonoseerregern − Entwicklung, Implementierung und Validierung von biologischen, chemischen, physikalischen und technischen Kontroll- und Interventionsmaßnahmen zur Reduktion von Zoonoseerregern im Schlacht- und Verarbeitungsprozess Geflügel/Schwein, − Entwicklung eines Bewertungsmodells zur Prüfung der Effizienz von Verfahren und Maßnahmen zur Reduktion von Zoonoseerregern im Schlacht- und Verarbeitungs-prozess Geflügel/Schwein. Die mikrobiologischen Zielgrößen waren dabei: − Relevante Senkung der Campylobacter-Belastung auf Geflügelfleisch (quantitativer Ansatz), − Relevante Senkung der Prävalenz von Salmonella (S.) enterica auf Geflügel- und Schweinefleisch (qualitativer Ansatz), − Relevante Senkung der E. coli-Zahl (als Fäkalindikator) auf Geflügel- und Schweinefleisch (quantitativer Ansatz). Der Verbund war dabei in vier Arbeitsbereiche aufgeteilt, und zwar Komplex I: Basiserhebung von Daten zur Evaluierung und Optimierung bestehender Techniken und Verfahren im Schlachtprozess Geflügel (Masthähnchen und Puten) und Schwein Komplex II: Entwicklung von biologischen, chemischen, physikalischen und technischen Verfahren zur Reduktion von Zoonoseerregern im Labor- und Technikumsmaßstab 104 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Komplex III: Implementierung der erfolgreich etablierten biologischen, chemischen, physikalischen und technischen Verfahren in praxi Komplex IV: Datenstrukturierung, -auswertung und Modellierung Um zu bewerten, ob die in den Komplexen II und III entwickelten und implementierten Verfahren einen substantiellen Beitrag zur Reduktion der bakteriellen Kontamination leisten, sind im Wesentlichen drei Schritte erforderlich, nämlich die Erfassung der in der Praxis auftretenden üblichen Kontamination (Komplex I), die Abschätzung des Reduktionseffekts unter Praxisbedingungen (Komplex III) sowie die Abschätzung der Kombination verschiedenster Verfahren in einem gesamten Schlachtprozess (Komplex IV). in einer Obwohl national wie international eine Vielzahl von Untersuchungen zur Optimierung von Schlachtprozessen vorliegen, konnten im KontRed-Verbund durchgeführten systematischen Literaturrecherche final nur ca. 30 Studien im Bereich Geflügel und ca. 20 Studien im Bereich Schwein identifiziert werden, die ausreichende Informationen zum Status Quo der bakteriellen Belastung im Schlachtprozess geben. Diese Studien dokumentierten diese Angaben allerdings äußerst heterogen, d. h. die jeweils dokumentierten Untersuchungsstellen, die Art der durchgeführten Probennahmen und –analysen und andere Verfahrensgrößen sind zum Teil so unterschiedlich durchgeführt, dass kaum zwei Studien unmittelbar vergleichbar sind. Die in KontRed selbst durchgeführten Basisanalysen werden daher einen wesentlichen Beitrag zur Harmonisierung von Untersuchungen zur Lebensmittelsicherheit beitragen. Mit diesen Basisuntersuchungen kann nunmehr ein Status Quo festgestellt werden, der es erlaubt, die in KontRed entwickelten und implementierten getesteten Reduktionsverfahren in einer Modellierung zu bewerten. Im Vortrag werden die grundlegenden Basisuntersuchungen aus KontRed mit den international verfügbaren Informationen verglichen, die grundlegend getesteten Reduktionsverfahren vorgestellt und ein erstes Modell der in praxi erreichbaren Reduktionen diskutiert. Kontakt Prof. Dr. Lothar Kreienbrock; Department of Biometry, Epidemiology and Information Processing, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 105

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Vom Wartestall bis zur Kühlung: Optimierung der Schlachthygiene beim Schwein Diana Meemken1, Roland Fürstenberg1, Celine Buder1, Susann Langforth1, Corinna Heuke2, Julia Große-Kleimann2, Lothar Kreienbrock2, Nina Langkabel1 1Freie Universität Berlin, Institut für Lebensmittelsicherheit und -hygiene, Arbeitsgruppe Fleischhygiene, Berlin; 2Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Institut für Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung, Hannover Einleitung Im vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderten Verbundprojekt „KontRed“ („Entwicklung und Implementierung technologischer Verfahren zur Reduktion von mikrobiellen Kontaminanten im Geflügel und Schweineschlachtprozess“; Förderkennzeichen: 281C104A18) beteiligten sich insgesamt 14 Forschungsinstitute, 3 Schlachttechnikhersteller und 4 Schweine- und Geflügelschlachtbetriebe, um die Hygiene während der Schlachtung und Verarbeitung von Schweinen und Geflügel zu optimieren. Dabei wurden chemische, physikalische, biologische, mechanische sowie arbeitsorganisatorische in Praxisbetrieben, teilweise nach vorheriger Erprobung und Validierung im Labor- bzw. Technikumsmaßstab, auf deren Wirksamkeit getestet. Interventionen Dieser Beitrag stellt einen Auszug der Arbeiten im Projekt dar, die sich mit der Optimierung der Schlachthygiene beim Schwein beschäftigen. identifiziert und spezifische Ausgangspunkt in diesem Teilprojekt war eine Status-quo-Analyse der Schlachthygiene entlang des Schlachtprozesses. Dafür wurden an kritischen Positionen im Schlachtprozess mikrobiologische Untersuchungen der Schweineschlachttierkörper durchgeführt. Anhand dieser Ergebnisse konnten Schwachstellen Interventionen zur Verbesserung der Hygiene unter Praxisbedingungen getestet und bewertet werden. Status-quo-Analyse: Longitudinale Untersuchung von Schweineschlachttierkörpern entlang des Schlachtprozesses Material und Methoden Ziel war es, aus zehn Herden jeweils neun Einzeltiere longitudinal über den Schlachtprozess hinweg mikrobiologisch auf die mesophile aerobe Gesamtkeimzahl (GKZ) zu untersuchen. Die Beprobung der markierten Einzeltiere im Perianalbereich erfolgte mit Hilfe von Agar-Abklatschplatten (VWR International, Darmstadt) an sieben kritischen Prozessstufen: 1. Wartestall vor der Berieselung 2. Wartestall nach der Berieselung 3. nach der Betäubung 4. nach der Entborstung 5. nach dem Abflammen 6. nach der Eviszeration 7. vor der Kühlung Ergebnisse Bei der Auswertung der GKZ von einer Prozessstufe zur darauffolgenden zeigte sich, dass es auf Herdenebene nach der Berieselung der Tiere im Wartestall zu einem signifikanten (p < 0,05) Anstieg der GKZ sowie einem weiteren Anstieg derselben nach der Betäubung der Tiere kam. Im weiteren Verlauf des Schlachtprozesses zeigten sich signifikanten Reduktionen (p < 0,05) der GKZ bis nach dem Abflammen sowie weitere Reduktionen bis zur Kühlung (Abb. 1). Insgesamt konnten Reduktionen von 3 - 4 Log-Stufen festgestellt werden. 106 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Abb. 1: Verlauf der mittels Modell errechneten Vorhersagewerte der logarithmierten GKZ unter Berücksichtigung der einzelnen Herdenvariationen bei den sieben untersuchten Prozessstufen Diskussion Der Anstieg der GKZ nach der Berieselung könnte damit zusammenhängen, dass die Tiere sich nach dem Berieseln und vor den Eintrieb in die Betäubungsanlage auf den nassen und mit Kot verschmutzten Boden ablegten und es in der Folge zu einer Re-Kontamination mit Kot kam. Der beobachtete Anstieg der Keimgehalte nach der CO2-Betäubung steht wahrscheinlich mit dem Erschlaffen der Sphinktermuskulatur durch die Betäubung im Zusammenhang und dem damit verbundenen Austritt von Kot. Anstiege der GKZ bei einzelnen Tieren könnten auf individuelle Fehler z.B. bei der Eviszeration zurückgeführt werden. Analyse von ausgewählten Interventionen: a) Unterschiedliche Berieselungsszenarien im Wartestall Material und Methode Das Berieseln von Schweinen im Wartestall erfolgt v.a. aus Tierschutzgründen. Um jedoch einen potenziellen (Reinigungs-)Effekt der Berieselung im Wartestall auf die Hautkontaminationen angelieferter Schweine detailliert zu untersuchen, wurden Berieselungsdauern von 5 und 10 Minuten nach einmaligem oder zweimaligem Berieseln untersucht. Je Berieselungsdauer wurden zwölf Schweine nach Ankunft, nach einmaligem und nach zweimaligem Berieseln mittels aufgestielten Beprobungsschwämmen (VWR International, Darmstadt) im Bereich der Flanke beprobt und mikrobiologisch untersucht. Ergebnisse Bei der Betrachtung der Mittelwerte bei einer Berieselungsdauer von 5 Minuten zeigte sich, dass sich die durchschnittliche GKZ vom Zeitpunkt der Ankunft der Tiere am Schlachtbetrieb (4,97 log10 KbE/cm2) über eine einmalige (4,82 log10 KbE/cm2) bis hin zu einer zweimaligen Berieselung (4,77 log10 KbE/cm2) statistisch nicht signifikant verringerte. Die Reduktion betrug nach zweimalig 5 Minuten Berieseln 0,20 log10 KbE/cm2 (Abb. 2). Für die Berieselungsdauer von 10 Minuten wurde eine statistisch signifikante Reduktion der Mittelwerte „vor dem Berieseln“ (5,22 log10 KbE/cm2) und „nach 2x Berieseln“ (4,64 log10 KbE/cm2) um 0,58 log10 KbE/cm2 festgestellt (p=0,0063) (Abb. 2). Beim Vergleich der anderen Interventionen wurde keine statistisch signifikante 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 107

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Reduktion festgestellt (Differenz: „vor Berieseln“ und „nach 1x Berieseln“ p=0,0606; Differenz: „nach 1x Berieseln“ und „nach 2x Berieseln“ p=0,2844). Insgesamt zeigte sich, dass durch mehrmaliges Berieseln vor allem die Streuung der GKZ erhöht wurde, was durch eine Erhöhung der Standardabweichung und des Variationskoeffizienten deutlich wird (siehe Abb. 2). Abb. 2: Verlauf der logarithmierten GKZ bei den drei Beprobungszeitpunkten jeweils für die beiden Berieselungsszenarien Diskussion Da die installierten Berieselungsanlagen mit einem seitlich auf das Tier auftreffenden relativ starken Wasserstrahl arbeiten, könnte die Streuung der GKZ auf eine nicht homogene Berieselung der Körperoberfläche zurückgeführt werden. Bei den zum Zeitpunkt der Anlieferung am stärksten verschmutzten Tieren zeigte sich jedoch ein größerer Reinigungseffekt durch eine längere Berieselung. Intensivere Berieselungen könnten daher bei stärker verschmutzten Anlieferungspartien zu einem geringeren Eintrag von Kontaminationen in den nachfolgenden Prozess führen. Allerdings müssen hier das Kosten-Nutzen-Verhältnis sowie Fragen zur Nachhaltigkeit bei einem vermehrten Einsatz von Wasser berücksichtigt werden. Analyse von ausgewählten Interventionen: b) Installation einer zusätzlichen Wasserstrahl-Düse beim Auswurf nach der Entborstung Material und Methoden Nach der Entborstung gelangen die Tierkörper über eine Rutsche zu einem Auswurftisch, an dem ein erneutes Aufhängen der Tiere erfolgt. In diesem Bereich sind Kreuzkontaminationen anzunehmen, da sich die Tierkörper im Entborstungsbereich häufig berühren und eine Zwischenreinigung nur arbeitstäglich erfolgt. Im Bereich des Auswurfes nach der Entborstung wurde als Intervention eine zusätzliche Wassersprühdüse installiert. Es wurden insgesamt 60 Tiere markiert und a) zum Zeitpunkt nach der Entborstung und b) zu Beginn der Kühlung mittels Beprobungsschwämmen (VWR International, Darmstadt) im Perianalbereich beprobt und mikrobiologisch auf die mesophile aerobe Gesamtkeimzahl untersucht. Bei der Hälfte der Tiere (n=30) war die neu installierte Düse eingeschaltet und bei der anderen Hälfte ausgeschaltet. 108 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Ergebnisse Die Tierkörper, bei denen die Düse eingeschaltet war, zeigten sowohl nach der Entborstung als auch nach der Kühlung statistisch signifikant geringere Werte der GKZ (p < 0,0001 bzw. p < 0,0380). Diskussion Die Reduktion durch die eingeschaltete Düse war im Bereich nach der Entborstung deutlicher als zu Beginn der Kühlung. Dies könnte auf individuelle Defizite an einzelnen Tierkörpern im Schlachtprozess zurückzuführen sein, die zu Re-Kontaminationen einzelner Tierkörper geführt haben könnten. Der Einsatz dieser zusätzlich installierten Düse an dieser Prozessstufe insgesamt zu signifikanten Reduktionen des Oberflächenkeimgehalts. Fazit führte Die Ergebnisse des vorgestellten Teilprojekts zeigten, dass die in Schweineschlachtbetrieben üblicherweise installierte Schlachttechnologie zu guten Reduktionen von oberflächlichen Keimbelastungen auf den Tierkörpern um 3 - 4 Log-Stufen führt. Die intensive Berieselung der Schweine im Wartestall kann aus Gründen der Nachhaltigkeit nicht generell, also für alle Lieferpartien, empfohlen werden. Jedoch könnte die zusätzliche Berieselung von sehr stark verschmutzen Lieferpartien den zusätzlichen Aufwand aus hygienischer Sicht rechtfertigen. Die Wassersprühdüse im Bereich des Auswurfs aus der Entborstungsmaschine zeigte positive Effekte und wurde deshalb fest im Prozess des untersuchten Schlachtbetriebes implementiert. Weiterhin werden im Beitrag Untersuchungsergebnisse vorgestellt, die durch arbeitsorganisatorische Interventionen (Personalschulungen) und durch neue Verfahren der Hygienisierung und Handhabung von mobilen Geräten wie Messern und Kettenhandschuhen erzielt werden können. Förderung Die vorgestellten Untersuchungen wurden im vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderten Verbundprojekt „KontRed“ (Entwicklung und Implementierung technologischer Verfahren zur Reduktion von mikrobiellen Kontaminationen im Schweineschlachtprozess, Förderkennzeichen: 281C104A18) durchgeführt. Kontakt Prof. Dr. Diana Meemken; Institut für Lebensmittelsicherheit und -hygiene, AG Fleischhygiene, Freie Universität Berlin diana.meemken@fu-berlin.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 109

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Verringerung der mikrobiologischen Belastung von Geflügelfleisch am Schlachthof Felix Reich Bundesinstitut für Risikobewertung Geflügelfleisch ist ein sensibles und mikrobiologisch empfindliches Lebensmittel. Dabei ist das Fleisch regelmäßig mit Campylobacter belastet. Die EFSA schätzt, dass etwa 20-30 % der humanen Campylobacteriose-Fälle direkt mit dem Verzehr von belastetem Geflügelfleisch im Zusammenhang stehen. Und 50 – 80 % der Campylobacteriose-Erkrankungen stehen mit Hähnchen als Ganzes im Zusammenhang. Aus diesem Grunde gibt es seit mehreren Jahren Bestrebungen, die Belastung von Geflügelfleisch mit Campylobacter zu verringern. In einer Risikobewertung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, 2011) wurde festgestellt, dass eine Verringerung der Campylobacter-Belastung auf Broiler- Schlachtkörpern zu einer signifikanten Verringerung der humanen Campylobacteriose-Fälle führen kann. Auf Basis dieser Überlegungen wurde im Januar 2018 EU-weit ein Prozesshygienekriterium für Campylobacter in der Broiler-Schlachtung eingeführt. Darin wurde eine Grenze von 1.000 Kolonie bildenden Einheiten je Gramm Nackenhaut als Grenze festgelegt. Maximal 40 % der untersuchten Proben dürfen diesen Grenzwert überschreiten. 2020 wurde diese Grenze auf 30 % verringert und ab 2025 dürfen nur noch 20 % der Proben über dem Grenzwert liegen. Wenn der Grenzwert über einen Betrachtungszeitraum von 10 Wochen überschritten wird, sind Lebensmittelunternehmer verpflichtet, Verbesserungen in der Schlachthygiene herbeizuführen. Aber auch die Herkunft der Tiere ist zu berücksichtigen, inklusive einer Bewertung von Biosicherheitsmaßnahmen im Mastbetrieb. Währen der Mast kommt es zu Besiedlung der Broiler mit Campylobacter, die sich innerhalb weniger Tage im Bestand verbreiten und in der Regel keine klinischen Symptome bei den Tieren verursachen. Im weiteren Mastverlauf nimmt die Konzentration im Broilerdarm zu und durch Ausscheidungen kommt es zur Belastung des Gefieders und der Haut. Campylobacter werden auf diesem Wege in die Schlachtung eingebracht und können bei den verschiedenen Verarbeitungsschritten der Fleischgewinnung auf dem Fleisch verbleiben, oder neu auf das Fleisch gelangen. Maßnahmen zur Verringerung der mikrobiologischen Belastung von Geflügelfleisch können aus unterschiedlichen Stufen der Fleischgewinnung und -verarbeitung angewandt werden. In dem durch die BLE geförderten Projekt KontRed werden Maßnahmen zur Verringerung der mikrobiologischen Belastung von Geflügelfleisch auf der Schlachthofebene untersucht. In drei aufeinander aufbauenden Arbeitspaketen wurde zuerst die mikrobiologische Belastung von Geflügelfleisch entlang der Schlachtschritte in einer Stufenkontrolle untersucht. Im Anschluss wurden verschiedene chemische oder physikalische Dekontaminationsverfahren im Labor und später im Technikum auf ihre Wirksamkeit zur Verringerung der Keimbelastung von Geflügelfleisch untersucht. In der dritten Phase wurden aussichtsreiche Verfahren in einem routinenahen Betrieb mit natürlich belasteten Partien getestet. Die Stufenkontrolle zeigte, dass es in der Broilerschlachtung einige Verarbeitungsschritte gibt, die die mikrobiologische Belastung des Fleisches beeinflussen können. Einen großen reduzierenden Effekt hat der Brühprozess, während dessen Schlachtkörper mit Wasser bei einer Temperatur von 50 - 60 °C für mehrere Minuten gebrüht werden, um die Federn für den anschließenden Rupfprozess zu lockern. Dieser Prozessschritt bewirkt eine deutliche Reduktion der Campylobacter Konzentration auf den Schlachtkörpern. Die weiteren Verarbeitungsschritte zeigen unterschiedliche Auswirkungen auf die Belastung mit Campylobacter. Nach dem Ausnehmen der Schlachtkörper war generell ein Anstieg der Campylobacter-Belastung zu verzeichnen. Bis nach der Kühlung kam es insgesamt zu einer signifikanten Verringerung der bakteriellen Belastung der Schlachtkörper. In den Untersuchungen zur Verringerung der Keimbelastung im Labor und Technikum wurden verschiedene Verfahren getestet, darunter der Zusatz von Säuren zu Prozesswasser, die Behandlung von Schlachtkörpern mit UV-C-Strahlung, heißem Wasser oder Kälte, die Wirkung von Bakteriophagen und Bakteriozinen zur 110 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Verringerung der mikrobiobiologischen Belastung, oder die Beschichtung von Geräten mit Fleischkontakt, um bakterielle Anhaftungen zu verringern. Aussichtsreiche Verfahren werden an relevanten Schritten der Fleischgewinnung in Schlachthöfen eingesetzt und ihre Wirksamkeit in einem Routineszenario erprobt. Literatur 1. EFSA (2011). EFSA Panel on Biological Hazards (BIOHAZ); Scientific Opinion on Campylobacter in broiler meat production: control options and performance objectives and/or targets at different stages of the food chain. EFSA Journal. 2011;9(4):2105. [141 pp.]. doi:10.2903/j.efsa.2011.2105. Kontakt PD Dr. Felix Reich; Bundesinstitut für Risikobewertung, Berlin felix.reich@bfr.bund.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 111

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Notschlachtungen – wenn praktische Tierärzte zu amtlichen Tierärzten werden Philipp Rolzhäuser, Dennis Brauer, Nikolas Gregor Kolano, Maxi Binder, Ahmad Hamedy Institut für Lebensmittelhygiene, Professur Fleischhygiene, Universität Leipzig Einleitung Notschlachtungen stellen die Schlachtung eines akut verunfallten, ansonsten jedoch gesunden, Tieres dar, bei welchem ein Transport zum Schlachtbetrieb aus Tierschutzgründen nicht möglich ist. Amtliche Tierärzte bzw. zu amtlichen Tierärzten ernannte approbierte Tierärzte müssen hierbei eine Schlachttieruntersuchung durchführen und eine Bescheinigung ausstellen, die das tote Tier zum Schlachtbetrieb begleitet. Während es sich bisher um die sogenannte Anlage-8-Bescheinigung der Tier-LMHV handelte, ist inzwischen die Veterinärbescheinigung gemäß Anhang IV Kap. 5 der Durchführungsverordnung (EU) 2020/2235 zu verwenden. Stichprobenartige Dokumentenprüfungen ergaben, dass die Bescheinigungen aufgrund des Interessenskonfliktes der Tierärzte nicht immer sachgemäß ausgestellt werden und die Anforderungen an eine Notschlachtung nicht immer erfüllt werden. Ziel der vorliegenden Arbeit war es daher, anhand einer systematischen Dokumentenprüfung von Notschlachtbegleitscheinen zu eruieren, ob die Anforderungen an eine Notschlachtung erfüllt werden. Material und Methoden Insgesamt wurden 612 Begleitscheine von Rinder-Notschlachtungen eines Schlachtbetriebes, die zwischen dem 1. Oktober 2019 und dem 18. Januar 2022 (28 Monate) stattgefunden haben, systematisch ausgewertet. Aufgrund des Erfassungszeitraumes handelte es sich hierbei noch um Bescheinigungen nach Anlage 8 der Tier-LMHV. Die darin enthaltenen personenbezogenen Daten (landwirtschaftlicher Betrieb, Tierarzt) wurden pseudonymisiert erfasst. Ergebnisse Die Notschlachtbegleitscheine waren in 2/3 der Fälle (61 %, 379/612) unvollständig ausgefüllt. Mehrere Begleitscheine beinhalteten unterschiedliche Schriftarten und Handschriften. Bei 91,3 % (n = 559) der Rinder handelte es sich um weibliche, bei 8,5 % (n = 52) um männliche Tiere und bei einem Tier fehlte die Geschlechtsangabe. Das Durchschnittsalter betrug 4 Jahre (range: 1 – > 25). Die Tiere stammten aus 62 landwirtschaftlichen Betrieben, wobei 11 Notschlachtungen keinem Herkunftsbetrieb zugeordnet werden konnten. Einzelne Betriebe führten innerhalb des Erfassungszeitraumes bis zu 71 Notschlachtungen durch. Insgesamt 34 Tierärzte waren in der Attestierung der Notschlachtungen involviert. Einzelne Tierärzte bescheinigten bis zu 136 Notschlachtungen. Die häufigsten Diagnosen waren Frakturen (n = 174), Traumata (n = 169) und Rupturen (n = 145). Weiterhin wurden Tiere aufgrund von Ausgrätschen, Aggressivität, Arthrose, Prolaps uteri oder eines Augentumors notgeschlachtet. Bei 112 Notschlachtungen waren die Zeitangaben zum Zeitpunkt der Schlachttieruntersuchung und der eigentlichen Notschlachtung des Tieres unvollständig. Wenn die Zeitangaben vollständig und zudem plausibel waren, der Schlachtzeitpunkt also nach dem Zeitpunkt der Schlachttieruntersuchung lag, wurden die meisten Rinder (n = 184) innerhalb von einer Stunde nach der Schlachttieruntersuchung notgeschlachtet. Bei 16 Tieren vergingen ≥ 12 Stunden zwischen der Schlachttieruntersuchung und der eigentlichen Notschlachtung. Die größte Zeitspanne betrug bei einem Rind 54 Stunden. Die Rinder mit entsprechenden Verzögerungen von ≥ 12 Stunden wiesen Femur-, Fesselbein- oder Metakarpus-Frakturen auf. Diskussion Notschlachtungen scheinen eine große Bedeutung für landwirtschaftliche Betriebe und die Tierärzteschaft zu haben. Dabei werden die Anforderungen an eine Notschlachtung nicht immer erfüllt. Unvollständig 112 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ ausgefüllte oder mit unterschiedlichen Schriftarten bzw. Handschriften versehene Begleitscheine stellen die Plausibilität der Notschlachtungen in Frage. Es wurden Tiere notgeschlachtet, deren Diagnosen nicht auf ein akutes Unfallgeschehen zurückzuführen sind (z. B. Arthrose, Prolaps uteri, Augentumor), weshalb die Notschlachtungen nicht gerechtfertigt gewesen sind. Die Ernennung approbierter Tierärzte zu amtlichen Tierärzten für die Schlachttieruntersuchung bei Notschlachtungen verfolgt das Ziel, aufgrund der schnelleren Verfügbarkeit bestandsbetreuender Tierärzte, länger anhaltende Schmerzen und Leiden akut verunfallter Tiere zu vermeiden. Anhand der vorliegenden Dokumentenprüfung wird deutlich, dass dieses Ziel nicht immer pauschal erreicht wird. Insbesondere bei Verzögerungen von über 12 Stunden zwischen der Schlachttieruntersuchung und der Notschlachtung bei Vorliegen von Frakturen, ist von länger anhaltenden erheblichen Schmerzen, Leiden und Schäden der Tiere und demnach von Straftatbeständen nach § 17 Nr. 2b des Tierschutzgesetzes auszugehen. Schlussfolgerungen • Die Ernennung approbierter Tierärzte zu amtlichen Tierärzten sollte aufgrund des bestehenden Interessenskonfliktes dieser kritisch geprüft und überwacht werden. • Amtliche Tierärzte und die ernannten amtlichen Tierärzte sollten sich zu Tierschutz, Lebensmittelhygiene, Kommunikation und Ethik fortbilden. • Es braucht eindeutige Indikationen und Kontraindikationen zu Notschlachtungen. Einzelfallbezogene Entscheidungen, ob eine Notschlachtung indiziert ist, sollten entfallen. • Bei verunfallten Tieren müssen schnellstmöglich Entscheidungen getroffen werden – aller spätestens innerhalb von 12 Stunden. • Die Notschlachtung sollte unverzüglich nach der Schlachttieruntersuchung erfolgen. In Abhängigkeit von der Schmerzhaftigkeit der Verletzung sind Zeitspannen von > 2 Stunden zwischen der Schlachttieruntersuchung und der Notschlachtung nicht zu tolerieren. Literatur Die Literatur liegt beim Verfasser. Kontakt Dr. Philipp Rolzhäuser; Institut für Lebensmittelhygiene, Professur Fleischhygiene, Universität Leipzig philipp.rolzhaeuser@vetmed.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 113

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Künstliche Intelligenz in der Fleischhygiene - Entwicklung eines Detektionssystems für Kontaminationen mit Kamerasystemen Gereon Schulze Althoff1, M. Upmann2 und J. Tholen2 1Tönnies Lebensmittel GmbH & Co KG; 2Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Lemgo Im Rahmen des vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geförderten „KontRed“-Projekts arbeiten Tönnies Lebensmittel GmbH & Co. KG und die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe gemeinsam mit der CLK GmbH an der digitalen Erkennung von Schlachtkörperkontaminationen mittels Videobildanalysen. Anschließend sollen durch entsprechende Maßnahmen der Prozesslenkung diese eliminiert und damit die Senkung der mikrobiellen Belastung von Schlachtkörpern erreicht werden. Ziel des „KontRed“- Projekts ist insbesondere, das Risiko der Kontamination mit Zoonoseerregern zu vermindern und damit die Sicherheit von Schweinefleischprodukten zu verbessern. Um alle Kontaminationen auf den Schlachtkörpern erfassen zu können, sind fünf Farbkameras an der Schlachtlinie zwischen Eviszeration und dem teilweisen Spalten der Tiere verbaut, vier ventral und eine dorsal. Pro Kamera sorgen jeweils zwei Beleuchtungseinheiten für eine optimale Ausleuchtung. Auf Grundlage von annotierten Bildern wird der KI-basierte Algorithmus angelernt. Vorher erstellte Spezifikationen sorgen für ein zuverlässiges Einzeichnen der Kontaminationen auf bereits aufgenommenen Bildern. Als Kontaminationen zählen Darm- und Mageninhalt sowie Galle und Rohrbahnfett, wobei die ersten beiden genannten mikrobiell mehr von Bedeutung sind. Das Verknüpfen der Bilder mit den Schlachtnummern ermöglicht das Einbeziehen der Daten in die Lebensmittelkette und erhöht damit zusätzlich die Sicherheit des Verbrauchers. Schlussendlich wird ein Vergleich von einer Datenaufnahme direkt vor Ort am Schlachtband mit geschultem Personal gegenüber dem Kamerasystem durchgeführt. Dieser direkte Vergleich von Mensch und Maschine gibt Auskunft über die Effektivität des Kamerasystems. Dabei liegt das Augenmerk auf kleinen stecknadelkopfgroßen Kontaminationen, die schnell übersehen werden können. Vorangegangene Untersuchungen zeigten, dass es sich dabei vor allem um Darmkontaminationen handelt, die für einen Anstieg der mikrobiellen Belastung der Schlachtkörperoberfläche sorgen können. Kontakt Dr. Gereon Schultze Althoff; Tönnies Lebensmittel GmbH & Co. KG, Rheda-Wiedenbrück 114 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Erste Ergebnisse des Projektes „Hofnahe Schlachtung im Dialog“ Stefanie Wolter, Philipp Rolzhäuser, Lydia Engel, Amina Barhoum, Lea Trampenau, Ahmad Hamedy Institut für Lebensmittehygiene, Leipzig Einleitung Lebendtiertransporte stellen im Hinblick auf das Tierwohl und die Fleischqualität die kritischste, stressigste und belastendste Phase für das Tier dar (1). Doch nicht nur der Transport an sich, auch der Umgang mit den Tieren beim Verladen, Fangen bzw. Treiben, Ruhigstellen und Schlachten kann bei den Tieren Stress verursachen (2). Wie in den Erwägungsgründen der Verordnung (EG) 2021/1374 dargelegt, stellt die sogenannte teilmobile Schlachtung eine Option zur Verbesserung des Tierschutzes und zur Vermeidung möglicher Tierschutzprobleme beim Verladen und dem Transport dar. So ist seit der Novellierung der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 im September 2021 die Schlachtung von bis zu drei Hausrindern, sechs Hausschweinen oder drei Schlachtequiden im Herkunftsbetrieb mit Genehmigung der zuständigen Behörde unter bestimmten Anforderungen gestattet (3, 4). Ziele Ziel des Projektes „Hofnahe Schlachtung im Dialog“ ist es, den Status quo mobiler Schlachtungen hinsichtlich der Verfahrensweisen, des Tierschutzes und der Hygiene zu ermitteln. Des Weiteren sollen offene Frage- und Problemstellungen aufgedeckt und ein Erfahrungsaustausch aller beteiligten Akteure (Tierärzt:innen, derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes sowie der erhobenen Daten soll schlussendlich ein praxisnaher, zielgruppenorientierter Wissenstransfer in Form eines E-Learning-Kurses mit Lehrfilmen, Best-Practice- Beispielen, Praxisleitfäden und Lernerfolgskontrollen erfolgen. Landwirt:innen, Fleischer:innen) ermöglicht werden. Anhand des Vor diesem Hintergrund werden im Rahmen des Projektes Schlachtungen im Herkunftsbetrieb wissenschaftlich begleitet. Material und Methoden In einer webbasierten Umfrage (Laufzeit: Dezember 2022 bis März 2023) wurden die beteiligten Berufsgruppen zur mobilen Schlachtung befragt. Neben demographischen Daten, wurden Aspekte zur Durchführung mobiler Schlachtungen sowie zur Wahrnehmung von Chancen und Risiken dieser Schlachtverfahren erfragt. Darüber hinaus fand im März 2023 ein Workshop mit allen Beteiligten der Wertschöpfungskette statt, um den Erfahrungsaustausch zwischen Tierärzt:innen, Landwirt:innen und Fleischer:innen zu realisieren. Seit Beginn des Jahres 2023 steht die wissenschaftliche Begleitung von bisher vier landwirtschaftlichen Betrieben, welche teilmobile Schlachtungen (2 Betriebe – Weidetötung mittels Kugelschuss, 2 Betriebe – Hoftötung mittels Bolzenschuss) praktizieren, im Fokus. Dabei werden betriebsspezifische Daten (z.B. Bestandsgröße und Rassen) sowie die Prozessabläufe (z.B. beteiligte Personen, Zeitintervalle: Ruhigstellung- Betäubung-Entbluten-Ankunft im Schlachtbetrieb-Eviszeration) erfasst. Überdies wird das Verhalten von Schlachttier und Herde sowie die Betäubungseffektivität beurteilt. Außerdem werden Blut-, Speichel-, Kot- und Muskelproben zur Cortisol-Bestimmung nach dem Entbluten am toten Schlachttier entnommen, bakteriologische Untersuchungen in Anlehnung an die AVV-LmH von Organ- und Muskelproben sowie mikrobiologische Untersuchungen der Schlachttierkörperaußenseite wie auch der Bauchhöhle durchgeführt. Ergebnisse und Ausblick Aufgrund der geplanten Datenerhebung bis voraussichtlich zum Jahresende (2023), können zum jetzigen Zeitpunkt keine finalen Aussagen getroffen werden. Grundsätzlich können mobile Schlachtungen aber durch den Verzicht auf Lebendtiertransporte und der Schlachtung in gewohnter Umgebung ein tierschonendes alternatives Schlachtverfahren darstellen. Dennoch 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 115

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ ist der Umgang mit den Tieren vor und während der Schlachtung sowie die Betäubung und die Erfahrung des Betäubenden/des Schützen von zentraler Bedeutung. Außerdem sind eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen allen beteiligten Akteuren erforderlich. Erste Ergebnisse der mikrobiologischen Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Prozesshygiene bei mobilen Schlachtungen eingehalten wird. Die Frage, welchen Einfluss die Transportzeit des toten Tieres bzw. die verzögerte Eviszeration auf eine potentielle Translokation darmassoziierter Mikroorganismen hat, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Eine Erweiterung der Betriebe für die Datenerhebung um solche, die den Weideschuss praktizieren und auf die Tierart Schwein, ist geplant. Außerdem ist vergleichend die Beprobung von konventionell geschlachteten Rindern im kommenden Jahr beabsichtigt. Förderhinweis Das Projekt „Hofnahe Schlachtung im Dialog – Untersuchungen zur Hofnahen Schlachtung im Hinblick auf Tierschutz und Verbraucherschutz mit Wissenstransfer ist Teil der Modell- und Demonstrationsvorhaben (MuD) Tierschutz im Bundesprogramm Nutztierhaltung. Die Förderung erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages, Projektträger ist die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Förderkennzeichen «2820MDT330». für die Praxis“ Literatur 1. 2. 3. 4. Chulayo A-Y, Muchenje V. Activities of some stress enzymes as indicators of slaughter cattle welfare and their relationship with physico-chemical characteristics of beef. Animal 2017; 11 (9): 1645–1652. EFSA AHAW Panel. Welfare of cattle at slaughter. EFSA (EFSA Journal) 2020; 18 (11): 1-107. Anon. Verordnung (EG) NR. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs. VO (EG) 853/2004 2004. Anon. Delegierte Verordnung (EU) 2021/1374 der Kommission vom 12. April 2021 zur Änderung von Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs. Delegierte VO (EU) 2021/1374 2021. Kontakt Stefanie Wolter; Institut für Lebensmittelhygiene, Leipzig stefanie.wolter@vetmed.uni-leipzig.de 116 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Vollzug in der Lebensmittelüberwachung - das Bermudadreieck zwischen Kontrolle, Anordnung und Sanktion Thomas Stegmanns, Ulrike Kaiser Amt für öffentliche Ordnung, Landeshauptstadt Stuttgart Die Durchführung der Lebensmittelüberwachung, insbesondere bei Betriebskontrollen sowie Probenentnahme und Untersuchung, wird in der Regel von einem Qualitätssicherungskonzept begleitet und in allen Bundesländern sowie bei allen Unteren Verwaltungsbehörden vergleichbar sein. Die Themenkreise behördliche Anordnungen zur Gefahrenabwehr und Sanktion des Fehlverhaltens als Konsequenz der Abweichung von rechtlichen Vorgaben ist jedoch nicht von einem Qualitätssicherungskonzept und von einheitlichem Handeln gekennzeichnet. Sehr oft wird bei sogenannten „Skandalen“ in Lebensmittelbetrieben berichtet, dass aufgrund einer Vielzahl von Kontrollen und nicht abgestellter Mängel eine Situation entstanden ist, die von der Öffentlichkeit verständnislos zur Kenntnis genommen wird. Stellt sich im Verlauf oder im Nachgang zu einer Kontrolle heraus, dass Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nicht nur mündlich vor Ort getroffen werden müssen, sondern auch durch Anhörungen, verwaltungsrechtliche Anordnungen bis hin zu Zwangsgeldfestsetzungen durchzusetzen sind, ist ein möglichst einheitliches Handeln der Verwaltungsbehörde erforderlich. Das konsequente Abstellen von Mängeln in Betrieben ist mindestens so wichtig wie die Betriebskontrolle selbst. Eine retrospektive Sanktionierung der vorgefundenen Mängel sollte selbstverständlich sein und erhöht in vielen Fällen die Bereitschaft des Lebensmittelunternehmers, sich in Zukunft an die rechtlichen Vorgaben zu halten. Im Rahmen der Sanktionen ist zu unterscheiden zwischen Ordnungswidrigkeiten, die nach dem Opportunitätsprinzip verfolgt werden können, und Straftaten, die zwingend zu verfolgen sind. Anhand mehrerer Beispiele werden im Vortrag die jeweiligen rechtlichen Grundlagen für Ordnungswidrigkeitsverfahren bzw. Strafverfahren dargestellt. Kontakt Dr. Thomas Stegmanns Ulrike Kaiser Amt für öffentliche Ordnung, Stuttgart poststelle.32-23@stuttgart.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 117

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ BMEL - ein Arbeitsplatz für Tierärzte - Organisation und Aufgaben Markus Schick Abteilungsleiter 3 – Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Berlin Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft Im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) arbeiten rund 1.100 Beschäftigte in Bonn und Berlin. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bietet Tierärztinnen und Tierärzten ein breitgefächertes Angebot an Arbeitsbereichen. Derzeit stellen Tierärztinnen und Tierärzte mit mehr als 50 Beschäftigten nach den Juristinnen und Juristen und Agrarwissenschaftlerinnen und Agrarwissenschaftlern die drittgrößte akademische Berufsgruppe im BMEL. Sie arbeiten in verschiedenen Abteilungen des BMEL. Abb.1: Übersicht Organisation BMEL Ministerielle Aufgaben - Regierungsfunktionen erfüllen und unterstützen • Gestaltung und Koordination von Politikfeldern • Realisierung von politischen Zielen, Schwerpunkten und Programmen • verantwortlich gegenüber dem Parlament • Beteiligung an Gesetzgebungsverfahren • • Steuerungs- und Aufsichtsfunktion gegenüber dem nachgeordneten Geschäftsbereich internationale Zusammenarbeit 118 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Tierärztinnen und Tierärzte sind durch Ihre Ausbildung breit und flexibel einsetzbar. Sie arbeiten kompetent und engagiert an verbraucherpolitischen und gesamtgesellschaftlichen Themen. Neben der Arbeit in den Fachreferaten bietet das BMEL auch die Möglichkeit, bei der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Europäischen Union in Brüssel zu arbeiten. Daneben sind Tätigkeiten bei den Institutionen der EU selbst oder anderen internationalen Organisationen, wie z. B. der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) in Rom, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf möglich oder eine Tätigkeit als Ernährungs- und Landwirtschaftsreferentin / -referent auf einem der 19 Auslandsposten des BMEL an den deutschen Botschaften. Tierärztinnen und Tierärzte sind als Teil des öffentlichen Veterinärwesens mit einem breiten Aufgabenspektrum Innerhalb der Bundesregierung erstellt das BMEL die rechtlichen Rahmenbedingungen im Bereich Tiergesundheit, Tierschutz und im gesundheitlichen Verbraucherschutz. Dabei arbeitet das BMEL eng mit den Bundesländern und auf europäischer Ebene mit der EU-Kommission zusammen. für den Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier befasst. Schwerpunktmäßig arbeiten Tierärztinnen und Tierärzte im BMEL in der Abteilung 3 - Lebensmittelsicherheit und Tiergesundheit. Die Abteilung 3 bearbeitet in insgesamt 12 Fachreferaten folgende Themen: Lebensmittelsicherheit • One Health Tiergesundheit • Lebensmittelüberwachung, und Krisenmanagement • Rückstände und Kontaminanten • • • Fleischhygiene und Lebensmittelhygiene Futtermittelsicherheit und Tierernährung Lebensmittelrecht und Ernährungsvorsorge • • • Tierschutz Tiergesundheit Tierseuchen, EU-Handel und Tierseuchen-Krisenzentrum • Veterinärangelegenheiten beim Export Tierarzneimittel • • Recht der Veterinärberufe Fachlich unterstützt wird das BMEL durch eigene Ressortforschungseinrichtungen und Behörden des Bundes. Julius-Kühn-Institut (JKI) Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen Zur Ressortforschung gehören die Bundesforschungseinrichtungen: • Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) • • Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit • Max-Rubner-Institut (MRI) Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel • Johann Heinrich von Thünen-Institut (Thünen-Institut) Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei • Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ) 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 119

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ sowie die Behörden • Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) • Bundesanstalt für Ernährung und Landwirtschaft (BLE) Das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI), das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) werden von der Abteilung 3, BMEL betreut. Aktuelle Themen sind u.a. One Health, Antibiotikaeinsatz bei Tieren minimieren, die Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest (ASP) und der Aviären Influenza (HPAI), der Umbau der Tierhaltung oder das Tierschutzgesetz. Daneben sind die Lebensmittel- und Futtermittelhygiene und –sicherheit ein festes Aufgabengebiet. Vor dem Hintergrund der Pandemie und des Krieges gegen die Ukraine verbunden mit einer Energiemangellage und der Bedrohung der Kritischen Infrastruktur ist die Ernährungssicherstellung und Ernährungsvorsorge in den Blickpunkt gerückt. Mit einem eigenen Referat ist das Thema One Health im BMEL neu verankert. One Health ist ein kollektiver, vereinender Ansatz, der darauf abzielt, die Gesundheit von Menschen, Tieren und Umwelt nachhaltig ins Gleichgewicht zu bringen bzw. zu optimieren. Der One Health-Ansatz mobilisiert verschiedene Sektoren, Disziplinen und Gemeinschaften auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft, um gemeinsam Bedrohungen der Gesundheit und der Ökosysteme zu bekämpfen und den Bedarf an sauberem Wasser, Energie und Luft sowie an sicheren und nahrhaften Lebensmitteln zu decken, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen und zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Hierzu gehört auch der Auftrag aus dem aktuellen Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung: „Wir werden den wirkstoff- und anwendungsbezogenen Antibiotikaeinsatz in landwirtschaftlichen Betrieben erfassen und senken.“ Erstmals wurde mit der Farm-to-Fork-Strategie der Europäischen Kommission für ein nachhaltiges Agrar- und Ernährungssystem ein Reduktionsziel von minus 50 Prozent für Antibiotika verankert. Die neuen Regelungen zur Antibiotikaminimierung sollen einen Beitrag leisten, dieses Reduktionsziel zu erreichen. kurativen Eingriffen, den Zirkus betreffend Hervorzuheben ist der umfassende große Auftrag mit über 20 Vereinbarungen im Koalitionsvertrag im Bereich Tierschutz. Beispiele sind Regelungen zum Online-Handel von Heimtieren, zur Anbindehaltung, zu nicht sowie die Schaffung des Amtes einer Bundestierschutzbeauftragen. Mit dem Tierhaltungskennzeichnungsgesetz wird eine verpflichtende staatliche Tierhaltungskennzeichnung eingeführt. Mit der Tierhaltungskennzeichnung wollen wir den Umbau der landwirtschaftlichen Tierhaltung voranbringen. Im Bereich Tiergesundheit ist das BMEL in den letzten Jahren intensiv mit der Bekämpfung der ASP und HPAI gefordert. Biosicherheit, Aufklärung, Freilandhaltung, Jagd und Impfoptionen stehen im Mittelpunkt. Das BMEL hat auch die Zukunft des Berufsbildes der Tierärztinnen und Tierärzte im Blick und hat die Möglichkeit das Berufsrecht mit zu gestalten. Ein Beispiel hierfür ist die neue Tierärztegebührenordnung (GOT). Das nächste Projekt in diesem Bereich ist die Änderung der Tierärztlichen Approbationsverordnung (TAppV). Ein Änderungsbedarf wird – insbesondere vor dem Hintergrund des Tierärztinnen- und Tierärztemangels – seitens der Veterinärmedizinischen Fakultäten gesehen. Wenn Sie die Zukunft der vielfältigen Fachthemen unseres Berufes aktiv mitgestalten möchten und sich für eine Tätigkeit an der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung interessieren, ist das BMEL ein interessanter Arbeitgeber. Auch befristete Abordnungen sind möglich. Das BMEL bietet flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit, mobil zu arbeiten und weitere Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf neben einem vielfältigen Fortbildungsangebot sowie einem umfangreichen betrieblichen Gesundheitsmanagement einschließlich einer aktiven Sportgemeinschaft. Willkommen im BMEL. Kontakt Prof. Dr. Dr. Markus Schick; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Berlin AL3@bmel.bund.de 120 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Das neue Tierarzneimittelrecht und die Konsequenzen für die Anwendung immunologischer Tierarzneimittel Max Bastian Ständige Impfkommission Veterinärmedizin am Friedrich-Loeffler-Institut; Greifswald – Insel Riems Seit dem 28. Januar 2022 ist die neue, europäische Tierarzneimittel (TAM)-Verordnung (EU) 2019/06 in Kraft. Sie stellt in Deutschland unmittelbar geltendes Recht dar. Die Verordnung gilt sowohl für immunologische als auch für nicht-immunologische Tierarzneimittel. Auf nationaler Ebene wurde in Reaktion auf die neue Verordnung das Tierarzneimittelrecht aus dem AMG herausgelöst. Das neue Tierarzneimittelgesetz (TAMG) enthält Durchführungsbestimmungen zu den Vorschriften der EU-Verordnung und nationale Regelungen zu Tierarzneimitteln, die von der EU-Verordnung nicht erfasst werden, sowie die Regelungen zu Straftatbeständen und Ordnungswidrigkeiten. Explizit erstreckt sich der Geltungsbereich des TAMG nicht auf immunologische Tierarzneimittel, die unter Verwendung von Krankheitserregern oder auf biotechnischem, biochemischem oder synthetischem Weg hergestellt werden und bestimmt sind zur Vorbeugung, Heilung oder Erkennung von Tierseuchen oder zur Erzeugung einer unspezifischen Reaktion des Immunsystems. Soweit EU-Recht dem nicht entgegensteht, werden solche immunologischen Tierarzneimittel damit weiterhin über das Tiergesundheitsgesetz (TierGesG) reguliert. Dieses Gesetz wurde zuletzt am 21. Dezember 2022 geändert. Eine Aktualisierung ist aufgrund der Änderungen, die sich aus dem EU-Tiergesundheitsrechtsakt (AHL) und aus der Tierarzneimittelverordnung, TAM-Verordnung (EU) 2019/6, ergeben, geplant und in Vorbereitung. In Bezug auf die Anwendung immunologischer Tierarzneimittel ergeben sich aus der TAM-Verordnung im Vergleich zur bisherigen Rechtssituation Veränderungen: (i) Die zulassungskonforme Anwendung von Tierarzneimitteln steht stärker als bisher im Vordergrund. (ii) Die Möglichkeit der Umwidmung wird nun unmissverständlich auch immunologische Tierarzneimittel eingeführt. (iii) Die Anwendung von Tierimpfstoffen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU zugelassen sind, wird in der TAM-Verordnung deutlich vereinfacht. Dagegen wird der Import von Tierimpfstoffen aus Drittländern weiterhin restriktiv gehandhabt. (iv) Erstmalig sind in der TAM-Verordnung auch europaweite Regelungen enthalten, die die Herstellung und Anwendung bestandsspezifischer Tierimpfstoffe betreffen. für Im Vortrag werden diese Änderungen anhand von Beispielen erläutert. In der Abschlussdiskussion wird den Teilnehmern Gelegenheit gegeben, eigene Beispiele zu nennen und Anregungen für die Arbeit der StIKo Vet zu geben. Kontakt Dr. Max Bastian; Geschäftsstelle der Ständigen Impfkommission Veterinärmedizin am Friedrich-Loeffler- Institut, Greifswald – Insel Riems stikovet@fli.de 122 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Die Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest bei Wildschweinen in Sachsen: Langzeiterfahrungen Michael Richter Landesdirektion Sachsen Die Afrikanische Schweinepest (ASP) breitet sich in Europa und mittlerweile auch in Deutschland weiter aus. Ein singulärer Ausbruch in einem Hausschweinebestand ist, wie die Beispiele in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Baden-Württemberg gezeigt haben, mit den vorhandenen Instrumenten der Tierseuchenbekämpfung durchaus gut beherrschbar und erfolgreich zu bekämpfen. Bei einer Einschleppung in die Wildschweinpopulation bestehen dagegen viele Unwägbarkeiten. In den drei Jahren der Bekämpfung der ASP bei Wildschweinen wurden in Sachsen verschiedene Instrumente eingesetzt, um die Seuche möglichst wirkungsvoll aufzuhalten. Schwerpunkte sind hierbei die intensive Fallwildsuche zur Absenkung des Erregerdruckes in der Fläche, der Bau von Zäunen, um den Bewegungsradius der Wildschweine einzuschränken sowie Jagd und Entnahme zur Reduktion der Population. Für die drei östlichsten Bundesländer ist die Situation insofern eine besondere, da der kontinuierlich hohe Erregerdruck aus dem angrenzenden Mitgliedsstaat faktisch nicht zu beeinflussen ist und die eingeleiteten Bekämpfungsmaßnahmen zum Teil erheblich erschwert. Die Einrichtung eines Schutzkorridors mit Doppelzäunungen soll hier Abhilfe schaffen. Die Verhinderung der Einschleppung des ASP Virus in die Hausschweinebestände bleibt wichtigstes Ziel in der für die aufwendige Reduzierung der Erregerlast letztendlich auch Motivation ist und Wildschweinepopulation. Die Krisenstrukturen im Freistaat Sachsen, die gute Zusammenarbeit der beteiligten Behörden und die Kommunikation mit den Verbänden werden im Vortrag kurz dargestellt. Kontakt Dr. Michael Richter; Landesdirektion Sachsen; Stauffenbergallee 2; 01099 Dresden Michael.Richter@lds.sachsen.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 123

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Auslaufhaltung von Hausschweinen vor dem Hintergrund der Wildschweinepest in Sachsen Arianna Ceruti1, Evelin Ullrich2, Sven Biereder3, Stephan Koch4, Gerd Möbius1, Ahmed Abd El Wahed1, Uwe Truyen1 1Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Universität Leipzig; 2Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, Dresden; 3Sächsisches Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft, Dresden; 4Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Dresden Einleitung Die Schweinehaltung ist der zweitwichtigste Betriebszweig der Landwirtschaft in Deutschland und hat sich in den vergangenen Jahrzenten gewandelt. Allein in Sachsen ist der Schweinebestand seit 1989 um zwei Drittel gesunken. Dabei stellen Tierwohlanforderungen, abnehmende Akzeptanz der Verbraucher und Wirtschaftlichkeit der Schweinehaltungen zentrale Herausforderungen dar. Der Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest (ASP) verstärkt dieses Problem massiv. Mit der geplanten Umstrukturierung der Nutztierhaltung in Deutschland soll das Tierwohl auch in der Schweinehaltung verbessert werden. Für sächsische Betriebe im gefährdeten Gebiet nach Feststellung der ASP im Wildschweinebestand besteht im Moment grundsätzlich allerdings ein Aufstallungsgebot, so dass unabhängig von der Möglichkeit des Auslaufes für die Schweine eine Vermarktung des Fleisches als ‚Biofleisch‘ bzw. Fleisch aus einer entsprechenden Tierwohlstufe langfristig nicht möglich ist. Dies ist für die betroffenen Landwirte mit erheblichen ökonomischen Verlusten verbunden und verhindert Investitionen in höhere Tierwohlstandards. Durch eine im September 2023 herausgegebene Allgemeinverfügung kann zwar im Einzelfall durch die Kommune nach Risikoabschätzung auf eine Aufstallung verzichtet werden, da jedoch auch in nächster Zeit nicht mit einem Rückzug der ASP zu rechnen ist, würde die Möglichkeit zur Haltung von Schweinen in Haltungssystemen mit einem entsprechend gesichertem Auslauf für die Landwirte Planungssicherheit und für die Schweinehaltung auch die Möglichkeit für ein höheres Tierwohl trotz eines erhöhten Tierseuchenrisikos gewährleisten. Zielstellung Ziel dieses Projektes ist es, Kriterien für eine strukturierte Hygieneanalyse mit besonderer Berücksichtigung von Biosicherheitsmaßnahmen für eine Risikominimierung zum Eintrag der Afrikanischen Schweinepest für Betriebe mit Auslaufhaltung zu erarbeiten. Zusätzlich erfolgt eine betriebsindividuelle Bewertung der ökonomischen Auswirkungen bedingt durch erforderliche Baumaßnahmen zur Absicherung der Ausläufe gegen den Eintrag von kontagiösem Material durch Vögel und kleine Beutegreifer. Die gewonnen Erkenntnisse und Hygieneanalyse werden in eine wissenschaftlich begründeten Entscheidungshilfe einfließen, welche eine Anwendung im Einzelfall zur Unterstützung von Landwirten und zuständigen Behörden ermöglicht. Material und Methoden In die Untersuchungen wurden acht Schweinebetriebe mit Auslaufhaltung/ Freilandhaltung im Freistaat Sachsen und Brandenburg einbezogen. Basierend auf der bereits vorhandenen Gesundheitsanalyse Schwein des Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) wurde eine strukturierte Hygieneanalyse mit einem besonderen Augenmerk auf Biosicherheitsmaßnahmen zur Minimierung des Risikos des ASP- Eintrages für Schweinehaltungsbetriebe mit Auslaufhaltung erstellt. Die Kriterien zur Beurteilung der Hygienesituation wurden angepasst, um insbesondere das Risiko der Auslaufhaltung beurteilen zu können. Auf der Grundlage der Status Praesens Erhebung der Biosicherheit in den Pilotbetrieben wurden Aufwand und Praktikabilität der erforderlichen baulichen Maßnahmen zur Verhinderung des Erregereintrages mit Hilfe einer Stallbaufirma ökonomisch bewertet. Es wurde ein betriebsindividueller Maßnahmenkatalog zur Umsetzung notwendiger Biosicherheitsmaßnahmen erarbeitet. 124 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Ergebnisse Die beteiligten Betriebe wurden mittels der Hygieneanalyse im Hinblick auf verschiedene Kriterien der Biosicherheit bewertet. Die bauliche Struktur der Ausläufe war sehr unterschiedlich in Bezug auf Überdachung, Auslaufzaun/ -abgrenzung, Standortgegebenheiten sowie allgemeine Biosicherheitsmaßnahmen. Zentrale Herausforderungen waren ein vollständig undurchlässiger Geländezaun von 1,50 Meter Höhe, ein klares Schwarz-Weiß-Prinzip sowie ausreichende Reinigung und Desinfektionsmaßnahmen. Zusammen mit einer Stallbaufirma wurden betriebsindividuelle Maßnahmenkataloge ausgearbeitet. Diese deckten sowohl allgemeine Biosicherheitsempfehlungen also auch auslaufspezifische Maßnahmen ab, welche wiederum betriebsindividuelle Netzkonstruktionen und Zaunverdichtungen einschlossen. Schlussfolgerung ist wünschenswert, um weiterhin eine ökologische und Die Ermöglichung einer langfristigen Schweinehaltung mit Auslauf trotz Feststellung der Wildschweinepest im gefährdeten Gebiet tiergerechte Schweinefleischerzeugung sicherzustellen. Mittels dieser Studie sollten anhand verschiedener Auslauf- und Freilandhaltungen wissenschaftlich fundierte und praktikable Maßnahmen herausgearbeitet werden, welche den Eintrag des ASP-Erregers über den Auslauf verhindern oder verringen können. Die entwickelte Hygieneanalyse dient als Grundlage, um strukturierte Biosicherheitskriterien zu bewerten und daraus Maßnahmen zu entwickeln. Hiermit können Betriebe und zuständige Behörden betriebsindividuelle Maßnahmen erarbeiten, welche ggf. eine Schweinhaltung im Auslauf trotz einem erhöhten ASP-Risikos ermöglichen und so den Umgang mit der Wildschweinepest in Sachsen erleichtern kann. Kontakt Dr. Arianna Ceruti; Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Universität Leipzig arianna.ceruti@uni-leipzig.de Prof. Dr. Uwe Truyen, Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Universität Leipzig truyen@vetmed.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 125

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Zeckenaktivität Christina Strube, Julia Probst, Andrea Springer Institut für Parasitologie, Zentrum für Infektionsmedizin, Tierärztliche Hochschule Hannover Einleitung Zecken stellen insbesondere durch ihre Vektorfunktion für Pathogene eine Gesundheitsgefährdung für Mensch und Tier dar, und sind daher im One Health-Kontext von hoher Bedeutung. Im Zuge des Klimawandels und anderer anthropogener Einflüsse ist von einer veränderten Gefährdung von Mensch und Tier hinsichtlich der Verbreitung, aber auch der saisonalen Aktivität von Zecken auszugehen. Diese Aspekte sollen anhand der unerwartet raschen deutschlandweiten Ausbreitung der Wiesenzecke (veraltet auch „Auwaldzecke“) Dermacentor reticulatus (1,2) sowie der nunmehr erfolgenden Winteraktivität von Zecken (3,4) näher beleuchtet werden. Deutschlandweite Ausbreitung von Dermacentor reticulatus Die Buntzeckenart D. reticulatus, die sogenannte Wiesenzecke, befällt unter den Haustieren insbesondere Hunde. Sie ist der Überträger von Babesia canis, dem Erreger der nicht selten letalen Hundebabesiose. Während diese Zeckenart noch vor wenigen Jahren vorrangig in Nordost- und Südwestdeutschland heimisch war und insbesondere im Nordwesten bzw. hohen Norden Deutschlands fehlte, erreichte im Jahr 2019 erstmals ein D. reticulatus-Exemplar aus Hannover unser Institut. Dieser und ein weiterer Fund in einer bislang D. reticulatus-freien Region veranlasste uns, gemeinsam mit KollegInnen anderer Einrichtungen eine Citizen- Science-Studie zur neuen Verbreitung dieser Zeckenart zu initiieren (1,2). Insgesamt wurden knapp 7200 Buntzecken von den BürgerInnen eingesandt, davon 5802 D. reticulatus, 1362 D. marginatus (Schafzecke) sowie 30 nicht sicher identifizierbare Exemplare. Anhand der Angaben zum Fundort und den Umständen des Auffindens wurde die Verlässlichkeit des Fundortes bestimmt, und Exemplare mit einer hohen und mittleren Genauigkeit in einer Karte verzeichnet. Diese offenbarte, dass seit dem Jahr 2016 eine rasante Ausbreitung über das gesamte Bundesgebiet erfolgt war – in nunmehr jedem Bundesland wurde D. reticulatus bis zum Jahr 2022 aufgefunden (Abb. 1). Dass D. reticulatus im hohen Norden Deutschlands heimisch geworden ist, zeigte sich am Befall eines Hundes mit 50 Wiesenzecken nach einem Jagdeinsatz im schleswig-holsteinischen Bordesholm (2). Zu diesem „Feldzug“ mit der Eroberung neuer Areale trägt das Reisen mit Hunden wesentlich bei, was insbesondere durch Funde auf den Inseln Sylt und Föhr deutlich wird. Infolge dieser Ausbreitung der Wiesenzecke besteht nunmehr in ganz Deutschland die Gefahr der kaninen Babesiose – einerseits durch den Import B. canis-infizierter Hunde, andererseits durch innerdeutsche Verschleppung. Die D. reticulatus-Exemplare der Citizen-Science-Studie werden daher momentan untersucht, und von den bisher ca. 3500 getesteten Zecken wiesen zwei eine B. canis-Infektion auf (5). Eine Zecke stammte von einem Hund aus Freiburg im Breisgau, einem seit langem bekannten B. canis-Endemiegebiet. Die zweite positive Zecke stammte von einem Hund aus dem bayerischen Fürth, für das bislang keine Berichte über das Vorkommen von B. canis vorliegen. Die Rückfrage bei den Besitzern ergab, dass diese am Vortag mit ihrem Hund zum Kaiserstuhl gereist waren, der nahe an Freiburg im Breisgau liegt. Dies zeigt deutlich, welche Verschleppungsgefahr von nicht gegen Zecken geschützten Hunden ausgeht. Winteraktivität von Zecken Durch die mit dem Klimawandel einhergehenden milderen Winter ist eine Veränderung der saisonalen Zeckenaktivität zu erwarten. So wurde im außergewöhnlich milden Winter 2006/2007 über eine zufällig beobachtete Aktivität von I. ricinus und D. reticulatus in Berlin berichtet (6) und auch in der Citizen-Science- Studie wurden in den kalendarischen Wintermonaten Dezember bis Februar kontinuierlich D. reticulatus- Exemplare eingesandt (1,2). 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 127

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Abb. 1: Geografische Herkunft der D. reticulatus-Exemplare der Citizen-Science Studie zwischen Februar 2019 und Mai 2021 [adaptierte Abbildung nach Springer et al. 2023 (2), CC BY 4.0 DEED]. Um eine mögliche Winteraktivität erstmals systematisch zu untersuchen, haben wir eine Studie konzipiert, um über drei Ansätze das Zeckenexpositionsrisiko in den Monaten Dezember bis Februar zu erfassen: Mittels sogenannter Zeckenplots wurde das Heraufkrabbeln von I. ricinus und D. reticulatus auf die Vegetation in einem quasi-natürlichen Freiland-Mikrohabitat beobachtet. Des Weiteren erfolgte eine Flaggstudie im Feld, bei der an sechs I. ricinus-Standorten (je drei bei Hannover bzw. Marburg) und drei D. reticulatus-Standorten (nordöstliches Niedersachsen) das aktive Überkrabbeln, also die aktive Wirtssuche, quantifiziert wurde. Der dritte Ansatz beinhaltete die Auswertung des Zeckenbefalls von Hund und Katze in den Wintermonaten im Rahmen einer tierärztlichen Einsendestudie aus Deutschland und Österreich (3). Alle drei Studienansätze belegten eine Winteraktivität von Zecken (4), wie in Abb. 2 exemplarisch dargestellt. In den Freilandplots wurden durchschnittlich 1 % der eingesetzten I. ricinus- und 15-20 % der eingesetzten D. reticulatus-Zecken in den Monaten Dezember bis Februar auf den die Vegetation simulierenden Holzstäben angetroffen. Bei der Flaggstudie im Feld wurden auf einer Fläche von 100 m2 in den Wintermonaten durchschnittlich zwei I. ricinus und 23 D. reticulatus quantifiziert. Ebenso wurden in der tierärztlichen Einsendestudie, die die Wintermonate Dezember bis Februar 2020/2021 inkludierte, kontinuierlich von Hunden und Katzen abgesammelte Zecken eingesandt. Insgesamt stammten 3,3 % aller in der Einsendestudie abgesammelten Zecken (651/19514) aus diesen Wintermonaten, davon 600 Exemplare von deutschen Hunden und Katzen, unterteilt in 297 Ixodes- und 303 Dermacentor-Zecken. Während beim Hund im Winter D. reticulatus gefolgt von I. ricinus vorherrschte, waren bei der Katze I. ricinus und die Igelzecke Ixodes hexagonus die häufigsten Arten (4). Hervorzuheben ist noch, dass sich die Aktivitätsmuster dieser Zeckenarten komplementieren. So zeigte D. reticulatus, die im Vergleich zu I. ricinus eine höhere Kältetoleranz aufweist, insbesondere in den kühleren Monaten des Jahres (September bis März) die höchste Aktivität (2-4), während I. ricinus in den wärmeren Monaten stärker aktiv ist. Aber nicht nur Hunde, sondern auch Katzen unterliegen einem ganzjährigen Expositionsrisiko, insbesondere auch, weil die Frequenz der mit der Igelzecke I. hexagonus befallenen Katzen in den Wintermonaten im Vergleich zu den Vormonaten stabil blieb (3,4). 128 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Abb. 2: Beispielhafte Ergebnisse zur Zeckenaktivität in den kalendarischen Wintermonaten Dezember bis Februar [adaptiertes graphisches Abstract nach Probst et al. 2023 (4), CC BY 4.0 DEED]. Fazit für die tierärztliche Praxis bzw. den Gesundheitsschutz von Mensch und Tier trifft nicht nur auf die recht kältetolerante Wiesenzecke D. Die Ergebnisse der vorgestellten Studien belegen, dass nunmehr eine Winteraktivität von Zecken erfolgt. Dies reticulatus zu, sondern alle Untersuchungsansätze zeigten, dass auch der Holzbock I. ricinus in den Wintermonaten auf Wirtssuche geht und diese befällt. Die Komplementarität der Hauptaktivitätszeiten dieser beiden Zeckenarten sowie die ebenfalls im Winter aktive Igelzecke I. hexagonus unterstreichen eindrücklich das ganzjährige Expositionsrisiko von Hunden und Katzen. Hinsichtlich des Trends zu milderen Winterperioden ist zukünftig eine noch konstantere und höhere Winteraktivität von Zecken zu erwarten, was ein ganzjähriges Risiko von zeckenübertragenen Krankheiten für Mensch und Tier nach sich zieht. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass die Winteraktivität der Zecken im Zuge des Klimawandels auch ein treibender Faktor für die Ausweitung des Zeckenvorkommens in der Breite und Höhe ist, wodurch sich die Gefährdung erneut erhöht. Eine ganzjährige Zeckenprophylaxe mit zugelassenen Akariziden ist daher für Hunde und Katzen dringend zu empfehlen, für Hunde insbesondere auch, um die Ausbreitung von B. canis bzw. eine lebensbedrohliche Babesiose zu verhindern. Insgesamt kann ein lückenloses Schutzsystem dazu beitragen, die weitere Ausbreitung von Zecken und von diesen übertragenen Pathogenen in bisher nicht endemische Regionen zu begrenzen, um im Rahmen des One-Health-Konzeptes Mensch und Tier bestmöglich zu schützen. Literatur 1. Drehmann M, Springer A, Lindau A, Fachet K, Mai S, Thoma D, Schneider CR, Chitimia-Dobler L, Bröker M, Dobler G, Mackenstedt U, Strube C. The spatial distribution of Dermacentor ticks (Ixodidae) in Germany-evidence of a continuing spread of Dermacentor reticulatus. Front Vet Sci. 2020;7:578220. 2. Springer A, Lindau A, Probst J, Drehmann M, Fachet K, Thoma D, Rose Vineer H, Noll M, Dobler G, Mackenstedt U, Strube C. Update and prognosis of Dermacentor distribution in Germany: Nationwide occurrence of Dermacentor reticulatus. Front Vet Sci. 2022;9:1044597 3. Probst J, Springer A, Strube C. Year-round tick exposure of dogs and cats in Germany and Austria: results from a tick collection study. Parasit Vectors. 2023;16(1):70. 4. Probst J, Springer A, Topp AK, Bröker M, Williams H, Dautel H, Kahl O, Strube C. Winter activity of questing ticks (Ixodes ricinus and Dermacentor reticulatus) in Germany - Evidence from quasi-natural tick plots, field studies and a tick submission study. Ticks Tick Borne Dis. 2023;14(6):102225. 5. Springer A, Lindau A, Probst J, Fachet K, Dobler G, Mackenstedt U, Strube C. Detection of Babesia canis in Dermacentor reticulatus from Germany. Proceedings des 15th International Symposium of Ticks and Tick-Borne Diseases; 29.- 31.03.2023; Weimar. S. 141. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 129

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Die Bekämpfung der Salmonelleninfektionen beim Schwein vor dem Hintergrund einer planmäßigen Serologie Thomas May, Veit Zoche-Golob QS Qualität und Sicherheit GmbH In Deutschland werden Salmonelleninfektionen bei Menschen nach dem Infektionsschutzgesetz überwacht. Sie sind die zweithäufigste meldepflichtige bakterielle Ursache für gastrointestinale Erkrankungen bei Menschen. Allerdings muss von einer erheblichen Dunkelziffer unerkannter Salmonelleninfektionen bei Menschen ausgegangen werden, weil gesunde Erwachsene häufig keine deutlichen klinischen Symptome zeigen und daher keine mikrobiologische Diagnostik erfolgt (1). Das QS-System ist der führende Standard für Lebensmittelsicherheit in Deutschland. QS steht für Qualitätssicherung vom Landwirt bis zur Ladentheke (2). Seit 2004 sind alle Schweinemastbetriebe im QS-System zur Teilnahme am QS-Salmonellenmonitoring verpflichtet. Das QS-Salmonellenmonitoring hat zum Ziel, den Eintrag von Salmonellen in die Fleischproduktionskette zu kontrollieren. Die Schweinemastbetriebe im QS-System werden vierteljährlich in drei Risikokategorien eingeteilt. Grundlage der Kategorisierung ist die Häufigkeit von Salmonellenantikörpern in Stichproben der geschlachteten Schweine. Betriebe mit mittlerem oder hohem Risiko für den Eintrag von Salmonellen in die Fleischproduktionskette müssen Maßnahmen zur Risikominimierung umsetzen (3). Stichproben und Untersuchungen Zur Untersuchung werden in den Schlachtbetrieben im QS-System Fleischsaftproben (oder Blutproben) entnommen. Die erforderliche Probenzahl pro Jahr richtet sich nach der Anzahl der Mastplätze und der erwarteten jeden Betrieb einen Beprobungsplan, welcher von den Probenehmern abrufbar ist und entsprechend der eingehenden Untersuchungsergebnisse aktualisiert wird. So wird eine gleichmäßige Verteilung der Proben über einen Zeitraum von zwölf Monaten sichergestellt. jährlichen Produktion. Die QS-Salmonellendatenbank erstellt für Im Ausnahmefall können auch Blutproben von Schweinen innerhalb von 14 Tagen vor der Schlachtung auf dem Mastbetrieb durch eine Tierärztin/ einen Tierarzt genommen werden (3). Die Proben werden in Laboren, die am QS-System teilnehmen, serologisch auf Salmonellen-Antikörper untersucht. Zur Untersuchung dürfen nur QS-anerkannte Testsysteme verwendet werden (3). Mit diesen Testsystemen werden Antikörper gegen Salmonellen mehrerer Serogruppen nachgewiesen, nicht nur gegen Salmonella typhimurium (4). Ab einer optischen Dichte von mindestens 40 % wird eine Probe als positiv eingestuft (3). Für eine Risikoabschätzung des Salmonelleneintrags in die Nahrungsmittelkette aus Endmastbetrieben ist der indirekte Salmonellennachweis wegen der intermittierenden Erregerausscheidung direkten Nachweisverfahren überlegen (4). Kategorisierung Regelmäßig viermal pro Jahr werden die Schweinemastbetriebe im QS-System kategorisiert entsprechend ihrem Risiko für den Eintrag von Salmonellen in die Nahrungsmittelkette (jeweils am ersten Februar, Mai, August und November). Der Anteil positiver Proben innerhalb von 365 Tagen bildet die Grundlage der Kategorisierung. Dabei werden nur Proben berücksichtigt, welche spätestens vier Wochen vor dem Kategorisierungstermin entnommen wurden. Das Risiko wird niedrig, mittel und hoch) eingeschätzt bei höchsten 20 %, bzw. über 20 bis 40 % und bei über 40 % positiven Proben (Kategorie I, II und III). Wenn ein Mastbetrieb für einen Auswertungszeitraum nicht vollständig und gleichmäßig Proben geliefert hat, kann dieser Betrieb seine Kategorie und damit die Lieferberechtigung im QS-System verlieren, bis eine erneute Kategorisierung möglich ist (3). Über die Benutzeroberfläche der QS-Salmonellendatenbank kann sich ein Schweinemastbetrieb ständig über die Kategorie und die Erfüllung des Beprobungsplans informieren. Droht eine Einstufung in Kategorie III 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 131

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ oder tritt diese erstmals ein, wird der für den Mastbetrieb zuständige QS-Bündler informiert, um den Betrieb auf notwendige Maßnahmen zu hinzuweisen. Risikominimierung Bei einer Einstufung im QS-System zu einer Schwachstellenanalyse ihrer Betriebshygiene verpflichtet. Zum Nachweis über diese Kontrolle steht eine Checkliste zur Verfügung (3). II sind Schweinemastbetriebe in Kategorie in für Salmonellen Schweinemastbetriebe, die in Kategorie III eingestuft wurden, müssen in Abstimmung mit ihrer betreuenden Tierarztpraxis die Eintragsquelle identifizieren und geeignete Biosicherheitsmaßnahmen ergreifen (3). Bei der Suche nach der Eintragsquelle sind bakteriologische Untersuchungen notwendig, wobei pro Betrieb mindestens etwa fünf Sammelkotproben oder Sockentupfer genommen werden sollten (4). Weitere bakteriologische Untersuchungen von Umgebungsproben sollten situationsabhängig durchgeführt werden, um die Eintragsquelle zu finden und/oder den Erfolg von Maßnahmen zu kontrollieren. ihren Betrieb Abbildung 1: Entwicklung der Kategorisierung im QS-Salmonellenmonitoring (Stand 11. Feb. 2023) Entwicklung Seit der Einführung des QS-Salmonellenmonitorings hat der Anteil der Schweinemastbetriebe in Kategorie III mit hohem Risiko für den Eintrag von Salmonellen in die Nahrungsmittelkette kontinuierlich abgenommen. Allerdings stagnierte der Anteil der Mastbetrieb mit niedrigem Risiko (Kategorie I) bzw. ging sogar ebenfalls leicht zurück, sodass sich die Gesamtsituation in den letzten Jahren nicht verändert hat. (Abb. 1) Um das Risiko für einen Eintrag von Salmonellen in die Nahrungsmittelkette zu reduzieren, sollten auch Schweinemastbetriebe der Kategorie I, bei denen der Anteil positiver Proben im QS-Salmonellenmonitoring ansteigt, bereits Untersuchungen nach möglichen Eintragsquellen einleiten und ihre Biosicherheitsmaßnahmen überprüfen. 132 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Der Grenzwert für positive Proben könnte im QS-System angepasst werden, um eine höhere Sensitivität für die Erkennung von Salmonelleninfektionen zu erreichen. Eine relative optische Dichte von 10 % bei einer serologischen Untersuchung mit den QS-zugelassenen Testsystemen weist auf eine Infektion hin (4). In Folge einer Anpassung dieses Grenzwerts würden mehr Schweinemastbetriebe in die Kategorien II und III fallen und zu Maßnahmen verpflichtet, um das Risiko eines Eintrags von Salmonellen in die Nahrungsmittelkette zu verringern und damit die Wahrscheinlichkeit von Salmonellenerkrankungen bei Menschen zu verringern. Literatur 1. Niemeyer H, Gebele U, Rostalski A: Salmonellen beim Schwein - Einleitung. In: Arbeitsgruppe Salmonellen der deutschen Schweinegesundheitsdienste. Salmonellen beim Schwein – Beratungsempfehlungen der Schweinegesundheitsdienste; 6. Aufl.; 2023. Verfügbar unter https://www.q-s.de/services/files/downloadcenter/h- salmonellenmonitoring/arbeitshilfe/deutsch/Beratungsempfehlungen%20der%20Schweinegesundheitsdienste,%206.Auflag e,%202023.pdf [abgerufen am 28.07.2023] 2. QS Qualität und Sicherheit GmbH. QS-Kurzportrait; Januar 2023; Bonn. Verfügbar unter https://www.q- s.de/services/files/mediencenter/aktuelle_systeminformationen/QS-Kurzportrait%20%28Stand%20Januar%202023%29.pdf [abgerufen am 28.07.2023] 3. QS Qualität und Sicherheit GmbH. Leitfaden Salmonellenmonitoring Schwein; Version 01.01.2023; Bonn. Verfügbar unter https://www.q-s.de/services/files/downloadcenter/h- salmonellenmonitoring/2023/leitfaeden/deutsch/Leitfaden_Salmonellenmonitoring_Schwein_01.01.2023.pdf [abgerufen am 28.07.2023] 4. Eisenberg T, May T: Indirekter Nachweis – serologische Untersuchungen. In: Arbeitsgruppe Salmonellen der deutschen Schweinegesundheitsdienste. Salmonellen beim Schwein – Beratungsempfehlungen der Schweinegesundheitsdienste; 6. Aufl.; 2023. Verfügbar unter https://www.q-s.de/services/files/downloadcenter/h- salmonellenmonitoring/arbeitshilfe/deutsch/Beratungsempfehlungen%20der%20Schweinegesundheitsdienste,%206.Auflag e,%202023.pdf [abgerufen am 28.07.2023] Kontakt Thomas May, QS Qualität und Sicherheit GmbH, Bonn thomas.may@q-s.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 133

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Die Rindersalmonellen-Verordnung: Ein überlebtes Relikt alten Rechts Jens Böttcher Tiergesundheitsdienst Bayern e.V. Einleitung Salmonellen (Salmonella (S.) enterica) verursachen die Rindersalmonellose. Die Serovar Dublin (Serogruppe D) ist an das Rind adaptiert, daneben werden auch S. Typhimurium (Serogruppe B), S. Enteritidis (Serogruppe D) und Salmonellen der Serogruppe C bei Rindern nachgewiesen [1, 2]. Die Möglichkeiten eines Infektionseintrags sind vielfältig (kontaminiertes Futter, Tier- und Personenkontakte, etc.). Einzelne Tiere können eine persistente Infektion entwickeln. Sie können die Infektion über lange Zeiträume in der Herde halten [3]. Immunsuppressive Zustände begünstigen die Entwicklung klinischer Erkrankungen und persistenter Infektionen. Färsen ab einem Alter von 1 Jahr bis zur ersten Kalbung und Kühe im Zeitraum um die Geburt wiesen ein erhöhtes Risiko auf [4]. Durchfall, septikämische Infektionsverläufe und Aborte (!) können in Folge einer Infektion auftreten. In einer Meta-Analyse untersuchten Gutema und Mitarbeiter das weltweite Auftreten der Rindersalmonellose und ermittelten für Europa eine Prävalenz von 2%, sie lag in Nordamerika bei 16% [5, 6]. Überwachungsprogramme in den Niederlanden und in Dänemark sind auf eine Kontrolle der S. Dublin- Infektion ausgerichtet [3, 7]. Im Rahmen dieser Programme stehen serologische Testverfahren im Vordergrund. Im Gegensatz hierzu ist die Rindersalmonellose (alle Serovare!) in Deutschland anzeigepflichtig. Die Anzeigepflicht betrifft alle Serovare, ist unabhängig von einer klinischen Erkrankung und bezieht den Nachweis bei anderen Tierarten in Rinderhaltungen mit ein. Weiterhin sind serologische Testverfahren nicht zugelassen und werden auch nicht eingesetzt. Die Bekämpfung erfolgt aufgrund der Rindersalmonellose-Verordnung. Ein Erregernachweis führt zur Sperre des Betriebes und kann teilweise zu sehr langwierigen und umfangreichen Kotuntersuchungen führen. Für das Rind zugelassene Salmonellen-Impfstoffe sind in Deutschland nicht mehr verfügbar. Die Arbeitsgruppe Infektionskrankheiten der Rindergesundheitsdienste Deutschlands (AGIRGD) unter Vorsitz von Dr. Peter Heimberg, Haus Düsse, nahm eine Anfrage des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Forsten an das Nationale Referenzlabor am Friedrich-Loeffler-Institut zur Beibehaltung der Anzeigepflicht und der Rindersalmonellose-Verordnung zum Anlass, eine Stellungnahme zu verfassen. In dieser Stellungnahme spricht sich die Arbeitsgruppe einstimmig gegen eine Beibehaltung der Verordnung und Anzeigepflicht aus, eine Meldepflicht wird als ausreichend angesehen. Stellungnahme der AG Infektionskrankheiten der Rindergesundheitsdienste in Deutschland (AGIRGD) zu Fragen des BMEL im Kontext „Zukünftiger Umgang mit der Rindersalmonelloseverordnung (RindSalmV) aus dem Jahr 1972“ Autoren: Böttcher, Jens, TGD Bayern, Donat, Karsten, TGD Thüringen, Falkenberg, Ulrike, TSK Mecklenburg-Vorpommern, Heimberg, Vorsitz, Peter, TGD Nordrhein-Westfalen, Komorowski, Christine, TSK Mecklenburg-Vorpommern, Linder, Miriam, LAV Sachsen-Anhalt, Lorenz, Ingrid, TGD Bayern, Münnich, Lisa, TGD Rheinland-Pfalz, Rohde, Mirjam, TGD Hessen, Rohn, Marina, LAVG Brandenburg, Schmidt, Mandy, TSK Sachsen, Seeger, Hans-Jürgen, TGD Aulendorf / Baden-Württemberg, Taffe, Bernd, TGD Sachsen- Anhalt, Willig, Jörg, TGD Niedersachsen Das BMEL richtete drei Fragen zum zukünftigen Umgang mit der Rindersalmonellose an das FLI: 1) Stellt die Rindersalmonellose ein erhebliches Risiko für die Gesundheit gehaltener Rinder dar 2) Werden staatliche Maßnahmen im Sinne der Rindersalmonellose-Verordnung (unter Berücksichtigung der lebensmittelhygienerechtlichen Risikominimierungsmaßnahmen) im Hinblick auf die Minimierung von Risiken für die öffentliche Gesundheit (weiterhin) als erforderlich erachtet? 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 135

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ 3) Wird die Durchführung einer allgemeinen Überwachung der Rindersalmonellose (i. S. einer Meldepflicht) in Übereinstimmung mit der Zoonose-Richtlinie als ausreichend für eine Risikoeinschätzung im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit erachtet? In Kenntnis der Stellungnahme des NRL am FLI hat sich auch die AGIRGD sich dieser Fragen angenommen und kommt zu einer abweichenden Bewertung der Sachlage, die nachfolgend dargestellt wird. Einleitend stellt die AGIRGD fest, dass Vorgaben und Maßnahmen der jetzigen RindSalmV aus dem Jahr 1972 ein großes Hemmnis, wenn nicht sogar eine große Gefahr für eine auf Früherkennung angewiesene Tierseuchendiagnostik darstellen. Aus Sorge davor, mit arbeits- und kostenintensiven Maßnahmen gemäß RindSalmV belegt zu werden, verzichten Rinderhalter vor allem in größeren Betrieben immer wieder darauf, erforderliche pathologisch- anatomische und mikrobiologische Diagnostik zur ergebnisoffenen Abklärung von Krankheits- und Todesursachen bei Kälbern und Kühen durchführen zu lassen. Diese fehlende Untersuchungsbereitschaft ist dabei nicht nur nachteilig für eine frühzeitige Erkennung eines relevanten Tierseuchenausbruchs, auch Fragen des Tierschutzes und der Antibiotikaminimierung wären mit mehr pathologisch-anatomischer und mikrobiologischer Diagnostik besser zu erfassen. Ein einfaches Festhalten an der bestehenden Verordnung ist daher aus Sicht der AGIRGD in Hinblick auf die Beförderung einer Tierseuchendiagnostik, die der Tierhalter aktiv mitträgt, kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass die Rindersalmonellose im „Europäischen Tiergesundheitsrechtsakt“ (Verordnung (EU) 2016/429 in Verbindung mit Durchführungsverordnung (EU) 2018/1882 der Kommission nicht mehr kategorisiert ist, weshalb auch eine nationale RindSalmV im derzeitigen Umfang in Hinblick auf das Tierseuchenrecht nicht nur unverhältnismäßig wäre, sondern auch wettbewerbsverzerrend. Wenn überhaupt, dann wäre eine den geänderten Betriebsstrukturen angepasste, grundlegende Überarbeitung der VO zwingend notwendig! Zur Beantwortung der Fragen im Einzelnen: Ad 1) Stellt die Rindersalmonellose ein erhebliches Risiko für die Gesundheit gehaltener Rinder dar? Deutschlandweite Auswertungen aus TSN (01.01.2012 bis 01.10.2022), durchgeführt in Rheinland-Pfalz, haben gezeigt, dass bei fast 40% der Salmonellenbefunde kein klinischer Seuchenverdacht vorlag, also augenscheinlich gar keine Klinik im Bestand beobachtet wurde. Von allen 179.025 Rindern, die in den 966 betroffenen Betrieben des Zeitraumes standen, waren insgesamt nur 1,7 % der Tiere als klinisch erkrankt vermerkt. Dabei bleibt offen, ob und wenn ja welche anderen Begleitfaktoren (Umwelt, Fütterung, andere Erreger) neben den nachgewiesenen Salmonellen noch beteiligt waren, und welchen Einfluss sie auf das klinische Bild hatten. Diese Zahlen decken sich mit den Eindrücken von Außendienstmitarbeitern der Rindergesundheitsdienste, die in entsprechende Ausbruchsszenarien involviert waren. Somit sieht die AGIRGD das von Salmonellen ausgehende Gesundheitsrisiko für Rinderbestände als eher gering ein. Die Maßnahmen nach RindSalmV sind daher aus Sicht der Tiergesundheit nicht notwendig und im Vergleich zu Maßnahmen in anderen EU- Mitgliedsstaaten und insbesondere zum Vorgehen im Falle der Salmonellose des Schweines nicht verhältnismäßig. Auch bei der jetzigen Regelung einer verpflichtenden Bekämpfung gibt es unter den Betrieben, die aus vorgenannter Angst nicht untersuchen lassen, eine Dunkelziffer von Betrieben, in denen Salmonellen vorkommen. Aufschluss hierüber gibt eine Untersuchung in Österreich, hier lag der Anteil Antikörper-positiver Tankmilchproben bei ca. 10-20% (Dünser, pers. Mitteilung). Trotzdem steigt die Zahl der jährlich erfassten Krankheitsausbrüche in Deutschland nicht an, sondern stagniert auf dem bekannten Niveau. Somit steht nach Auffassung der AGIRGD auch nicht zu befürchten, dass es mit Wegfall der Anzeigepflicht nach jetzigem Muster eine wesentliche Zunahme der Verschleppung von Salmonellen in andere Rinderbestände geben wird. Ad 2) Werden staatliche Maßnahmen (unter Berücksichtigung der lebensmittelhygienerechtlichen Risikominimierungsmaßnahmen) im Hinblick auf die Minimierung von Risiken für die öffentliche Gesundheit (weiterhin) als erforderlich erachtet? im Sinne der Rindersalmonellose-Verordnung 136 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Bezüglich des Zoonose Risikos durch Salmonellen vom Rind nimmt das an das Rind adaptierte Serovar S. Dublin einen sehr geringen Anteil ein. (Über den Zeitraums 2012 bis 2022 im Schnitt (jährlich) vier Nachweise bei Menschen (Quelle: RKI survstat Auswertung Oktober 2022). Demgegenüber stehen im Schnitt (jährlich) 3946 Nachweise von S. Enteritidis und 3662 von S. Typhimurium bei Menschen (Quelle: RKI survstat Auswertung Oktober 2022). Nachweise der beiden letztgenannten Serovare gehen dabei seit 2019 zurück, was in erster Linie einer erfolgreichen Bekämpfung der Salmonellose beim Geflügel zuzurechnen ist. Die folgende Abbildung der EFSA aus 2021 (EFSA Journal 2021, 19(12):6971) verdeutlicht eindrücklich den geringen Anteil von Rindersalmonellen bei der Übertragung auf den Menschen. (Die Abbildung ist aufgrund des Urheberrechts hier nicht dargestellt. Sie zeigt den geringen Anteil der Rinder im Vergleich zu Broilern, Legehennen, Puten und Schweinen am Salmonellosegeschehen des Menschen). Die AGIRGD sieht deshalb für vom Rind stammende Serovare von S. Enteritidis und S. Typhimurium sowie S. Dublin nur ein geringes bzw. sehr geringes Eintragsrisiko in die Lebensmittelkette. Die RindSalmV mit ihrem jetzigen Maßnahmenpaket wird von der AGIRGD daher auch in Hinblick auf das Zoonoserisiko als weder geeignet, noch für notwendig oder gar angemessen angesehen, um den Verbraucherschutz im Sinne einer weiteren Eintragsminimierung zielführend zu verbessern. Ad 3) Wird die Durchführung einer allgemeinen Überwachung der Rindersalmonellose (i. S. einer Meldepflicht) in Übereinstimmung mit der Zoonose-Richtlinie als ausreichend für eine Risikoeinschätzung im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit erachtet? Um die weitere Entwicklung dieser Infektionskrankheit mit Zoonosepotential in Rinderbeständen nach dem Wegfall der Anzeigepflicht im Blick zu behalten, wird eine Überwachung im Rahmen einer Meldepflicht auch weiterhin als sinnvoll angesehen. Die AGIRGD spricht sich für eine Aufnahme der Rindersalmonellose in die „Rinderhygieneleitlinie“ aus (= Empfehlungen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft für hygienische Anforderungen an das Halten von Wiederkäuer aus dem Jahr 2014), wobei hier in Abschnitt III „Hygienemaßnahmen bei besonderen Erkrankungen“ Grundzüge einer zielführenden angemessenen Seuchenbekämpfung für den Ausbruchsbetrieb hinterlegt werden können, wie es für die Coxiellose und Paratuberkulose bereits erfolgt ist. Im Rahmen eines allgemeinen Monitorings nach AHL können möglicherweise aussagekräftigere Zahlen zum tatsächlichen Vorkommen von Salmonellen beim Rind erhoben werden, als das bisher bei restriktiver Diagnostik der Fall war. Der Betrieb eines nationalen Referenzlabors für die Salmonellose des Rindes bleibt in seiner Bedeutung genauso notwendig wie der Betrieb eines Referenzlabors für Paratuberkulose oder Q-Fieber, nicht zuletzt um regional unterschiedliche, für zielführend angesehene Maßnahmen zu bewerten oder sich auch den Fragen der Umwidmung kommerzieller Impfstoffe zu stellen, da für das Rind in Deutschland keine Konfektionsimpfstoffe mehr verfügbar sind. Zusammenfassend stellt die Salmonellose des Rindes aus Sicht der AGIRGD zum jetzigen Zeitpunkt weder für die Gesundheit der Rinderbestände, noch als Zoonose-Erreger für den Menschen eine große Gefahr dar. Eine amtliche Bekämpfungspflicht, wie sie bisher praktiziert wurde, ist daher weder notwendig noch verhältnismäßig und nicht zielführend, sondern eher kontraproduktiv. Insoweit sollte die Anzeige- und Bekämpfungspflicht nach bisherigem Muster aus Sicht der AGIRGD abgeschafft werden und die Rindersalmonellose in eine Meldepflicht überführt werden. Gemeldet werden sollten in erster Linie, wie vom FLI vorgeschlagen, die drei wichtigsten beim Rind vorkommenden Serovare (S. Dublin, S. Typhimurium, S. Enteritidis) aber auch Exoten mit ausgeprägter Klinik. Unter Federführung des FLI sollten an die neuen Betriebsstrukturen angepasste Bekämpfungsmaßnahmen entwickelt und validiert werden und danach als Empfehlungen Einzug finden in die Rinderhygieneleitlinie - Ende der Stellungnahme. Anmerkungen und Schlussfolgerungen Die Rindersalmonellose hatte in mehrfacher Hinsicht negative Auswirkungen: Die Angst vor einer Sperre des Betriebes führte zu einem verbreiteten „Wegsehen“, d.h. notwendige Untersuchungen z.B. zur Aufklärung von Aborten wurden nicht durchgeführt. In der Folge verloren wir zugelassene Impfstoffe, die wir ansonsten im Rahmen Aussagekräftige Übersichtsuntersuchungen zur Erhebung der Verbreitung der Rindersalmonellose und die Entwicklung neuer Infektionsprophylaxe einsetzen einer sinnvollen hätten können. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 137

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Strategien zur Kontrolle der Infektion unterblieben. Sperren führten zu erheblichen finanziellen Einbußen. Darüber hinaus sind öffentliche Schlachtbetriebe, die infektionsverdächtige Tiere annehmen, kaum mehr vorhanden. Anhand von Einzelfällen wird deutlich, dass der Schlachterlös um etwa 60 % reduziert sein kann, obwohl eine bakteriologische Fleischuntersuchung problemlos möglich ist. Die Rindersalmonellose-Verordnung ist nicht mehr zeitgemäß. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Holschbach, C.L. and S.F. Peek, Salmonella in Dairy Cattle. Vet Clin North Am Food Anim Pract, 2018. 34(1): p. 133- 154. Nielsen, L.R., Review of pathogenesis and diagnostic methods of immediate relevance for epidemiology and control of Salmonella Dublin in cattle. Vet Microbiol, 2013. 162(1): p. 1-9. Veling, J., et al., Evaluation of three newly developed enzyme-linked immunosorbent assays and two agglutination tests for detecting Salmonella enterica subsp. enterica serovar dublin infections in dairy cattle. J Clin Microbiol, 2000. 38(12): p. 4402-7. Nielsen, L.R., et al., Salmonella Dublin infection in dairy cattle: risk factors for becoming a carrier. Prev Vet Med, 2004. 65(1-2): p. 47-62. Gutema, F.D., et al., Corrigendum: Prevalence and Serotype Diversity of Salmonella in Apparently Healthy Cattle: Systematic Review and Meta-Analysis of Published Studies, 2000-2017. Front Vet Sci, 2019. 6: p. 184. Gutema, F.D., et al., Prevalence and Serotype Diversity of Salmonella in Apparently Healthy Cattle: Systematic Review and Meta-Analysis of Published Studies, 2000-2017. Front Vet Sci, 2019. 6: p. 102. Nielsen, L.R. and A.K. Ersboll, Factors associated with variation in bulk-tank-milk Salmonella Dublin ELISA ODC% in dairy herds. Prev Vet Med, 2005. 68(2-4): p. 165-79. Kontakt Dr. Jens Böttcher; Tiergesundheitsdienst Bayern e.V., Poing jens.boettcher@tgd-bayern.de 138 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Infektionserreger als potenzielle Ursache von Gehirnveränderungen bei Wildkarnivoren Jennifer Höche1, Robert Valerio House1, Anja Heinrich1, Annette Schliephake1, Kerstin Albrecht1, Martin Pfeffer2 und Christin Ellenberger1 1Landesamt für Verbraucherschutz Sachsen‐Anhalt, Fachbereich Veterinärmedizin, Stendal; 2Institut für Tierhygiene und Öffentliches Veterinärwesen, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig, Leipzig Meningitiden und/oder Enzephalitiden werden in Gehirnen von Wildkarnivoren während der Tollwutmonitoringprogramme diagnostiziert. Grundsätzlich wurde hierbei in Sachsen-Anhalt bisher bei nicht-eitrigen Gehirnentzündungen eine Infektion mit dem klassischen Tollwutvirus (RABV) ausgeschlossen. Zusätzlich erfolgte die Untersuchung der Tiere auf das Staupevirus (CDV). Andere Erreger werden routinemäßig nicht mitbetrachtet und die Ursache der Entzündungen bleibt daher oft unklar. lichtmikroskopisch regelmäßig Im Rahmen einer Dissertation sollte eine Übersicht über Krankheitserreger, die bei in Sachsen-Anhalt lebenden Wildkarnivoren histomorphologisch erfassbare Veränderungen im Gehirn auslösen können, gegeben werden. Darüber hinaus sollten vor allem Erreger identifiziert werden, die zoonotisches Potenzial besitzen und somit für Menschen, Wildtiere sowie für Haus- und Zootiere eine Gefahr darstellen können. Bei Nachweis spezifischer Krankheitserreger sollte versucht werden, anhand ihrer Verteilung in der Wildtierpopulation lokale, epidemiologisch bedeutsame Erregerreservoire ausfindig zu machen. Potenzielle Infektionsquellen und Übertragungsmöglichkeiten und -wege sollten anhand der Ergebnisse betrachtet und diskutiert werden. Hierfür wurden in den Jahren 2016 und 2017 während des Tollwutmonitoringprogramms Gehirnproben von 1124 Wildkarnivoren mittels direktem Immunfluoreszenztest auf RABV sowie unter Einsatz molekularbiologischer Methoden auf das CDV untersucht. Für den Nachweis des Aujeszky-Virus (SuHV-1), West-Nil-Virus (WNV), Borna disease virus 1 (BoDV-1), kaninen Herpesvirus Typ 1 (CaHV-1), kaninen Parvovirus Typ 2 (CPV-2), Fuchscircovirus (FoxCV) und von Neospora caninum (N. caninum) wurden ebenfalls molekularbiologische Methoden genutzt. Darüber hinaus erfolgten bakteriologische Untersuchungen zum möglichen Nachweis spezifisch pathogener Bakterien, wie z. B. von Listeria monocytogenes (L. monocytogenes). Von allen Tieren wurden die Gehirne zudem histopathologisch befundet und ausgewählte Fälle auf Toxoplasma gondii (T. gondii)-Antigen immunhistochemisch untersucht. CDV wurde am häufigsten und in allen Landkreisen/kreisfreien Städten Sachsen-Anhalts gefunden (31,1 %), gefolgt von FoxCV (6,8 %, Erstnachweis in Deutschland) und CPV-2 (6,4 %), die in nahezu allen Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auftraten. Zudem erfolgten Einzelnachweise von T. gondii (4/15; 26,7 %), Nematodenlarven (1,5 %), L. monocytogenes (0,3 %) und anderen Bakterien (1,4 %). Bei 68 Tieren (6,1 %) wurden in den untersuchten Gehirnproben mehrere Erreger gleichzeitig gefunden. Nicht nachgewiesen wurden das RABV, WNV, BoDV-1, SuHV-1, CaHV-1 und N. caninum. Bei 440 der untersuchten Tiere wurden mit der Lichtmikroskopie im Gehirn morphologisch erfassbare Veränderungen diagnostiziert. Dabei handelte es sich am häufigsten um Entzündungen (320/440; 72,7 %), die überwiegend nicht-eitrig (280/320; 87,5 %) und in vielen Fällen mit weiteren reaktiven, (wie z. B. der Gliose, Satellitose, Neuronophagie a. Vakuolisierung/Demyelinisierung der weißen Substanz) kombiniert waren. Bei 192 Tieren lagen im Gehirn Befunde ohne spezifische Erregernachweise vor. degenerativen Veränderungen neuronaler Nekrose) (u. und und/oder Die Untersuchungen zeigten, dass Wildkarnivoren in Sachsen-Anhalt v. a. Träger von dem CDV aber auch von anderen, teilweise zoonotischen Erregern sind, die eine Gefahr für den Menschen, empfängliche Haus- und Zootiere oder die Wildtierpopulation selbst darstellen können. Diese waren nahezu im gesamten Bundesland verbreitet. Zwar wurden RABV, SuHV-1, WNV und BoDV-1 nicht gefunden, doch sind Überwachungsprogramme und weitere Studien erforderlich, um die Rolle von Wildkarnivoren in der Epidemiologie spezifischer Erreger, insbesondere beim WNV oder BoDV-1, genauer zu untersuchen. Für 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 141

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Bakterien mit zoonotischem Potenzial, wie L. monocytogenes, Salmonella spp. und Yersina spp. sowie für Parasiten, wie T. gondii und Nematodenlarven wären Monitoringprogramme anzuraten. Diese Erreger stellen ein besonders hohes Risiko für gefährdete Menschen, aber auch für Personen, wie Jäger oder Landwirte mit engem Kontakt zu Wildtieren, dar. Vor allem der fäkal-orale Übertragungsweg erfordert neben einer genaueren Bewertung des von infizierten Wildkarnivoren ausgehenden Infektionsrisikos auch eine Einschätzung der potenziellen Kontamination der Umwelt, was wiederum ein Infektionsrisiko für andere freilebende Wild- und ggf. für Haustiere, wie Hunde, darstellen kann. Da es sich bei den untersuchten Wildkarnivoren um Arten handelt, die in der Nähe des Menschen leben, stellen sie auch ein potenzielles Infektionsrisiko für diesen und seine Haustiere dar. Die Ätiologie der nachgewiesenen Gehirnveränderungen konnte nicht in jedem Fall aufgeklärt werden. Bei 192 Tieren war trotz histomorphologischer Befunde im Gehirn kein Erregernachweis möglich. Es ist daher anzunehmen, dass weitere, von uns nicht ausgewählte, ggf. neuartige Infektionserreger (wie das Rustrela-Virus, Influenza-A-Viren oder das Frühsommer-Meningoenzephalitis-Virus) als Ursache der Gehirnveränderungen in Betracht zu ziehen sind. Hier könnten weiterführende, sich anschließende diagnostische Untersuchungsverfahren, z. B. Next Generation Sequencing (NGS) in Kombination mit der Metagenomanalyse, zur Aufklärung beitragen. Kontakt Dr. Jennifer Höche; Landesamt für Verbraucherschutz Sachsen‐Anhalt, Fachbereich Veterinärmedizin, Stendal jennifer.hoeche@sachsen-anhalt.de 142 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Aktuelle Tierschutzvorhaben in Deutschland und der EU Katharina Kluge Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Bonn Verbindliche Tierhaltungskennzeichnung Im Koalitionsvertrag ist die Einführung einer verbindlichen Tierhaltungskennzeichnung vereinbart. Das Konzept beinhaltet, dass grundsätzlich alle Lebensmittel tierischer Herkunft beim Inverkehrbringen mit einer Information über die Haltungsform, in der das Tier gelebt hat, gekennzeichnet werden müssen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat im Herbst 2022 den Entwurf eines Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes vorgelegt, der im Oktober 2022 vom Kabinett beschlossen wurde. Das Gesetzgebungsverfahren konnte im Sommer 2023 abgeschlossen werden, das Gesetz ist am 23. August 2023 im Bundesgesetzblatt verkündet worden und am 24. August 2023 in Kraft getreten (1). Nach einer Übergangsfrist dürfen vom Anwendungsbereich des Gesetzes umfasste Lebensmittel – das ist frisches Fleisch vom Schwein aus deutscher Produktion – ab August 2025 nur noch mit der Information zur Haltungsform an Endverbraucher und Endverbraucherinnen abgegeben werden. Bis dahin kann die Kennzeichnung bereits freiwillig verwendet werden. Tierhaltende Betriebe melden bis August 2024 die Haltungsformen ihrer Haltungseinrichtungen an die zuständige Behörde und belegen die Haltungsform durch entsprechende Dokumente. Der Vollzug des Gesetzes erfolgt durch die Länder, diese müssen in einem ersten Schritt jeweils festlegen, welche Behörden zuständig sind. Das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz unterscheidet die Haltungsformen „Stall+Platz“, „Frischluftstall“, „Auslauf/Weide“ und „Bio“. Die Kriterien, die die Haltungsformen definieren, sind in einer Anlage zum Gesetz enthalten. Der maßgebliche Haltungsabschnitt ist die Mast. Aus EU-rechtlichen Gründen gilt die Verbindlichkeit nur für Lebensmittel, bei deren Produktion ab der Mast alle Schritte in Deutschland stattgefunden haben. Produkte aus anderen Mitgliedstaaten oder aus Drittländern unterfallen der Kennzeichnungspflicht nicht, können aber auf freiwilliger Basis an dem Kennzeichnungssystem teilnehmen. „Stall“, In weiteren Schritten sollen unter anderem weitere Nutztierarten, Produktarten (verarbeitete Produkte) und Vermarktungskanäle (Außer-Haus-Verpflegung) folgen. Dazu wird das Gesetz entsprechend erweitert werden, dies ist in der Struktur des Gesetzes bereits angelegt. Änderung des Tierschutzgesetzes – Anpassung von Regelungen im Zusammenhang mit dem Verbot des Kükentötens Mit der „Änderung des Tierschutzgesetzes – Verbot des Kükentötens“ wurde das sog. „Eintagskükentöten“, das heißt das Töten von Küken aus wirtschaftlichen Gründen, zum 1. Januar 2022 verboten (2). Das damalige Gesetz sah zudem vor, dass ab 2024 auch das Töten von Hühnerembryonen im Zusammenhang mit der Geschlechtsbestimmung im Ei nach dem sechsten Bebrütungstag nicht mehr erlaubt sein sollte. Diese Regelung ging von dem damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aus, dass ab dem siebten Bruttag das Vorhandensein eines Schmerzempfindens des Embryos nicht ausgeschlossen werden kann. Inzwischen kam ein Forschungsprojekt zu dem Schluss, dass bis einschließlich des zwölften Bruttags das Vorhandensein eines Schmerzempfindens ausgeschlossen werden kann. Daher wurde der Bruttag, ab dem ein Töten von Hühnerembryonen im Zusammenhang mit der Anwendung von Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei verboten ist, von Tag sieben auf Tag dreizehn nach hinten verschoben. Die Gesetzesänderung in § 4c Absatz 3 Tierschutzgesetz ist am 23. August 2023 im Bundesgesetzblatt verkündet worden, die Regelung tritt am 1. Januar 2024 in Kraft. Entsprechende Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei sind am Markt verfügbar. Daneben wird weiterhin ein maßgeblicher Anteil der männlichen Küken als Bruderhahn aufgezogen. Zur Sicherung des Tierschutzes und zur Berücksichtigung von Praxiserfahrungen ist daher geplant, Anforderungen an das Halten von Bruderhähnen in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung zu ergänzen. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 143

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Weitere geplante Änderung des Tierschutzgesetzes Zudem ist eine umfassendere, mehrere Themenbereiche betreffende, Änderung des Tierschutzgesetzes geplant, mit der verschiedene Vereinbarungen des Koalitionsvertrages umgesetzt werden sollen. Unter anderem sollen neue Ansatzpunkte geschaffen werden, nicht-kurative Eingriffe weiter zu begrenzen, insbesondere das Kupieren der Schwänze von Ferkeln. Hierzu sollen die späteren Halter der Tiere (z. B. die Mäster) stärker in die Verantwortung genommen werden. Ein weiterer Schwerpunkt der geplanten Änderung sind Regelungen zur Anbindehaltung von Tieren. Wiederaufgegriffen werden soll die Schaffung einer Rechtsgrundlage für tierschutzbezogene Kontrollen in Betrieben, die tierische Nebenprodukte verarbeiten (VTN-Betriebe). Ein entsprechender Gesetzentwurf lag dem Bundestag bereits in der vergangenen Legislaturperiode vor, ist von diesem jedoch nicht behandelt worden und dadurch der Diskontinuität unterfallen. Zudem soll eine Videoüberwachung in Schlachthöfen eingeführt werden. Der Qualzuchtproblematik soll mit einem Ausstellungs- und Werbeverbot für betroffene Tiere begegnet werden. Das im Tiererzeugnisse- Handelsverbotsgesetz bestehende Abgabeverbot zur Schlachtung von hochträchtigen Tieren, das bislang die kleinen Wiederkäuer nicht umfasst, soll auf diese ausgeweitet werden. Für die Umsetzung weiterer Vereinbarungen des Koalitionsvertrages müssen Ermächtigungen im Tierschutzgesetz geschaffen werden, damit entsprechende Regelungen auf Verordnungsebene erfolgen können. Das BMEL hat einen Referentenentwurf zur Änderung des Tierschutzgesetzes erarbeitet. Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Mitte 2024 abgeschlossen werden. Ergänzung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung Die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung soll geändert werden und unter anderem um weitere Abschnitte ergänzt werden, mit denen für weitere Tierarten oder Produktionsabschnitte detaillierte Mindestvorgaben gemacht werden. Das BMEL hat Ende 2022 Eckpunktepapiere für entsprechende Anforderungen in Bezug auf Geflügelelterntiere, Junghennen, Bruderhähne und Mastputen an Länder und Verbände zur Stellungnahme übermittelt. Auf der Grundlage dieser Eckpunkte sowie der eingegangenen Stellungnahmen wurde ein Verordnungsentwurf erarbeitet, der derzeit weiter abgestimmt wird und danach Ländern und Verbänden zur Stellungnahme zugeleitet werden soll. Zudem enthält der Verordnungsentwurf Vorgaben zum Schutz vor Bränden. Diesbezüglich wurde der Regelungsbedarf in einer Länderarbeitsgruppe formuliert. Das Verfahren zur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung soll im ersten Halbjahr 2024 abgeschlossen werden. Tierschutz auf EU-Ebene voranbringen Die Europäische Kommission hat im Rahmen ihrer Farm-to-Fork-Strategie (2020) angekündigt, das bestehende EU-Tierschutzrecht überprüfen und überarbeiten zu wollen. Ziel ist ein höheres Tierschutzniveau, die Ausweitung des Anwendungsbereichs des EU-Rechts, die Anpassung des Rechts an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, an politische Prioritäten und an die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger. Außerdem soll die Durchsetzung des EU-Rechts vereinfacht werden. Die Europäische Kommission hatte zudem angekündigt, Optionen für ein EU-Tierwohllabel prüfen zu wollen und die Forderungen der Europäischen Bürgerinitiative „End the Cage Age“ umsetzen zu wollen. Zwischenzeitlich war deutlich geworden, dass die zuständige Arbeitseinheit der Kommission vier Vorschläge vorbereitet hat, die die Themenbereiche Halten, Transport, Schlachten und Kennzeichnung betreffen. Zuletzt haben sich allerdings die Anzeichen gemehrt, dass die Vorschläge innerhalb der Kommission nicht verabschiedet worden sind, so dass der weitere Fortgang abzuwarten bleibt. Literatur 1. 2. Tierhaltungskennzeichnungsgesetz vom 17. August 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 220) (TierHaltKennzG). Gesetz zur Änderung des Öko-Landbaugesetzes, des Öko-Kennzeichengesetzes und des Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes – Verbot des Kükentötens vom 17. August 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 219). Kontakt Dr. Katharina Kluge; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Bonn katharina.kluge@bmel.bund.de 144 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Katastrophenprävention im Rinderstall Florian Diel1,2, Elke Rauch2, Carola Sauter-Louis3, Rupert Palme4, Eva Zeiler1 1Fakultät Nachhaltige Agrar- und Energiesysteme, Hochschule Weihenstephan-Triesdorf; 2Lehrstuhl für Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung, LMU München; 3Institut für Epidemiologie, Friedrich-Löffler-Institut; 4Abteilung für Physiologie, Pathophysiologie und experimentelle Endokrinologie, Vetmeduni Vienna (Österreich) Kurzzusammenfassung Ob Stallbrand oder Überschwemmung von Nutztierställen - Vorsicht ist besser als Nachsicht: Eine Reihe von größtenteils organisatorischen, vorbeugenden Maßnahmen sind an landwirtschaftlichen Betrieben direkt umsetzbar, um Tierhaltungen gegenüber katastrophalen Ereignissen zu wappnen, die einen Austrieb der gehaltenen Tiere notwendig machen. Es besteht einerseits großer Bedarf bei der Erstellung von Tierrettungskonzepten und andererseits bei der Unterstützung von fachfremden Personen (z.B. Feuerwehren) beim tiergerechten Handling im Notfall. Es ist entscheidend, dass sich BetriebsleiterInnen präventiv Gedanken zur Tierrettung machen, um im Ernstfall schnell und zielgerichtet handeln zu können. Rettungswege Die Strategien zur Tierrettung ergeben sich aus den ethologischen und sinnesphysiologischen Bedürfnissen der Tiere. Bei den in diesem Sinne relevanten Faktoren bestehen viele Übereinstimmungen zwischen den landwirtschaftlich genutzten Tieren und auch Pferden (1). Das Treiben bzw. Führen funktioniert besser über den Tieren bekannte Wege (2). In Erfahrungsberichten von Stallbränden wird immer wieder genannt, dass bei Weidebetrieben die Rinder in der Regel bereits auf der Weide sind, noch bevor die Feuerwehr anrückt, da den Tieren der Weg raus aus dem Stall und auf die Weide vertraut ist (3, 4). Ist dieser vertraute Ausgang jedoch blockiert, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tiere einen anderen Ausgang ebenso leicht annehmen. Der Gewöhnungseffekt ist sehr spezifisch (5). Umso wichtiger ist, dass der vertraute Ausgang frei gehalten wird von Brandlasten und Versperrungen. Bei der Rettung von Milchvieh bestehen vergleichsweise gute Ausgangsbedingungen: Die Tierhaltung besteht zumeist ohne viele Unterteilungen, die Tierdichte ist relativ gering und die Rinder sind das Handling sowie fremde Personen gewöhnt. Zudem bestehen in der Regel für die Tierrettung geeignete Öffnungen direkt zur Tierhaltung, auf Grund von notwendigen Öffnungen für die (Schieber-)Entmistung bei planbefestigten Ställen. Die dort befindlichen Gülleabwurfgitter müssen für eine erfolgreiche Tierrettung jedoch abgedeckt werden – dafür sind individuell angefertigte Holzplatten mit Gummibeschlag auf der Oberseite und in die Gitter greifende Streben an der Unterseite geeignet. Diese können ganzjährig an der Stallwand angelehnt bereitliegen und im Notfall von einer Person schnell auf die Abwurfgitter gelegt werden (Abb. 1). Abb. 1: Gülleabwurfabdeckung, mit in die Gitter greifenden Streben an der Unterseite, die ganzjährig an der Stallwand bereitgehalten werden sollten. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 145

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Mit dieser einfachen Vorbereitung sind solche Ausgänge sehr geeignet für die Tierrettung. Durch die Absperrung von Querverbindungen zwischen den Laufgängen bildet sich zur Stall-Öffnung hin eine Sackgasse für die Rinder, sodass sie mit Druck durch Treibende von hinten nur nach draußen können. Die Öffnungen sind zumeist groß genug, dass zumindest zwei Kühe nebeneinander rauslaufen können – zudem sind sie nicht zu groß, sodass sich die Tierbewegung gut lenken lässt und ein Umdrehen der Kühe unwahrscheinlich ist. Bedeutsam ist überdies die Verfügbarkeit von zwei Ausgängen je Tiergruppe, welche möglichst weit voneinander entfernt sein sollten, sodass nach wie vor ein zweiter Ausgang frei ist, sollte der andere durch Feuer oder auch Schwemmgut blockiert sein. Es ist zu betonen, dass für die Planung der Tierrettung jede separate Tiergruppe für sich betrachtet werden muss, da oftmals die Haltungsbedingungen der Nachzucht oder auch der trocken gestellten Kühe keine guten Rettungsmöglichkeiten bieten. Sinnesphysiologie Im Hinblick auf die Sinnesphysiologie ist insbesondere die vergleichsweise schlechte Hell-Dunkel-Adaption der Nutztiere von Bedeutung. Bei Rindern ist diese beispielsweise etwa 5-mal langsamer als beim Menschen (6). Das heißt, sie können sich deutlich langsamer auf sich verändernde Lichtverhältnisse einstellen und sind schneller geblendet – beispielsweise von Strahlern der Feuerwehr (7). Es lohnt sich daher für die Feuerwehr beim Stallbrand, die Routine zu brechen und nachts nicht (nur) das Brandobjekt zu beleuchten, sondern auch die Austriebsfläche, auf die die Herde getrieben werden soll. Erst dadurch ermöglicht man den Tieren das gewünschte Verhalten, das Aufsuchen der Austriebsfläche, überhaupt als Option wahrzunehmen. Wird der Ausgang des Stalls direkt angeleuchtet, sehen die Tiere erstmal nur Helligkeit bzw. hinter den Einsatzfahrzeugen und dem Blaulicht nur tiefe Schwärze, wodurch sie keinerlei Veranlassung haben, dort hinzulaufen und daher stattdessen im sichtbaren und als sicher wahrgenommenen Stall verbleiben. Rettungskonzept Die Feuerwehr kann Zeit bei der Erkundung der Einsatzlage einsparen, wenn im Rahmen der Einsatzvorbereitung bereits Lagekenntnis erworben wurde. Die Bedeutung einer guten Zusammenarbeit zwischen Landwirten und Feuerwehr für die Erfolgsaussichten einer Tierrettung im Ernstfall ist zu unterstreichen. In Begehungen lässt sich beispielsweise klären, ob Probleme mit der Löschwasserversorgung erkannt werden, wo Bereitstellungsräume für nachrückende Kräfte gebildet werden können und wie die Stabilität des Stallgebäudes eingeschätzt wird. Insbesondere Nagelplattenbinder-Konstruktionen im Dachwerk sind in einem Brandfall schnell einsturzgefährdet. Die Sammlung derart erhobener Informationen und vor allem der daraus abgeleiteten Erkenntnisse sollten idealerweise in (formlosen) Einsatzplänen niedergeschrieben werden, damit sie allen Führungskräften und nicht nur einem ausgewählten Personenkreis im Einsatz zur Verfügung stehen. Bei der Erstellung solcher Pläne kann ein frei verfügbares Online-Tool helfen (https://pas.3caaa.fr/), womit sich Symbole für Notausgänge, Sammelstellen, Hydranten etc. in einer Google- Maps Karte eintragen lassen. Es ist zu betonen, dass der Personenschutz in jeder Situation Priorität hat. Nach Erkundung der Einsatzlage kann die Entscheidung notwendig sein, keinen Innenangriff und keine aktive Tierrettung zu unternehmen, da das Stallgebäude einsturzgefährdet ist. Es kann auch sein, dass kein Austrieb unternommen werden kann, da freilaufende Tiere z.B. innerorts oder auch mit einer nahen und noch nicht gesperrten Zugtrasse oder Schnellstraße Passanten und Rettungskräfte gefährden würden. Umso wichtiger ist es, diese Gefährdungspotentiale im Vorfeld erkannt und besprochen zu haben. Durch Hinweise und Unterstützung sollte den Betrieben Mut gemacht werden, sich mit der Thematik des Katastrophenschutzes bei sich zu beschäftigen und Notfallkonzepte zu erstellen, da bereits mit geringem Aufwand viel für den Erfolg der Tierrettung im Ernstfall erreicht werden kann. Durch Fortbildungsveranstaltungen und Übungen kann zudem die Leistungsstärke der Feuerwehren bei Einsätzen am landwirtschaftlichen Betrieb angehoben werden. Zur Bewertung der betrieblichen Situation im Hinblick auf die Rettungsöffnungen für die Tiere sowie der Brandverhütung sind praktische Leitfäden auf der Projekthomepage von REGROBRA „Rettung von Großvieh bei Brandereignissen landwirtschaftlicher Gebäude in Holzbauweise“ zu finden (8). In einer öffentlich einsehbaren Dissertation können zudem weitere Hintergründe nachgelesen werden (9). 146 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Literatur 1. Adamczyk K, Górecka-Bruzda A, Nowicki J, Gumułka M, Molik E, Schwarz T, Earley B, Klocek C. Perception of environment in farm animals – A review. Ann. Anim. Sci. 2015;15(3): 565–589 2. Grandin T. Behavioral Principles of Livestock Handling. Prof. Anim. Sci. 1989(2): 1–11 3. Ruppert M. Tiere bei Stallbränden – Zur Häufigkeit, Ursache und Auswirkung von Stallbränden in den Jahren 1982 und 1983 in Niedersachsen [Dissertation]. Hannover: Tierärztliche Hochschule; 1985 4. Pagel S. Tierverluste und Schäden infolge von Stallbränden – Eine Schadensanalyse und Studie zum Verhalten von landwirtschaftlichen Nutztieren bei Bränden im Kreis Herzogtum Lauenburg währende eines Zeitraums von zehn Jahren (1973-1982) [Dissertation]. Berlin: Freie Universität; 1986 5. Corgan ME, Grandin T, Matlock S. Evaluating the Reaction to a Complex Rotated Object in the American Quarter Horse (Equus caballus). Animals 2021(11): 1383 6. Phillips C. Cattle Behaviour and Welfare. 2. Aufl.Oxford: Blackwell Science; 2002. S. 49-53 7. Grandin T. Temple Grandin's Guide to Working with Farm Animals – Safe, Humane Livestock Handling Practices for the Small Farm. North Adams, Storey Publishing LLC; 2017. S. 9-18 8. HSWT. Forschungsprojekt REGROBRA. Internetauftritt, zuletzt geprüft am 19.09.2023: https://www.hswt.de/forschung/projekt/1531-regrobra 9. Diel F. Strategien zur Evakuierung von Milchvieh bei Stallbränden [Dissertation]. München: LMU; 2023. https://www.tierhyg.vetmed.uni-muenchen.de/forschung/dissertationen/dissertationen-2023/index.html Kontaktadresse Dr. Florian Diel; Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, Freising florian.diel@hswt.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 147

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Das stille Leiden unserer Nutztiere - Zur Ermittlung von Leiden in Tierschutzstrafverfahren Johanna Hahn1, Ariane Désirée Kari2 1Lehrstuhl für Strafrecht, Universität Leipzig; 2Professur für Versuchstierkunde und Tierschutz & 3R-Zentrum & ForTis, Justus-Liebig-Universität Gießen Wer seinen Hund in einem Zwinger ohne Auslauf hält oder ihn bei starker Sonneneinstrahlung stundenlang im Auto lässt, muss mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Tierquälerei rechnen. Wer allerdings Rinder ihr Leben lang an einer Stelle angebunden hält oder sie bei hochsommerlichen Temperaturen tagelang von Deutschland in die Türkei transportieren lässt, wird von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt. Mit dem geltenden Tierschutzstrafrecht ist diese Praxis nicht vereinbar: Nach § 17 Nr. 2 b Tierschutzgesetz (TierSchG) macht sich strafbar, wer einem Wirbeltier länger anhaltende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt – gleich ob Heimtier oder Nutztier. Der Grund für diese Ungleichbehandlung von Heim- und Nutztieren im Strafrecht liegt darin, dass bei Nutztieren die Tatbestandvariante „Leiden“ regelmäßig verkannt wird. Am Beispiel der ganzjährigen Anbindehaltung von Rindern wird hier aus juristischer und tiermedizinischer Perspektive verdeutlicht, wie mit geeigneten Sachverständigen auch bei Nutztieren die Zufügung von Leiden im Strafverfahren festgestellt werden kann (1). Die ganzjährige permanente Anbindehaltung steht seit Jahren in der Kritik: Die Rinder sind am Hals mit Ketten fixiert und stehen in einer Reihe eng an eng nebeneinander auf engstem Raum. Sie können sich nicht fortbewegen, nicht umdrehen, nicht einmal richtig kratzen und ihr Sozialverhalten nicht ausführen. Ihr Leben ist reduziert auf „Stehen, Liegen, Fressen und Koten“ (2). Die Bundestierärztekammer fordert daher den kompletten Ausstieg aus dieser Haltungsform (3); Verwaltungsgerichte und auch der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz des Bundesrates haben sie bereits als nicht verhaltensgerecht angesehen (4, 5, 6, 7). Strafrechtliche Verurteilungen blieben bislang allerdings aus. Dabei werden mit dieser Haltungsform den Tieren auch strafrechtlich relevante länger anhaltende erhebliche Leiden im Sinne des § 17 Nr. 2 b TierSchG zugefügt. Leiden Leiden im Sinne des § 17 TierSchG sind ein eigenständiger Begriff des Tierschutzrechts (8). Darunter fallen nach der Rechtsprechung alle nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern (9). Die juristische Kernfrage bei der Beurteilung von Leiden ist, ob das Tier in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt ist. Wohlbefinden bedeutet einen Zustand physischer und psychischer Harmonie des Tieres in sich und mit der Umwelt; Voraussetzung für Wohlbefinden sind körperliche Gesundheit und ein in jeder Beziehung normales Verhalten (10, 11, 12). Zur Feststellung einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens kann von Sachverständigen insbesondere das Befindlichkeitskonzept von Tschanz herangezogen werden (13, 14). Danach sind Tiere in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt, wenn ihr Normalverhalten zurückgedrängt oder vollständig unterdrückt wird. Erheblichkeit Neben Leiden muss nach § 17 Nr. 2 b TierSchG auch deren Erheblichkeit festgestellt werden. Wie Leiden ist auch die Erheblichkeit ein juristischer Begriff. Da mit dem Erfordernis der Erheblichkeit in § 17 Nr. 2 TierSchG Bagatellfälle ausgeschlossen werden sollen, sodass nur „beträchtliche“ Einwirkungen erfasst sind (8, 9), bedarf es aber auch hier regelmäßig sachverständiger Ausführungen zur Intensität der Beeinträchtigungen. Hierfür können insbesondere körperliche Indikatoren oder Verhaltensstörungen herangezogen werden. Bei Rindern in ganzjähriger Anbindehaltung sind feststellbare körperliche Indikatoren, die auf Leiden schließen lassen, unter anderem Erkrankungen des Euters, des Bewegungsapparats und des Verdauungsapparats (15). Die Darlegung der Erheblichkeit von Leiden anhand körperlicher Indikatoren am Tier hat den Vorteil, dass – anders als bei der Bewertung von Verhaltensstörungen – Amtstierärzte diese zumindest für die gängigen Tierarten 148 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ vornehmen kann. Zudem können äußerlich sichtbare Störungen der körperlichen Gesundheit wie eine starke Abmagerung regelmäßig auch auf Bild- und Videomaterial befundet werden; der Sachverständige muss das Tier nicht zwingend vor Ort untersucht haben (1). Ein guter Gesundheits- und Ernährungszustand bedeutet allerdings nicht, dass ein Tier nicht leidet. Ein Löwe, der für Kunststücke abgerichtet und in einem engen Käfig von einem Ort zum anderen transportiert wird, ist in seinem Wohlbefinden stark beeinträchtigt, auch wenn er keine offensichtlichen Krankheiten oder Abmagerungen aufweist. Auch Masttiere in gewerblichen Tierhaltungsanlagen sind meist in einem guten Ernährungszustand – selbst, wenn sie sich kaum bewegen können und in ihren Fäkalien liegen müssen. Hinweise auf Beeinträchtigungen im Wohlbefinden – und damit Leiden der Tiere – geben vor allem Verhaltensstörungen (eine im Hinblick auf Modalität, Intensität oder Frequenz erhebliche und andauernde Abweichung vom Normalverhalten) (16). Darunter fallen zum einen nach außen deutlich erkennbare abnorme Verhaltensweisen, zum anderen erzwungenes Nichtverhalten. Nach außen deutlich erkennbare abnorme Verhaltensweisen sind beispielsweise Stereotypien, fremd- oder selbstschädigendes Verhalten, Handlungen an nicht-adäquaten Objekten, veränderte abnorme Bewegungsabläufe oder Apathien. Diese klassischen Verhaltensstörungen werden in der Praxis der Gerichte und Staatsanwaltschaften als Nachweis erheblicher Leiden anerkannt (wenn auch häufig nicht näher untersucht) (9, 17). Erzwungenes Nichtverhalten als Verhaltensstörung – und Hinweis auf erhebliche Leiden Neben den bekannteren nach außen erkennbaren Verhaltensstörungen ist aber auch erzwungenes Nichtverhalten eine Verhaltensstörung (17, 18, 19) und daher ein deutlicher Hinweis auf erhebliche Leiden. Eine Verhaltensstörung durch erzwungenes Nichtverhalten liegt vor, wenn die Haltungsbedingungen dazu führen, dass arttypische Verhaltensweisen nur stark reduziert oder gar nicht ausgeführt werden können (17, 20). Nicht von Bedeutung ist hierbei, ob dem Tier das Verhalten physisch unmöglich gemacht wird oder ob das Tier das Verhalten infolge fehlender Umweltreize einstellt oder stark reduziert (20). Bei einigen Tierarten hat die Feststellung erheblicher Leiden anhand von erzwungenem Nichtverhalten besondere Bedeutung: Schafe und Rinder beispielsweise sind „stille Leider“, sie leiden still und dulden Schmerzzufügungen oft lautlos. Weder bei Schmerzen noch bei Leiden geben sie Lautäußerungen von sich und selbst bei massiver Beeinträchtigung im Wohlbefinden in tierschutzwidrigen Haltungen zeigen sie keine auf den ersten Blick sichtbare Verhaltensstörung wie Stereotypien (21, 22). Bei diesen Tierarten wäre es daher verfehlt, von fehlenden offensichtlichen äußerlichen Anzeichen – etwa fehlende Stereotypie – darauf zu schließen, dass die Tiere nicht leiden. Hier ist schlichtweg eine vertiefte ethologische Prüfung dahingehend erforderlich, inwieweit das arttypische Verhalten der Tiere eingeschränkt ist. Von einigen Gerichten und von Staatsanwaltschaften – und auch von Sachverständigen – wird dies allerdings regelmäßig verkannt und angenommen, dass für die Feststellung von Leiden „empirisch- objektivierbare Leidensanzeichen (Anomalien, Verhaltensstörungen und andere spezifische Indikatoren im Verhalten der Tiere)“ notwendig seien; erzwungenes Nichtverhalten genüge nicht (23). Diese Auffassung scheint teilweise auf einem Missverständnis eines Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1987 zu beruhen und ist aus Sicht der Tierverhaltensforschung nicht überzeugend. Missverständnis eines BGH-Urteils von 1987 Die Vorinstanz hatte darüber zu entscheiden, ob Hennen in der Käfighaltung strafrechtlich relevante erhebliche Leiden zugefügt werden. Dazu führte der BGH aus: „Das LG war bei der Beantwortung der Frage, ob den Hennen „erhebliche Leiden“ zugefügt würden, auf sachverständige Hilfe angewiesen. Dieser Hilfe hat es sich bedient. Dabei sah es sich, wie die Urteilsgründe erkennen lassen, den Vertretern verschiedener Richtungen der Ethologie (Tierverhaltenswissenschaft) gegenüber. Die eine Richtung hebt auf Art und Umfang der Einschränkungen ab, die der Vollzug der den Tieren angeborenen Verhaltensweisen durch die Art ihrer Haltung erfährt; sie beantwortet die Frage nach dem Vorliegen (erheblicher) Leiden nach dem Kriterium des Ausmaßes der ihnen zugemuteten „Entbehrungen“ (…). Die andere Richtung begnügt sich damit nicht, sondern fordert Anomalien, Funktionsstörungen oder „generell spezifische Indikatoren im Verhalten“ der Tiere, die als schlüssige Anzeichen und Gradmesser eines Leidenszustandes taugen. Das LG ist bei der Beurteilung des vorliegenden Falles – insoweit der ersten 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 149

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Richtung folgend – zu dem Ergebnis gelangt, daß den Hennen durch die von den Angekl. betriebene Geflügelhaltung Leiden zugefügt würden. Sie hat jedoch – insoweit der zweiten Richtung folgend – die Erheblichkeit dieser Leiden verneint […]“. Diese Vorgehensweise des Landgerichts bezeichnete der BGH lediglich als „nicht denkfehlerhaft“ (9). Daraus abzuleiten, dass der BGH für eine Erheblichkeit der Leiden äußerlich wahrnehmbare Indikatoren zwingend voraussetze, ist aber aus Sicht der Tierverhaltensforschung auch nicht überzeugend und – jedenfalls heute – überholt. Bezeichnenderweise zitierte der BGH in seinem Urteil auch keine naturwissenschaftlichen, sondern juristische Fundstellen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des BGH im Jahr 1987 mag dies noch verzeihlich gewesen sein, denn die Ethologie ist eine neuere Wissenschaft und hat sich in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt. falsch. Eine solche Auffassung ist demnach Wenig nachvollziehbar ist allerdings, wenn Obergerichte – und Sachverständige – noch heute unkritisch die Ausführungen des BGH wiederholen (24). Es wird übersehen, dass nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Tierverhaltensforschung erzwungenes Nichtverhalten eine Verhaltensstörung ist und dass diese auch empirisch-objektivierbar ist, da sie durch Beobachtung des betroffenen Tieres und Vergleich mit dem Normalverhalten der jeweiligen Tierart oder durch Begutachtung des Haltungssystems objektiv festgestellt werden kann. Ethologische Sachverständige sind in der Lage, erzwungenes Nichtverhalten als Form der Verhaltensstörung objektiv festzustellen. Dabei wird ermittelt, wie stark und in welchem Umfang das vorgefundene Haltungssystem das Normalverhalten des Tieres unterdrückt (1). Erhebliches Leiden bei Rindern in ganzjähriger permanenter Anbindehaltung Bei Rindern in ganzjähriger permanenter Anbindehaltung werden durch das Haltungssystem zahlreiche Grundbedürfnisse stark eingeschränkt oder vollständig verunmöglicht (1). Bei einer ethologischen Prüfung durch Sachverständige würde deutlich, dass das Normalverhalten der Rinder fast vollständig unterdrückt wird. Dieses erzwungene Nichtverhalten zeigt, dass die Tiere leiden. Die Erheblichkeit wird deutlich sichtbar daran, dass alle Funktionskreise betroffen sind (1). Es ist davon auszugehen, dass Rindern in Anbindehaltung regelmäßig länger anhaltende und erhebliche Leiden zugefügt werden. Mit den Erkenntnissen der Ethologie und geeigneten Sachverständigen können diese auch in Tierschutzstrafverfahren festgestellt und geahndet werden. Die Erkenntnisse in diesem Beitrag beruhen auf dem von den Autorinnen Hahn und Kari im Jahr 2021 veröffentlichten Artikel „Leiden Nutztiere unter ihren Haltungsbedingungen? – Zur Ermittlung von Leiden in Tierschutzstrafverfahren“, erschienen in Natur und Recht 2021, S. 599-607. Der Beitrag stellt teilweise einen Auszug der Dissertation der Autorin Kari dar, welche unter der Betreuung von Frau Prof. Dr. med. vet. Krämer – Lehrstuhlinhaberin der Professur für Versuchstierkunde und Tierschutz & 3R-Zentrum & ForTis an der Justus- Liebig-Universität Gießen – erarbeitet wird. Dieser Beitrag gibt allein die persönliche Auffassung der Autorinnen wieder und erfolgt nicht in dienstlicher Eigenschaft. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. Hahn J, Kari A. Leiden Nutztiere unter ihren Haltungsbedingungen? – Zur Ermittlung von Leiden in Tierschutzstrafverfahren. Natur und Recht 2021;43:599–607. Hessische Landestierschutzbeauftragte Madeleine Martin, Pressemitteilung v. 21. 12. 2018. Bundestierärztekammer, Pressemitteilung v. 19. 5. 2015, abrufbar unter https://www.bundestieraerztekammer.de/presse/pressemeldung.php? X= 20150519125845 (zuletzt abgerufen am 9.8.2023). Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss v. 29. 7. 2019 – 11 ME 218/19, Rn. 8, juris. Verwaltungsgericht Münster, Beschluss v. 20. 12. 2019 – 11 L 843/19, Rn. 15 ff., juris. Verwaltungsgericht Oldenburg, Beschluss v. 19. 9. 2019 – 7 B 2440/19, Rdnr. 12 ff., juris. BR-Drs. 587/1/19, S. 21; siehe auch bereits BR-Drs. 187/16. Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil v. 29. 10. 2015 – 3 Ss 433/15, Rn. 9, juris. Bundesgerichtshof, Urteil v. 18. 2. 1987 – 2 StR 159/86, NJW 1987, 1833, 1834, unter Bezugnahme auf Lorz, Tierschutzgesetz, 2. Aufl., 1979, § 1 Rn. 27. BR-Drs. VI/2559, S. 10; BR-Drs. 10/3158, S. 18. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 18. 1. 2000 – 3 C 12.99, NuR 2001, 454. 150 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. Amtsgericht Hamm, Urteil v. 18. 4. 1988 – 9 Ls 48 Js 1693/86, NStZ 1988, 466 unter Bezugnahme auf Lorz, Tierschutzgesetz, 2. Aufl., 1979, § 1 Rn. 17. Tschanz B, Bammert J, Baumgartner G, Bessei W, Birmelin I, Fölsch D W, Graf B, Knierim U, Loeffler K, Marx D, Straub A, Schlichting M, Schnitzer U, Unshelm J, Zeeb K. Befindlichkeiten von Tieren – Ein Ansatz zu ihrer wissenschaftlichen Beurteilung Teil 1, Tierärztliche Umschau 1997;52:15-22; Tschanz B, Tagungsband der DVG- Fachgruppen Tierschutzrecht und Tierzucht/Erbpathologie/Haustiergenetik, 2000, S. 20. Pollmann U, Tschanz B, Leiden – ein Begriff aus dem Tierschutz, Amtstierärztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle 2006;13:234-239. Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft, Nationaler Bewertungsrahmen Tierhaltungsverfahren, KTBL-Schrift 446, S. 213 ff. Sambraus H H. Normalverhalten und Verhaltensstörungen. In: Sambraus H H, Steiger A, Herausgeber. Das Buch vom Tierschutz. Stuttgart: Enke Verlag; 1997, S. 59. Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Urteil v. 8. 11. 2018 – 11 LB 34/18. Amtsgericht Starnberg, Urt. v. 6. 2. 2012 – 9 Js 33703/10. Troxler J, Die Anwendung ethologischer Erkenntnisse bei der Beurteilung von Haltungssystemen auf Tiergerechtheit, Tagungsband 17. Leipziger Tierärztekongress, 2013, S. 590-592. Hirt A, Maisack C, Moritz J, Felde B. Kommentar zum Tierschutzgesetz, § 17 Rn. 100b. Hardie E M. Erkennen des Schmerzverhaltens bei Tieren. In: Hellebrekers L J, Herausgeber. Schmerz und Schmerztherapie beim Tier. Hannover: Schlütersche; 2001. S. 42. Verwaltungsgerichtshof Mannheim, Beschluss v. 3. 11. 2004 – 1 S 2279/04. Oberlandesgericht Celle, Beschluss v. 28. 12. 2010 – 32 Ss 154/10 Rn. 10, juris. Oberlandesgericht Zweibrücken, Urt. v. 22. 6. 2020 – 1 OLG 2 Ss 73/19, Rn. 27 ff., juris. Kontakt Johanna Hahn, LL.M. (Harvard), Universität Leipzig, Leipzig johanna.hahn@uni-leipzig.de Ariane Désirée Kari, Beauftragte der Bundesregierung für Tierschutz, Berlin ariane.kari@bmel.bund.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 151

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Einblicke in die App ‚FitForPigs‘ zur Sensibilisierung für Schweinesignale Mirjam Lechner UEG Hohenlohe-Franken, Niederstetten Hintergrund Die in der Schweinehaltung tätigen Personen stehen vor großen Herausforderungen bei der Umsetzung der gesellschaftlichen Ansprüche an eine moderne, tiergerechte Haltung von Schweinen. National wie international verweisen Experten und tiermedizinische Sachverständige immer wieder darauf, dass zum einen viele Tierschutzprobleme managementabhängig sind (1). Bereits in verschiedenen Veröffentlichungen wurde auf den Umstand hingewiesen, dass Defizite in der Tierbeobachtung direkt zu tierschutzrelevanten Situationen führen können, beispielsweise bei einer Befragung von Veterinärmedizinern in Deutschland »Landwirte haben Schwierigkeiten zu erkennen, dass und ab wann ihre Tiere bereits leiden. Haben zu wenig ›Auge‹ dafür, ab wann sie leiden.« (…) „Keine Ausbildung in Tierbeobachtung, Tiersignale …“ (2). Dagegen werden externe Kontrollen ohne Problembewusstsein im eigenen Stall auch abgelehnt, ja sogar als Freiheitsverlustes erlebt (3). Dies kann unter Umständen zu einem Verstecken von Problemen führen, wohingegen „(…) eine frühzeitige Bewertung der Krankheitsprävalenz bei Nutztieren und die Kenntnis der Nomenklatur als eine wichtige Chance zur Verbesserung des Tierschutzes und der Gesundheit bei allen Arten und Produktionssystemen identifiziert wurde“ (4) und hierbei digitale Technologien hilfreich sind, um Instrumente im Wissenstransfer zu schaffen, welche auf die Bedürfnisse der Landwirte und Landwirtinnen zugeschnitten sind. Zum anderen ist bekannt, dass bei umfassenderem Wissen über die Komplexität einer Erkrankung die Tierbetreuer mehr Empathie mit den Tieren zeigen und schneller eingreifen (4). Die Umsetzung von Tierschutzvorschriften in aktiver Handlung durch die Tierhalterinnen und Tierhalter bedarf wiederum eines Problembewusstseins, welche Coachingsprozesse als ersten Schritt für zielorientierte Veränderungsprozesse benennen. Beispiel ADKAR® Konzept Abfolge: Awareness = Bewusstsein, Desire = Wunsch, Knowledge =Wissen, Ability = Fähigkeit, Reinforcement = Verstärkung (5). Für das Problembewusstsein der Tierbetreuer im Stall als Einstiegstufe bedarf es einer visuellen Definition von Gesundheit und Normalverhalten, denn in den meisten Büchern über Schweinekrankheiten wird nur das Anormale, das Kranke dargestellt. Innerhalb der Europäischen Innovationspartnerschaften EIP Agri der EU wurde durch die Projektegruppe „Coachingssystem Schweinesignale erkennen, verstehen und nutzen“ die Schweinesignal-App FitForPigs entwickelt. So wurde zuerst eine Datenbank an Foto-, Video- und Thermografien geschaffen. Aufbau der Schweinesignal-App Die Zielsetzung war aus diesem Grund, diese Lücke im Wissensangebot zu füllen um Schweinesignale online „To-Go“ zu stellen, das heißt eine jederzeit im Stall verfügbare Schweinesignal-App, aufzubauen. Die Struktur der Schweinesignal-App FitForPigs war aus diesem Grund auf eine intuitiv bedienbare Benutzeroberfläche, überschaubare Struktur und Vernetzung zwischen den Inhalten ausgelegt. Das Ampelschema wird in verschiedenen Listen (6) zur Erfassung von Tierschutzindikatoren benutzt und hat sich als valides, einfaches und in der Praxis bekanntes Einteilungssystem erwiesen und wurde deswegen übernommen. Insbesondere wirkt es einer „shifting baseline“, also einer Wahrnehmungsverschiebung durch Gewöhnungseffekte entgegen und lt. Tierschutzgesetz § 11 (8) „(…) um geeignete, tierbezogene Merkmale, Tierschutzindikatoren zu erheben und zu bewerten (7)“. für die betriebliche Eigenkontrolle ist zudem die Grundlage Hoheitlich obliegt eine Diagnosestellung bei Erkrankungen der veterinärmedizinischen Begutachtung. Deswegen wurde beim erstmaligen Öffnen der App ein Disclaimer eingefügt, welcher mit der Arbeitsgruppe Großtier der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT), Deutschland abgestimmt wurde. Der Wortlaut ist wie folgt: „Die Schweinesignal-App FitForPigs dient als Hilfestellung zur Erkennung von Tiersignalen und Auffälligkeiten bei Schweinen. Sie ermöglicht einen Vergleich mit Symptomen im Bestand und informiert über 152 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ auftretende Krankheitsbilder. Ihre Anwendung kann nicht den tierärztlichen Sachverstand ersetzen. Die Erhebung und Beurteilung des Gesundheitsstatus der Tiere, sowie die Durchführung notwendiger weiterführender Diagnostik und Therapie sind durch die bestandsbetreuende Tierärztin oder den bestandsbetreuenden Tierarzt vorzunehmen und zu überwachen.“ Umsetzung und Praxisnutzen Der Startbildschirm ist in sechs übersichtliche Rubriken aufgeteilt: 1) Schweinesignale 2) Info-Themen: 3) Videothek 4) Verhalten 5) Erste Hilfe und 6) Foto- und Videoparkplatz als Funktion zum Speichern. Die Informationsthemen selbst sind in einem Scroll-Verlauf in verständlicher Sprache und mit vielen Foto, Video- und Thermografie Beispielen visuell hinterlegt. Innerhalb des Projektes wurden so ein Terrabyte Datenvolumen an Fotos, Videos und Thermografie- Aufnahmen erstellt. Die Symptomliste umfasst über 100 verschiedene Symptome, über 20 eingepflegte Informations- und Hilfethemen und insgesamt während der Projektlaufzeit über 1200 eingestellte Fotos und Videos. Innerhalb der App kann auch in die Sprachen Englisch, Russisch und Spanisch gewechselt werden. Seit der Veröffentlichung der App FitForPigs in den Stores wurde die App schon über 4.500mal heruntergeladen. Der Ausbau der App ist fortlaufen. Die Datenbankstruktur wurde für das BLE Modell- und Demonstrationsvorhaben Tierschutz „App FitForCows“ als Kooperationsprojekt der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und der UEG Hohenlohe-Franken übernommen. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Rioja-Lang FC, Connor M, Bacon HJ, Lawrence AB, Dwyer CM. (2019) Priorization of Farm Animal Welfare Issues Using Expert Consensus. Front Vet Sci. 2020 Jan 10; Dürnberger, Christian (2021): „Moralische Herausforderungen der Veterinärmedizin in der Nutztierhaltung“ Harald Fischer Verlag, 2021 ISBN 978-3-89131-535-4 Andrade, S.B., Anneberg, I. (2014) Farmers Under Pressure. Analysis of the Social Conditions of Cases of Animal Neglect. J Agric Environ Ethics 27, 103–126 (2014). Balzani, A.; Hanlon, A. (2020) Factors that Influence Farmers’ Views on Farm Animal Welfare: A Semi- Systematic Review and Thematic Analysis. Animals 2020, 10, 1524 ADKAR® Konzept Changemanagement Quelle https://www.tiba-prosci.com/ Stand 2022 KTBL (2016) Tierschutzindikatoren: Leitfaden für die Praxis – Schwein, Sonderveröffentlichung Deutsches Tierschutzgesetz: Ausfertigungsdatum: 24.07.1972 Vollzitat: "Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 105 des Gesetzes vom 10. August 2021 (BGBl. I S. 3436) geändert worden ist“ Kontakt Mirjam Lechner, Adolzhausen Mirjam.Lechner@web.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 153

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Das neue Schweizer Konzept für die Kälbermast „Freiluftkalb“ und dessen Auswirkungen auf Tiergesundheit, Antibiotikaverbrauch und Wirtschaftlichkeit J. Becker1, L. Moser1, A. Steiner1, G. Schüpbach-Regula2, V. Perreten3, D. Wüthrich1,3, A. Hausherr1,3, Sarah Kiener1, Sereina Grieder3, N. Keil4, E. Hillmann3,5, M. Meylan1 1Klinik für Wiederkäuer, Vetsuisse-Fakultät; 2Veterinary Public Health Institute, Vetsuisse-Fakultät; 3Institut für Veterinärbakteriologie, Vetsuisse-Fakultät, Universität Bern, Bern (Schweiz); 3Einheit für Ethologie und Tierwohl, Departement Umweltsystemwissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich (Schweiz) 4Zentrum für tiergerechte Haltung für Wiederkäuer und Schweine, Bundesamt für Landwirtschaft, Agroscope, Tänikon, (Schweiz); 5Fachgebiet Tierhaltungssysteme und Ethologie, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin (Deutschland) Hintergrund Ziel der vorliegenden Interventionsstudie “Freiluftkalb” ist, ein neues Haltungs- und Managementkonzept für die Schweizer Kälbermast unter Feldbedingungen zu testen. Mithilfe dieses Konzepts sollen Antibiotikaverbrauch und Mortalität gesenkt werden. Dabei werden ebenso Wirtschafts- und Tierwohlparameter erfasst um die Ergebnisse vor deren Hintergrund zu interpretieren. In der Schweiz werden Mastkälber vornehmlich auf kleinen Familienbetrieben gehalten und stellen oft nur einen Betriebszweig, beispielsweise neben Milch-, Schweine- und Getreideproduktion, dar. Gebäude, die ursprünglich für andere Zwecke gebaut wurden, werden häufig als Stallung eingesetzt. Insbesondere ist die gängige Praxis, Kälber von verschiedenen Geburtsbetrieben zu beziehen und diese zu vermischen (2) ist für hohe Behandlungszahlen und Verluste in der Schweizer Kälbermast verantwortlich (3,4). Das nicht vollständig ausgereifte Immunsystem (1) trägt dann dazu bei, dass Kälber empfindlich auf die Umstallung reagieren. Die Hauptindikationen für antibiotische Behandlungen sind, in absteigender Reihenfolge, Erkrankungen des Rindergrippekomplexes, des Digestionssapparates, Omphalitiden sowie orthopädische Erkrankungen (3,5). Ähnlich dazu sind die Hauptursachen für Mortalität ebenfalls Erkrankungen des Respirations- und Verdauungsapparates (2,6,7). Da die Gewinnmargen in der Kalbfleischproduktion gering sind, können Gesundheitskosten und Abgänge bereits zu erheblichen Verlusten führen (8). In der vorliegenden Studie wurde der Behausung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dementsprechend soll ein „Freiluftkalb“ in einer Atmosphäre gemästet werden, die sich durch gute Luftqualität, minimalen Stress, tiefen Infektionsdruck und Arbeitswirtschaftlichkeit auszeichnet. Durch die weit verbreitete Anwendung antibiotischer Substanzen für Prävention und Therapie sind Kommensalen und Pathogene einem erhöhten Selektionsdruck ausgesetzt. Therapieresistente Erreger können zu Krankheiten führen, die aufgrund ihrer Schwere zu einer lang andauernden Senkung des Tierwohls führen. Somit soll das vorliegende Projekt auch konkrete Vorschläge für die Bekämpfung der suboptimalen Resistenzlage liefern (9–11). Wissenschaftliche Grundlage Die Grundlage dieser Studien sind Risikofaktorenanalysen für Antibiotikaeinsatz und Mortalität auf Schweizer Kälbermastbetrieben (2,12). Auf diesen Betrieben wird Kalbfleisch unter verbesserten Tierwohlbedingungen hergestellt (IP-SUISSE Labelbetriebe (13)). Alle Betriebe der vorliegenden Studie sind ebenso Teil dieses Labels. Der Hauptrisikofaktor für Gruppenbehandlungen auf den 619 teilnehmenden Betrieben war der Kälberzukauf (Odds Ratio (OR) = 8.9, p < 0.001). Auf Betrieben mit Kälberzukauf (n = 91), standen vordergründig ein geteilter Luftraum für mehrere Kälbergruppen (9.7 Tagesdosen pro Kalbjahr (dd/ay), p < 0.01), eine fehlende Quarantäne (8.3 dd/ay, p < 0.001) sowie eine fehlende Ankaufsuntersuchung (7.9, p = 0.04) mit erhöhter Behandlungsintensität in Zusammenhang. Die einflussreichsten Risikofaktoren für erhöhte Mortalität waren Gewichtsunterschiede innerhalb der Gruppe ≥ 50 kg (OR = 0.5, p < 0.01), fehlende Impfung gegen BRD (OR = 1.9, p <0.001) sowie Gruppengröße > 10 Kälber (OR = 1.4, p < 0.01) (12). 154 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Dieses Mastkonzept zielt darauf ab, jeden der o.g. sechs Risikofaktoren (fehlende Ankaufsuntersuchung, keine Quarantäne, keine Impfung, ungeeignete Gruppengröße und -zusammensetzung, gemeinsam genutzter Luftraum mit anderen Tieren) durch gezielte Maßnahmen abzuschwächen. Obwohl der Zukauf als Hauptrisikofaktor identifiziert wurde, ist es derzeit nicht realistisch auf den Zukauf von Kälbern zu verzichten. Abb. 1: Freiluftkalb im Einzeliglu: Den Anfang der Mastperiode verbringen die Kälber in Quarantäne in Einzeliglus mit Auslauf, wo sie geimpft werden und sich an den neuen Betrieb gewöhnen können. Bild: Wiederkäuerklinik, Universität Bern Ablauf der Mast im „Freiluftkalbkonzept“ Auf 19 Interventionsbetrieben (IF) wurden Kälber während eines Jahres unter Einhaltung der folgenden drei Hauptmaßnahmen gemästet: 1. zugekaufte Kälber wurden von umliegenden Geburtsbetrieben auf direktem Weg in privaten Viehanhängern zum Mastbetrieb transportiert. Die Gefährte von Kälberhändlern wurden nicht genutzt. Es wurden keine Kälber verschiedener Geburtsbetriebe gleichzeitig transportiert. Jeder IF sowie jeder Kontrollbetrieb (CF) musste mindestens 50 % der gemästeten Tiere zukaufen; 2. jedes Kalb wurde gegen Lungenentzündungserreger viralen Ursprungs (Parainfluenzavirus 3, Bovines Respiratorisches Synzytialvirus) geimpft. Jedes Kalb absolvierte eine mindestens dreiwöchige Quarantänephase in einem Einzeliglu; 3: bis zum Erreichen des Schlachtgewichts wurde die Kälber in Großraumiglus mit überdachtem Auslauf im Freien gemästet (maximale Gruppengröße 10 Kälber). Die überdachten und eingestreuten Ausläufe waren permanent zugänglich und boten Aussenluftqualität, Schutz vor Regen, Schneefall und Mittagssonne während die Großraumiglus Kälte- und Windschutz boten. Gleichzeitig zu den 19 IF wurden 19 Kontrollbetriebe (CF) herangezogen und ebenso im Zeitraum eines Jahres einmal monatlich besucht. Bei den Besuchen wurden Daten bezüglich Antibiotikaverbrauch, Tierwohl und Wirtschaftlichkeit erfasst. Zur Erfassung der Behandlungsintensität wurde die ‚definierte Tagesdosis- Methode‘ (defined daily doses (TIDDD) (14,15)) angewendet. Sie lieferte Werte der Einheit 'Anzahl Tagesdosen pro Kalbjahr'. Unmittelbar nach der Schlachtung wurden einer Teilgruppe der Studienpopulation Labmägen und Lungen entnommen und auf makroskopische Anzeichen von Labmagenulzerationen, Lungen- und Lungenfellentzündungen untersucht. Um die beiden Haltungssysteme auf ihre Wirtschaftlichkeit zu prüfen, wurden Deckungsbeiträge pro Arbeitskraftstunde (Akh) berechnet. Dabei handelt es sich um die die Differenz aus direkt zuteilbaren Leistungen und Kosten des Betriebszweigs Kälbermast pro Akh. Resultate Die mittlere Behandlungsintensität (mittlere TIDDD) in „Freiluftkalb“-Betrieben (IF) war 5.3-fach niedriger als in der Kontrollgruppe (CF) (5.9 ± 6.5 auf IF vs. 31.5 ± 27.4 Behandlungstagen pro Kalbjahr auf CF; p < 0.001). Das entspricht circa 2 bzw. 10 Tagen unter antimikrobieller Behandlung pro Mastkalb. Die Mortalität war 2.1- fach niedriger in „Freiluftkalb“-Betrieben (3.1 % ± 2.3 vs. 6.3 % ± 4.9; p = 0.020). Die mittlere Tagesmastleistung 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 155

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ unterschied sich nicht signifikant zwischen den Gruppen (1.29 ± 0.17 kg/Tag vs. 1.35 ± 0.16 kg/Tag; p = 0.244). Anzeichen von Lungenentzündungen waren zum Schlachtzeitpunkt bei Kälbern von „Freiluftkalb“-Betrieben seltener (26 % vs. 46 %, p < 0.001). Die Prävalenz respiratorischer Symptome war sowohl bei Kälbern während der Quarantänephase in Einzeliglus (EI) wie auch während der folgenden Phase in Gruppeniglus (GI) geringer: Kälber in EI mit Husten IF: 3.6 % vs. CF: 7.6 %, p = 0.009; Kälber in GI mit Husten IF: 6.9 % vs. CF: 12.8 %, p < 0.001; kein Unterschied bei Nasenausfluss bei Kälbern in EI, weniger Nasenausfluss Kälbern in GI: IF: 13.2 % vs. CF: 23.2 %, p < 0.001. Die Prävalenz von Labmagenulcera unterschied sich nicht zwischen den Betriebstypen (IF: 65 %, CF: 72 %; p < 0.22). Die Deckungsbeiträge/Akh waren zwischen den Betriebstypen ähnlich (IF: 6.96 CHF, CF: 7.90 CHF). Abb. 2: Freiluftkälber in Gruppeniglu: den Rest der Mastperiode verbringen die Kälber in kleinen Gruppen (maximal 10 Kälber) in Gruppeniglus mit überdachtem, eingestreutem Auslauf, sodass sie sich vor direkter Sonne und Witterung geschützt an der freien Luft aufhalten können. Bild: NFP72, Nadine Kägi Diskussion Relative einfache Maßnahmen führten zu einer erheblich tieferen Behandlungsinzidenz in IF in Bezug auf CF. Diese war auch im Vergleich zu anderen Studien niedrig (9,16–21). Die mittlere Behandlungsinzidenz in CF war hingegen vergleichbar hoch wie von anderen Autoren berichtet (2,21,22). Die Mortalität in beiden Gruppen war mit Abgaben über Schweizer Kälbermastbetriebe vergleichbar (3.6 % - 5.1 % (3,4,12)), jedoch im Vergleich mit internationalen Werten gering (5.3 % - 8.9 % (6,7,23)). Während die Reduktion der Mortalität vor allem eine wirtschaftliche Relevanz für den Produzenten hat (8), ist die Reduktion der antimikrobiellen Behandlungen aktuell vor allem in Hinblick auf die Resistenzsituation des Betriebes und das Ansehen der Branche von Belang. Der Mehrwert des neuen Mastsystems «Freiluftkalb» basiert nicht auf der Verbesserung ökonomischer Parameter, sondern vor allem auf dem tiefen Antibiotikaeinsatz und dem verbesserten Tierwohl (24,25). Als Limitationen der Studie sind anzuführen, dass es sich nicht um eine randomisierte Auswahl der Betriebsleitenden von IF und CF handelt, da die Bereitschaft, umfangreiche Daten zu liefern und Arbeitsprozesse umzugestalten Voraussetzung für die Studie war. Somit ist es denkbar, dass es sich um überdurchschnittlich motivierte Betriebsleitende handelte. Die systematisch verschiedene Fütterung (IF: Milchtaxi, CF: ad-libitum-Tränkeautomat, Daten nicht gezeigt), stand mit nicht-signifikant niedrigeren Tagesmastleistungen auf IF in Verbindung, führte jedoch zu einem erhöhten Arbeitsaufwand. Aus Gründen der Vergleichbarkeit in wirtschaftlichen Aspekten wäre der Einsatz von Tränkeautomaten auf "Freiluftkalb- Betrieben" in einer Folgestudie denkbar. 156 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Abb. 3: Übersicht Freilufthaltung: mit 12 Einzeliglus und 2 Gruppeniglus können im Durchschnitt ca. 60 Kälber pro Jahr gemästet werden. Bild: Wiederkäuerklinik, Universität Bern Schlussfolgerungen Die starke Reduktion antimikrobieller Behandlungen im “Freiluftkalbkonzept” ging mit einer Verbesserung der Tiergesundheit einher. Die Herangehensweise bei der Studienplanung (Risikofaktorenanalyse und Risikoreduktion) hat sich demnach als tragfähig erwiesen. Das Konzept könnte sich ebenso für Betriebe mit deutlich höheren Tierzahlen eigenen, sofern ausreichend Iglukapazitäten geschaffen werden. Es könnte dazu beitragen, Tier und Mensch vor resistenten Erregern zu schützen und sollte verbreitet werden. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Kampen AH, Olsen I, Tollersrud T, Storset AK, Lund A. Lymphocyte subpopulations and neutrophil function in calves during the first 6 months of life. Vet Immunol Immunopathol [Internet]. 2006 Sep 15 [cited 2019 Apr 22];113(1–2):53– 63. Available from: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0165242706001255?via%3Dihub Lava M, Pardon B, Schüpbach-Regula G, Keckeis K, Deprez P, Steiner A, et al. Effect of calf purchase and other herd-level risk factors on mortality, unwanted early slaughter, and use of antimicrobial group treatments in Swiss veal calf operations. Prev Vet Med. 2016 Apr 1;126(a):81–8. Schnyder P, Schönecker L, Schüpbach-Regula G, Meylan M. Effects of management practices, animal transport and barn climate on animal health and antimicrobial use in Swiss veal calf operations. Prev Vet Med [Internet]. 2019 Jun;167:146–57. Available from: https://doi.org/10.1016/j.prevetmed.2019.03.007 Bähler C, Steiner A, Luginbühl A, Ewy A, Posthaus H, Strabel D, et al. Risk factors for death and unwanted early slaughter in Swiss veal calves kept at a specific animal welfare standard. Res Vet Sci. 2012; Luginbühl A, Bähler C, Steiner A, Kaufmann T, Regula G, Ewy A. Ergebnisse der integrierten tierärztlichen Bestandesbetreuung in der Kälbermast. Schweiz Arch Tierheilkd. 2012;154(7):277–85. Sargeant JM, Blackwell TE, Martin SW, Tremblay RR. Production practices, calf health and mortality on six white veal farms in Ontario. Can J Vet Res. 1994;58(3):189–95. Pardon B, De Bleecker K, Hostens M, Callens J, Dewulf J, Deprez P. Longitudinal study on morbidity and mortality in white veal calves in Belgium. BMC Vet Res. 2012;8. Mee JF. Newborn Dairy Calf Management. Vet Clin North Am Food Anim Pract [Internet]. 2008 Mar 1 [cited 2019 Mar 25];24(1):1–17. Available from: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0749072007000710?via%3Dihub Catry B, Dewulf J, Maes D, Pardon B, Callens B, Vanrobaeys M, et al. Effect of antimicrobial consumption and production type on antibacterial resistance in the bovine respiratory and digestive tract. PLoS One. 2016;11(1):1–16. Hordijk J, Mevius DJ, Kant A, Bos MEH, Graveland H, Bosman AB, et al. Within-farm dynamics of ESBL/AmpC- producing escherichia coli in veal calves: A longitudinal approach. J Antimicrob Chemother. 2013;68(11):2468–76. Gay E, Bour M, Cazeau G, Jarrige N, Martineau C, Madec J-Y, et al. Antimicrobial Usages and Antimicrobial Resistance in Commensal Escherichia coli From Veal Calves in France: Evolution During the Fattening Process. Front Microbiol. 2019;10(April). Lava M, Schüpbach-Regula G, Steiner A, Meylan M. Antimicrobial drug use and risk factors associated with treatment incidence and mortality in Swiss veal calves reared under improved welfare conditions. Prev Vet Med. 2016;126(b):121–30. IP-SUISSE. Guidelines for Animal Husbandry [Internet]. IP-SUISSE Richtlinien Tierhaltung Rindvieh; Schweine; Schafe; Geflügel; 2019 [cited 2019 Jun 20]. p. 13–5. Available from: https://www.ipsuisse.ch/richtlinien-tierhaltung/ 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 157

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. EMA. Revised ESVAC reflection paper on collecting data on consumption of antimicrobial agents per animal species, on technical units of measurement and indicators for reporting consumption of antimicrobial agents in animals. [Internet]. Vol. 44, EMA/286416/2012-Rev.1. 2013 [cited 2019 Jun 28]. p. 1–29. Available from: https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/revised-european-surveillance-veterinary-antimicrobial- consumption-esvac-reflection-paper-collecting_en.pdf European Medicine Agency. Defined Daily Doses for Animals (DDDvet) and Defined Course Doses for Animals (DCDvet): European Surveillance of Veterinary Antimicrobial Consumption (ESVAC) [Internet]. European Surveillance of Veterinary Antimicrobial Consumition (ESVAC). 2016. p. 1–29. Available from: http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Other/2016/04/WC500205410.pdf. Accessed March 21, 2019. Pardon B, Catry B, Dewulf J, Persoons D, Hostens M, De Bleecker K, et al. Prospective study on quantitative and qualitative antimicrobial and anti-inflammatory drug use in white veal calves. J Antimicrob Chemother [Internet]. 2012 Apr 1;67(4):1027–38. Available from: https://academic.oup.com/jac/article-lookup/doi/10.1093/jac/dkr570 Bähler C, Tschuor A, Schüpbach G. Impact of the entry age and veterinary care on the health and performance of veal calves. II. Blood values, performance and carcass quality. Schweiz Arch Tierheilkd [Internet]. 2016 Jul 5;158(7):513–20. Available from: http://sat.gstsvs.ch/de/pubmed/?doi=10.17236/sat00074 Pardon B, De Bleecker K, Dewulf J, Callens J, Boyen F, Catry B, et al. Prevalence of respiratory pathogens in diseased, non-vaccinated, routinely medicated veal calves. Vet Rec. 2011;169(11):278. Dorado-García A, Mevius DJ, Jacobs JJH, Van Geijlswijk IM, Mouton JW, Wagenaar JA, et al. Quantitative assessment of antimicrobial resistance in livestock during the course of a nationwide antimicrobial use reduction in the Netherlands. J Antimicrob Chemother. 2016;71(12):3607–19. MARAN. Monitoring of antimicrobial resistance and antibiotic asage in animals in the Netherlands in 2017 [Internet]. 2018 [cited 2020 Sep 27]. p. 79. Available from: https://www.wur.nl/upload_mm/7/b/0/5e568649-c674-420e-a2ca- acc8ca56f016_Maran 2018.pdf Bokma J, Boone R, Deprez P, Pardon B. Risk factors for antimicrobial use in veal calves and the association with mortality. J Dairy Sci [Internet]. 2019 Jan 1 [cited 2019 Feb 12];102(1):1–12. Available from: http://dx.doi.org/10.3168/jds.2018-15211 Jarrige N, Cazeau G, Morignat E, Chanteperdrix M, Gay E. Quantitative and qualitative analysis of antimicrobial usage in white veal calves in France. Prev Vet Med [Internet]. 2017 Sep;144:158–66. Available from: https://linkinghub.elsevier.com/retrieve/pii/S0167587716304536 Renaud DL, Duffield TF, LeBlanc SJ, Ferguson S, Haley DB, Kelton DF. Risk factors associated with mortality at a milk-fed veal calf facility: A prospective cohort study. J Dairy Sci [Internet]. 2018 Mar;101(3):2659–68. Available from: https://linkinghub.elsevier.com/retrieve/pii/S0022030217312183 Becker J, Steiner A, Meylan M, Hauser B, Straub U. Vergleichende Wirtschaftlichkeitsanalyse des Kälbermastsystems «Freiluftkalb» und der konventionellen IP-SUISSE-Labelmast. Schweiz Arch Tierheilkd. 2021;163(3):203–17. Moser L, Becker J, Schüpbach‐regula G, Kiener S, Grieder S, Keil N, et al. Welfare assessment in calves fattened according to the “outdoor veal calf” concept and in conventional veal fattening operations in switzerland. Animals. 2020;10(10):1–21. Kontakt Dr. med. vet. Jens Becker, PhD; Universität Bern, Departement für klinische Veterinärmedizin, Wiederkäuerklinik jens.becker@vetsuisse.unibe.ch 158 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Untersuchung der Elektrowasserbadbetäubung von Masthühnern in einem Praxisbetrieb Jolien Hacker1,2; Yukari Togami1,2; PD Dr. Elke Rauch2; Prof. Dr. Michael Erhard2; Prof. Dr. Helen Louton1 1Professur für Tiergesundheit und Tierschutz, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock, 2Lehrstuhl für Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung, Tierärztliche Fakultät, Veterinärwissenschaftliches Department, Ludwig-Maximilians-Universität München Einleitung Die Gewährleistung einer tierschutzgerechten Schlachtung erfordert eine optimale Betäubung. Obwohl die Elektrowasserbadbetäubung von Masthühnern wiederholt in der Kritik steht, ist sie neben der CO2 -Betäubung die häufigste in Deutschland eingesetzte Betäubungsmethode. Bei dieser Form der Betäubung werden die Tiere wach in die Schlachtkette eingehangen und dem unter Strom stehenden Wasserbad zugeführt, beides kann zu Schmerzen und Leiden führen (1). Darüber hinaus werden im Zusammenhang mit dieser Betäubungsmethode häufig vermehrt Einblutungen im Fleisch und Frakturen der Gabelknochen beschrieben (2,3). Im Rahmen des CasStunn-Projektes wurde in einem kommerziellen Schlachtbetrieb die Elektrowasserbadbetäubung mit einer CO2-Gasbetäubungsanlage ersetzt. Das Ziel ist eine tierschutzgerechtere Betäubung zu gewährleisten. Der Umbau wird wissenschaftlich begleitet. Im ersten Abschnitt des Projektes wurde der gegenwärtige Stand der Betäubungseffektivität und der Fleischqualität von Masthühnern erfasst. Tiere, Material und Methoden Zur Erfassung der Betäubungseffektivität der Elektrowasserbadbetäubung wurden männliche und weibliche Masthühner von 15 Herden der Leicht (LM)- und Schwermast (SM), sowie ökologisch aufgezogener Tiere (ÖKO) von Mai-Oktober 2021 einem Praxisbetrieb untersucht. Im Projektbetrieb werden 4.800 Masthühner pro Stunde geschlachtet. Vom Zuführen der Tiere bis zur Einfahrt in die Brühanlage gab es 6 Untersuchungszeitpunkte, wobei es für jeden Untersuchungspunkt 3 Wiederholungen pro erfasste Herde gab. Zur Erhebung von „Hinweisen auf eine Fehlbetäubung“ wurden über einen Zeitraum von einer Minute Flattern, Bewegungen und Atmung nach der Betäubung (vor dem Entbluteschnitt, nach dem Entbluteschnitt, Mitte der Ausblutung, vor dem Brühen) gezählt und bei Vorhandensein gewertet. Zusätzlich wurden bei 5 Tieren pro Wiederholung der Pupillar- und Kornealreflex nach dem Entbluteschnitt getestet. Zur Bewertung von tatsächlichen „Fehlbetäubungen“ wurden über einen Zeitraum von 2 Minuten ein Nichteintauchen ins Elektrowasserbad oder eindeutige Zeichen des Bewusstseins erfasst und bei Vorhandensein ebenfalls gezählt. Bei der anschließenden Beurteilung der Fleischqualität wurden 16 Herden der LM, SM und ÖKO untersucht. In den konventionellen Herden wurden durchschnittlich 30 Tiere pro Herde untersucht, während in den ÖKO- Herden aus vermarktungstechnischen Gründen nur 10 Tiere pro Herde untersucht wurden. Einblutungen und Petechien wurden visuell beurteilt und ab einer Ausprägung von ≥ 0,5 cm als positiv bewertet. Frakturen wurden zusätzlich palpatorisch untersucht und in "rechts" oder "links" eingeteilt. Aufgrund der eingeschränkten Untersuchungsmöglichkeiten vor Ort wurde an der Flügelspitze nicht der genaue Knochen erfasst, sondern lediglich der Abschnitt „Carpometacarpus“ oder „Digitus“. Alle Parameter der Fleischqualität wurden binär in „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“ eingeteilt. Ergebnisse Die folgenden ausgewählten Ergebnisse wurden deskriptiv analysiert. Die Anzahl der beobachteten in Prozentanteile umgerechnet. Sowohl die Reaktionen bei der Betäubungseffektivität wurden Betäubungseffektivität als auch die Fleischqualität werden im Kontext der drei Mastvarianten beschrieben. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 159

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Im Praxisbetrieb betrug die Zeit zwischen dem Einhängen in die Schlachtkette zwischen 58,77 Sekunden und 44,79 Sekunden. Die Voreinstellung des Elektrowasserbades waren für die Spannung für jede Mastvariante anders, wobei sie bei der ÖKO am höchsten war. Die Stromfrequenz war bei allen Herden gleich eingestellt und betrug im Schnitt 50,73 Hertz. Bei den Parametern Flattern und Atmung nach dem Entbluteschnitt waren die Tiere der ÖKO (Flattern: 0,43 %, Atmung: 2,26 %) deutlich häufiger vertreten als die der SM (0,11 % und 1,8 %) und LM (0,12 % und 1,04 %). Bei Bewegungen nach dem Entbluteschnitt waren die SM (0,9 %) und ÖKO (0,87 %) ähnlich vertreten, bei der LM (0,57 %) kamen Bewegungen am seltensten vor. Ein direkter Kontakt der Tiere zum Nachschneider ist nicht zu vermeiden, sodass Reizungen durch Manipulation nicht auszuschließen sind. Auch Reflexe traten bei der LM (1,7 % beim Korneal-Reflex und 1,91 % beim Pupillar-Reflex) generell seltener auf, als bei der SM (3,11 % und 4,27 %) und ÖKO (4,94 % und 4,00 %). Ebenso traten Fehlbetäubungen bei der LM (0,27 %) am seltensten auf im Vergleich zur SM (0,34 %) und ÖKO (1,42 %). Die Parameter, die Petechien am Fettansatz der Keule, Einblutungen am Flügel (im Bereich von Humerus und Radius/Ulna), an den Flügelspitzen (im Bereich von Carpometacarpi und Digiti), im Brustfilet (M. pectoralis superficialis) und im Brustinnenfilet (M. pectoralis profundus) sowie Frakturen an den Digiti und Claviculae (Furcula) umfassen, zeigten häufiger Anzeichen von Schlachtkörperveränderungen auf, die durch die Betäubung verursacht worden sein könnten, als andere untersuchte Bereiche. Petechien am Fettansatz der Keule traten am häufigsten bei der SM (69,7 %) im Vergleich zur LM (49,4 %) und ÖKO (53,3 %) auf. Bei den Einblutungen am Flügel war die SM (78,7 %) etwas häufiger vertreten als die LM (77,9 %) und ÖKO (67,1 %), bei den Flügelspitzen hingegen etwas seltener (76,2 %) als die LM (81,9 %) und ÖKO (80,4 %). Auch bei den Einblutungen des Brustfilets und -innenfilets war die SM häufiger vertreten als die LM oder ÖKO (Filet: SM: 41,4 %, LM: 31,3 %, ÖKO: 32,5 %; Innenfilet: SM: 20,5 %, LM: 7,7 %, ÖKO: 14,6 %). Mindestens eine Fraktur der Digiti konnten bei 31,7 % der LM, 22,5 % der SM und 12,1 % der ÖKO am linken Flügel festgestellt werden. Rechts kamen bei den konventionellen Mastvarianten Digitifrakturen etwas häufiger vor (SM: 26,8 %, LM: 37,0 %, ÖKO: 10,0 %). Die linke Clavicula wies bei 15,9 % der LM, 16,2 % der SM und 8,9 % der ÖKO mindestens eine Fraktur auf, rechts bei 23,4 % der LM, 30,9 % der SM und 16,5 % der ÖKO. Fazit Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Auswertung noch nicht abgeschlossen. Die deskriptiven, vorläufigen Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass Unterschiede zwischen den Mastvarianten bei der Betäubungseffektivität und der Fleischqualität bestehen können. Es sind weitere Untersuchungen notwendig, inwiefern die Gewichtsklasse, Mastvariante und Einstellung am Elektrowasserbad Einfluss auf die unterschiedlichen Ausprägungen und Häufigkeiten haben. Es gilt Schäden am Tier und Schlachtkörper zu vermeiden, sodass weitere, schonendere Betäubungsmethoden in Erwägung gezogen werden sollten. Für die engagierte Mitarbeit bei der Umsetzung des CasStunn-Projektes und die Bereitstellung des Schlachtbetriebes für unsere Untersuchungen möchten wir uns bei allen Mitarbeitenden bedanken. Förderung Die Förderung des Vorhabens erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Die Projektträgerschaft erfolgt über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Rahmen des Programms zur Innovationsförderung. (FKZ: 2817804A18) Literatur 1. 2. 3. Gentle MJ, Tilston VL. Nociceptors in the legs of poultry: Implications for potential pain in pre-slaughter shackling. Anim Welf. 2000;9(3):227–36. Göksoy EO, McKinstry LJ, Wilkins LJ, Parkman I, Phillips A, Richardson RI, et al. Broiler stunning and meat quality. Poult Sci [Internet]. 1999 [cited 2022 Jan 18];78(12):1796–800. Available from: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10626658/ Sirri F, Petracci M, Zampiga M, Meluzzi A. Effect of EU electrical stunning conditions on breast meat quality of broiler chickens. Poult Sci. 2017 Aug 1;96(8):3000–4. 160 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Verwendung von verschließbaren Hundeboxen - eine Bewertung unter Tierschutzgesichtspunkten Dorothea Döring1, Barbara Schneider2, Sandra Schönreiter2 1Lehrstuhl für Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung, Tierärztliche Fakultät der Ludwig- Maximilians-Universität München; 2Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) Oberschleißheim Einleitung und Problemstellung Hundeboxen gibt es in den unterschiedlichsten Ausführungen, die Vielfalt auf dem Markt ist groß: Plastik- Transportboxen, verschließbare Stoff-Boxen, Metallgitter-Zimmerkennels bis hin zu Käfigen in Form von Holzkommoden und Couchtischen. Im Internet werben die Hersteller nicht nur mit dem attraktiven Aussehen der Boxen und Käfige, sondern auch mit deren Funktion. Dabei wird argumentiert, dass die Verwendung einer Hundebox eine sehr gute Erziehungsmethode darstelle, dass die Verwahrung des Hundes in der Box den Hund vor Gefahren in der Wohnung schütze und dass die Wohnungseinrichtung vor Zerstörung geschützt sei, wenn der Hund zuhause in der Box eingesperrt wird, insbesondere bei Abwesenheit der Besitzer. Der Einsatz verschlossener Boxen wurde bislang auch von vielen Hundetrainern und Tierverhaltenstherapeuten empfohlen (1) und schein weit verbreitet zu sein. Eine eigene Umfrage unter 188 Studierenden der Veterinärmedizin (LMU München) zeigte, dass über ein Drittel der befragten Studierenden eine verschließbare Hundebox in der Wohnung für ein sinnvolles Zubehör hielt (2). Es stellt sich die Frage, wie die Verwendung solcher Boxen rechtlich geregelt ist. Rechtliche Beurteilung In Deutschland müssen Tiere gemäß § 2 des Tierschutzgesetzes (3) „verhaltensgerecht“ untergebracht werden. Die Haltung von Hunden ist in der Tierschutz-Hundeverordnung (4) detailliert geregelt. Demnach müssen gemäß § 5 und § 6 Zwinger, Räume und „Raumeinheiten“, in denen Hunde gehalten werden und die nicht dem menschlichen Aufenthalt dienen, eine uneingeschränkt nutzbare Bodenfläche von mindestens 6 bis 10 m2 (je nach Schulterhöhe des Hundes) aufweisen. Mit „Raumeinheiten“ sind z.B. Transportboxen gemeint. Diese sind nach der Begründung zur Verordnung (5) „zur Haltung von Hunden ungeeignet.“ Analog gilt dies auch für fest installierte Boxen oder Hundekäfige, die die Anforderungen nach Tierschutz-Hundeverordnung (4) nicht erfüllen. Nach § 1 der Tierschutz-Hundeverordnung (4) gibt es drei mögliche Ausnahmen von diesen Mindestanforderungen: während des Transportes sowie – in bestimmten Einzelfällen- während einer tierärztlichen Behandlung sowie bei einem (genehmigten) Tierversuch, „soweit für den verfolgten wissenschaftlichen Zweck andere Anforderungen an die Haltung unerlässlich sind“. Demnach kann eine „Boxenruhe“ mit tierärztlicher Indikation beispielsweise nach einem chirurgischen Eingriff zulässig sein. Nach Binder et al. (1) sollte in diesem Fall ein schriftlicher Therapieplan vorliegen, der die Identifizierung des Hundes, Grund und Dauer sowie eine Anleitung zur Durchführung der verordneten Maßnahme enthält. „Transport“ ist nach Verordnung (EG) Nr. 1/2005 (6) definiert in Artikel 2 w): „Jede Bewegung von Tieren in einem oder mehreren Transportmitteln sowie alle damit zusammenhängenden Vorgänge, einschließlich des Verladens, Entladens, Umladens und Ruhens, bis zum Ende des Entladens der Tiere am Bestimmungsort.“ Das längere Verwahren von Hunden in Transportboxen oder auch frei im PKW außerhalb einer Transportsituation ist nicht zulässig, wie mehrere Gerichtsurteile bestätigt haben. Im Urteil des VG Würzburg (7) heißt es laut Gutachten des Amtstierarztes, dem das Gericht folgte (Randnummer 17): „Das Unterbringen bzw. Einsperren von Hunden in einer Transportbox habe nur im Rahmen von Transporten seine Berechtigung. Einen vernünftigen Grund, Hunde dauerhaft in derartigen Boxen unterzubringen, gebe es nicht.“ Eine nächtliche Unterbringung von Hunden in Boxen wurde auch in einem Urteil des OVG Münster (8) untersagt. Das Urteil des VGH München (9) besagte: „Der Halter eines Tieres hat sicherzustellen, dass das Tier jederzeit seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend verhaltensgerecht untergebracht ist“ (Randnummer 7). Zitat aus einem 162 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Urteil des VG Stuttgart (9): „Daher ist ein Kraftfahrzeug wegen seiner beengten Raumverhältnisse nur zum Transport, nicht aber zur Unterbringung von Hunden über mehrere Stunden geeignet.“ In einer Stellungnahme einer Gruppe österreichischer und deutscher Experten (Binder et al., 2020) werden 30 Minuten als zeitliche Grenze für das zulässige Verwahren von Hunden in einer geschlossenen Box oder im Zimmerkäfig angesehen. Diese Regelungen gelten für die regelmäßige Unterbringung von Hunden im Alltag. Bei bestimmten Situationen (z. B. Einsatz von Hunden im Katastrophenschutz) oder auch seltenen Einzelereignissen kann ein „vernünftiger Grund“ nach § 1 TierSchG vorliegen, um Hunde über einen längeren Zeitraum in Boxen zu belassen. Es jeden Einzelfall abzuwägen, ob das beabsichtigte Ziel eine entsprechende Haltungseinschränkung des Tieres rechtfertigt und ob es nicht mit „milderen“ Mitteln erreicht werden kann. für ist Statt den Hund zuhause in Box oder Käfig zu sperren, sollten Hundehalter mit ihrem Tier bei Verhaltensproblemen eine Hundeschule oder einen Tierverhaltenstherapeuten aufsuchen oder - bei Trennungsangst des Hundes - ihn durch einen Hundesitter betreuen lassen. Auch die vorübergehende Unterbringung des Hundes in einem hundegerechten, ausreichend großen Zimmer, wenn Kinderbesuch oder Handwerker in die Wohnung kommen, oder auch die Verwendung von Gittern in Türdurchgängen sind gute Alternativen. Gegen die Verwendung von Box oder Hundekäfig mit permanent geöffneter (am besten abmontierter) Tür spricht selbstverständlich nichts. Solange der Hund selbst entscheiden kann, wann er hinein- und herausgeht, kann eine solche Box einen wertvollen Rückzugsort für den Hund darstellen. Weitere Details zur Thematik finden sich bei Binder et al. (1) und Döring et al. (11). Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. Binder R, Arhant C, Affenzeller N, Bayer K, Fiala-Köck B, Flohr J, Jung H, Kluge K, Schneider B, Schönreiter S, Schwarzer A, Schoening B. Unterbringung von Hunden in Boxen und ähnlichen Unterkünften -Möglichkeiten und Grenzen der kurzfristigen Unterschreitung von tierschutzrechtlichen Mindestanforderungen. Wiener Tierärztliche Monatsschrift; 2020;107:212-232. https://www.vetmeduni.ac.at/fileadmin/v/tierhaltung/Material/WTM_Unterbringung_von_Hunden_in_Boxen.pdf Döring D, Schneider B, Erhard MH, Schönreiter S: Hundekäfige für die Wohnung. Schriftfassung des Vortrags auf der 27. Internationalen DVG-Fachtagung zum Thema Tierschutz, 25.03.2022, Proceedings. Verlag der DVG Service GmbH, Gießen; 2022: S. 295-300. ISBN 978-3-86345-615-3. Tierschutzgesetz. Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 20 des Gesetzes vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2752) geändert worden ist. Tierschutz-Hundeverordnung. Tierschutz-Hundeverordnung vom 2. Mai 2001 (BGBl. I S. 838), die durch Artikel 1 der Verordnung vom 25. November 2021 (BGBl. I S. 4970) geändert worden ist. Begründung zur Verordnung. Verordnung zur Änderung der Tierschutz-Hundeverordnung und der Tierschutztransportverordnung mit Begründung und Vorblatt. Bundesrats-Drucksache 394/21: 2021: S. 19. https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2021/0301-0400/394-21.pdf?__blob=publicationFile&v=1 Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97. VG Würzburg. Beschluss vom 03.09.2012 - W 5 S 12.718. OVG Münster. Beschluss vom 30.6.2016 – 20 B 1408/15, BeckRS 2016, 49411. VGH München. Beschluss vom 31.05.2005 - 25 ZB 04.3457, BeckRS 2005, 16618. VG Stuttgart. Beschluss vom 18.9.2013 – 4 K 2822/13, BeckRS 2013, 56580. Döring D, Schneider B, Erhard MH, Schönreiter S. Verwendung von verschließbaren Hundeboxen im Alltag. Hundekäfige als neuer Trend für das Wohnambiente. Deutsches Tierärzteblatt; 2022; 70(3): 306-313. Kontakt PD Dr. Dorothea Döring; Lehrstuhl für Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung, Veterinärwissenschaftliches Department, Tierärztliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München D.Doering@lmu.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 163

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Können Saugkälbertransporte tierschutzgerecht sein? Alexander Rabitsch Tierärztliche Praxis Rosental (Österreich) Zur Physiologie Saugkälber in Mutterkuhhaltung trinken bei freier Wahl bis zu 12-mal, im Schnitt 5- bis 6-mal täglich am mütterlichen Euter. In der bäuerlichen Haltung werden Saugkälber in 9 von 10 Fällen in 12-stündigen Intervallen zweimal täglich mit Milch oder Milchaustauschertränke gefüttert. Die Stunden vor dieser Flüssigfütterung erleben die Tiere aufgrund aufkeimenden Hungers zunächst als schlichtes Unbehagen. Jede weitere Verlängerung der Tränkeintervalle über 12 Stunden hinaus führt mit Gewissheit zu einem mehr als nur geringfügigen Unbehagen; dieses aber stellt per definitionem Leiden dar (1-2). Zum Rechtlichen Die Europäische Tiertransportverordnung (3) normiert in Anh.I Kap.V 1.2. zunächst eine maximale Beförderungsdauer von nicht mehr als acht Stunden. Die sodann in 1.3. angeführte Möglichkeit zur Verlängerung der Beförderungsdauer für bestimmte Haustiere stellt eine Ausnahme dar; die Notwendigkeit zur Erfüllung der erforderlichen Bedingungen ist somit eng auszulegen. Hier gilt, dass die Fahrzeuge den Ausstattungserfordernissen des Anh.I Kap.VI leg.zit. Genüge tun, unter anderem müssen geeignete Fütterungsvorrichtungen mitgeführt werden. Im Falle der flüssigfutterabhängigen Saugkälber sind dies Tränkebehältnisse mit verformbaren Nippeln. Werden diese Voraussetzungen erfüllt, dürfen Saugkälber bis zu 19 Stunden transportiert werden. Sie müssen aber gem. Anh.I Kap.V 1.4.a) bereits spätestens 9 Stunden nach Transportbeginn, d. i. das Verladen des 1. Tieres getränkt, „nötigenfalls“ gefüttert werden. Diese Notwendigkeit ist evident, da die Kälber anderenfalls durch Nahrungskarenz in den eingangs erwähnten Leidenszustand verfallen würden. Zur Realität Derzeit werden während des Transportes, zumeist aber auch an den Sammelstellen und als 1. Gabe an Bestimmungsorten lediglich Elektrolytlösungen, also Mineralwässer mit einem Energieträger (Zucker) angeboten. Die Fütterung von Saugkälbern an Bord der Fahrzeuge (4) ist zwar möglich, eine individuelle, ausreichende und kontrollierbare Flüssigfutteraufnahme ist aber aus den folgenden Gründen nicht möglich: Das Milchaustauscherpulver muss mit fast heißem Wasser angerührt und danach auf Körpertemperatur abgekühlt werden, sodann muss es den Tieren so verabreicht werden, dass keines zurückbleibt und alle innert einer Stunde Fahrtunterbrechung die erforderliche Menge an Tränke, wegen drohender Verdauungsprobleme aber auch keineswegs zuviel erhalten. Dies setzt individuelle Gaben und eine minutiöse Überwachung der z. B. am Sattelschlepper in 9 bis 10 Boxen auf 3 Ladeebenen untergebrachten ca. 200 Tiere durch nur 2 Betreuer (Fahrer und Beifahrer) voraus. Überdies existiert mW in Europa gar nur ein einziger Prototyp eines Kälber- LKWs mit der Möglichkeit des Angebotes einer warmen Milchmahlzeit. Sämtliche anderen in Europa Saugkälber befördernden Straßentransportmittel haben gar keine Möglichkeit zur Flüssigfütterung vorgesehen (5). Um überwacht und kontrolliert gefüttert zu werden, müssten die Tiere abgeladen und nach Nahrungsaufnahme wieder verladen werden (6), was in höchstem Maße unpraktikabel erscheint und die Beförderungsdauer unnötig verlängert. Seit mehr als 25 Jahren werden Saugkälber, aber auch Sauglämmer, auf Langstrecken quer durch Europa transportiert, ohne dass den elementaren Bedürfnissen dieser Tiere nach Sättigung entsprochen wird. Rechnet man den Weg vom Geburtsort (vom Züchter) über Sammelstellen (Verladeort) bis zum finalen Bestimmungsort (Mäster) so wird diesen Tieren oft mehr als 33 Stunden eine adäquate Fütterung vorenthalten. 164 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Tierleid messen … und dennoch ist die Todesrate bei den Ankünften sehr gering. Daraus aber ist ableitbar, dass nicht „Death on arrival“ („DOA“) die valide Maßzahl für das Wohlbefinden der Tiere ist. Als Messgrößen können dienen: 1. inwieweit und wie lange den Tieren die Bedürfnisbefriedigung und die Bedarfsdeckung vorenthalten wird, 2. die Erkrankungsrate und Todesrate in den ersten 60 Tagen nach Ankunft (7-9) und 3. der tatsächlich im selben Zeitraum angewandte Antibiotikaeinsatz, um Erkrankungen zu verhindern. Studien Der auf TRACES-Auswertungen beruhende Bericht „Study on shifting from transport of unweaned dairy calves over long distance to local rearing and fattening“ (10) spricht von Verstößen gegen Tierschutzvorschriften in nur 0,1 bis 0,2 % aller Transporte. Ist es aber nicht so, dass die Saugkälber am Langstreckentransport von 19 Stunden zu 100 % Hunger leiden? Diese Frage ist mE vorbehaltlos zu bejahen. Daher verblüffen die erwähnte und ähnliche Studien, die sowohl das berechenbare als auch das augenscheinliche Leiden der Tiere negieren und wissenschaftlichem Tierschutz Hohn sprechen. Epikrisis Ich komme zu dem Schluss, dass Saugkälbertransporte über 19 Stunden Dauer nicht tierschutzgerecht durchgeführt werden können. Überdies stelle ich fest, dass bei Transporten von Saugkälbern in der Europäischen Union den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen keinesfalls in vollem Umfang Rechnung getragen wird (11-15), wie dies Artikel 13 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (16) festlegt. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Rabitsch A: Zum Transport nicht-entwöhnter Kälber. Gutachten. Stabsstelle der Landesbeauftragten für Tierschutz – Julia Stubenbord, Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, 2020. https://mlr.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mlr/intern/dateien/PDFs/SLT/2020-05- 10_Gutachten_Rabitsch_Transport_nicht_entwoehnter_Kaelber.pdf. Rabitsch A, Marahrens, M: Anmerkungen zum Transport nicht-entwöhnter Kälber, Amtstierärztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle 2020, 27, 185-195. Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97. Marahrens, M: Zulassung von Transportfahrzeugen für den langen Transport von Kälbern. TVT-Nachrichten 2/2019, Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz. Herzog K, Biedermann M, Franzky A: The complex of animal welfare problems during long distance transports of unweaned calves, Berl Münch Tierärztl Wochenschr 2020, Schlütersche Verl.anst., DOI 10.2376/0005-9366-19023. ANIMALTRANSPORTGUIDES 2018: Europäische Kommission; Infoblätter Kälber-Transport, ISBN:978-92-79-81093- 0, http://animaltransportguides.eu/wp-content/uploads/2017/03/German-Calves-TransportFINAL2.pdf (letzter Zugriff 12.9.2023). Knowles T G: A review of post transport mortality among younger calves. Veterinary Record 1995, 137,406–407. May B, Rabitsch A, Wessely, W: Tiergesundheitliche und tierschutzrechtliche Folgen innerösterreichischer Langstreckentransporte nicht-entwöhnter Kälber, TiRuP – Tier- und Artenschutz in Recht und Praxis 2021, DOI: 10.35011/tirup/2021-10. Fiore G, Hofherr J, Natale F et al: On-farm Mortality in Cattle, Joint Research Centre (JRC) + Institute for the Protection and Security of the Citizen (IPSC), European Commission, On-farm mortality in cattle – Analysis of on-farm data for cattle for retrospective and prospective epidemiological surveillance, 2010, ISBN 978-92-79-18948-7, http://bookshop.europa.eu/en/on-farm-mortality-in-cattle- pbLBNA24670/?CatalogCategoryID=7QwKABstDHwAAAEjK5EY4e5L (letzter Zugriff 15.9.2023). Study on shifting from transport of unweaned male dairy calves over long distance to local rearing and fattening, https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/960c2212-d7e6-11ec-a95f-01aa75ed71a1/language-en (letzter Zugriff 12.9.2023). Rabitsch A: Tiertransporte – Anspruch und Wirklichkeit, Veterinärspiegel Verlag (schaefermuellerpublishing), ISBN: 978-3-86542-065-7, e-book ISBN: 978-3-86542-066-4. Animals´ Angels, Hafner C, Rabitsch A: The Myth of Enforcement of Regulation (EC) No 1/2005 on the protection of animals during transport, Animals´ Angels Press 2016, ISBN: 978-3-9816696-4-0. Animal Welfare Organisation / Tierschutzbund Zürich, The victims of the dairy industry: Long Distance Transport of Unweaned Calve and Lambs, https://www.animal-welfare- 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 165

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ 14. 15. 16. foundation.org/files/user_upload/Long_distance_transport_of_unweaned_calves_and_lambs_2016.07.21.pdf (letzter Zugriff 12.9.2023). May B, Rabitsch A, Wessely W: Tiergesundheitliche und tierschutzrechtliche Folgen innerösterreichischer Langstreckentransporte nicht-entwöhnter Kälber, TiRuP – Tier- und Artenschutz in Recht und Praxis 2021, DOI: 10.35011/tirup/2021. Patsch P, Felde B, Rabitsch A: Widerrechtlichkeit des bilateralen Verwaltungsübereinkommens zum Transport von Kälbern zwischen Italien und Österreich, TiRuP – Tier- und Artenschutz in Recht und Praxis 2022, DOI: 10.35011/tirup/2022-1. Vertrag über die Arbeitsweise der EU, https://eur- lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12012E/TXT:de:PDF. Kontakt Dr. Alexander Rabitsch; Tierärztliche Praxis Rosental, Ferlach, Österreich animalwelfare@rabitsch-vet.at. 166 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Entwicklung von zielgruppenorientierten E-Learning-Schulungsunterlagen zur Verbesserung des Tierschutzes bei Transport und Schlachtung von Rind und Schwein Rudi Isbrandt1, Svea Nicolaisen2, Nora Baer1, Marcel Nitschke2, Fabienne Eichler3, Nina Langkabel1, Mechthild Wiegard2, Veronica Duckwitz3, Lisa Buchwald4, Harm Kuper4, Vanessa Menzel5, Jörg Altemeier5, Christa Thöne-Reineke2, Diana Meemken1, Marcus G. Doherr3 1Institut für Lebensmittelsicherheit und -hygiene, AG Fleischhygiene, FU Berlin; 2Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde, FU Berlin; 3Institut für Veterinär-Epidemiologie und Biometrie, FU Berlin; 4Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Weiterbildung und Bildungsmanagement, FU Berlin; 5Tönnies Holding ApS & Co. KG Das Projekt Ziel des Projekts ist die Verbesserung des Tierschutzes durch eine gezielte Schulung von Mitarbeitenden beim Transport und bei der Schlachtung von Rindern und Schweinen. Die Onlineschulung ist entsprechend der unterschiedlichen Arbeitsbereiche gegliedert und auf die Sprachkenntnisse der Mitarbeitenden abgestimmt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Zielgruppe der Personen mit geringem Bildungshintergrund und/oder geringen Kenntnissen der deutschen Sprache. Mithilfe von systematischen Literaturrecherchen (1,2) für beide Tierarten, welche relevanten Aspekte im Umgang mit den Tieren herausfilterten, bei denen eine gezielte Anleitung der Mitarbeitenden einen Einfluss auf die Umsetzung und Verbesserung des Tierschutzes hat, und einer anschließenden Delphi-Umfrage (3) unter Experten für Tiertransport und Schlachtung im deutschsprachigen Raum, wurden die identifizierten Arbeitsschritte nach ihrer Wichtigkeit und der jeweiligen Veränderbarkeit bezüglich der Verbesserung des Tierschutzes beurteilt. Experten auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung haben daraufhin ein an die Zielgruppe angepasstes didaktisches Konzept für die Schulung erstellt, und anhand dieser Ergebnisse wurden für die Tierart Rind und Schwein 11 Module erstellt. In einer Pilotphase wurden die ersten Module von amtlichen Tierärzten, Tierschutzbeauftragten sowie Mitarbeitenden im Lebendtierbereich der Schlachtbetriebe evaluiert. Die Mehrheit der Teilnehmenden vergaben gute bis sehr gute Bewertungen für Design, Layout, Inhalt, Struktur und Benutzerfreundlichkeit der Videos und interaktiven Bildschirmelemente. Die Teilnehmenden waren zufrieden mit den Inhalten und erklärten, das Schulungsprogramm selbst für Weiterbildungszwecke nutzen zu wollen (4, 5). Die Module sind seit Oktober 2023 auf der Online-Plattform tet.folio der FU Berlin hinterlegt und mit Hilfe eines Links über jeden internetfähigen Computer, Laptop, Tablet sowie Smartphone kostenlos erreichbar. Abb. 1. Startseite der E-Learning- Schulungsplattform eSchulTS2 mit Sprachauswahl 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 167

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Die Schulungsmodule Die Teilnehmenden haben die Möglichkeit, auf der Startseite eine der sechs Sprache (Deutsch, Rumänisch, Polnisch, Bulgarisch, Ungarisch und Englisch) auszuwählen und sich innerhalb der Module die vorhandenen Texte durch das Anklicken eines Lautsprechersymbols auch vorlesen zu lassen (Abb. 1). Durch die Auswahl der eigenen Muttersprache soll die Motivation und der Lernerfolg der Teilnehmenden erhöht werden. Nach der Sprachwahl können die Teilnehmenden sich für die Tierart Rind oder Schwein entscheiden, um dann die für ihren Arbeitsbereich relevanten Module aufzurufen und zu bearbeiten (Abb. 2). Abb. 2: Auswahl der verfügbaren Module getrennt nach Rind und Schwein in der E- E-Learning- Schulungsplattform eSchulTS2 Die Module Tierverhalten, Umgang mit dem Rind/Schwein und Transportfähigkeit sind sowohl für Tiertransporteure und Schlachthofmitarbeitende relevant. Bei dem Modul Tierverhalten wird auf die Seh- und Hörfähigkeit von Rindern eingegangen und die Teilnehmenden sollen lernen, welches tierische Verhalten bedeutsam für die Arbeitssicherheit ist. Umgang mit dem Rind/Schwein thematisiert das Treiben mit und ohne Hilfsmittel und das Anwenden der elektrischen Treibhilfe. Im Modul Transportfähigkeit sollen mehrere Animationen vermitteln, welche Rinder und Schweine nicht transportiert werden dürfen. sind Durchführung der Betäubung, Betäubungskontrolle/Nachbetäubung und das Entbluten. Bei der Tierart Rind steht die Betäubung mittels Bolzenschussgerät im Bereich der Nachbetäubung thematisiert. Das Betäubungsmodul bei der Tierart Schwein umfasst außerdem die CO2- und Elektrobetäubung und geht auch auf die rechtlichen Grundlagen sowie die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Betäubungsmethoden ein. im Mittelpunkt, beim Schwein wird diese Betäubungsmethode Weitere Module für die Schlachthofmitarbeitenden Durch eine textarme Gestaltung der Onlineschulung mit überwiegend vertontem Bild- bzw. Videomaterial soll ein leichter Zugang insbesondere für Teilnehmende mit einem geringeren Bildungsniveau gewährleistet werden. Das verwendete Foto- und Videomaterial wurde im laufenden Schlachtbetrieb aufgenommen. Es dient der Verdeutlichung von positiven Beispielen aus der Praxis und wird mit einem grünen Haken unterstützt. Dieses soll die Teilnehmenden zum Nachahmen verleiten. Unerwünschtes oder gar tierschutzwidriges Verhalten wird in den Schulungsmaterialen als Animationen und Comics dargestellt und mit einem großen roten Kreuz versehen; auch dieses dient der plakativen Abstrahierung. Für teilnehmende Tierschutzbeauftragte gibt es anwählbare Infofelder, in denen weiterführende Inhalte wie z.B. rechtliche Grundlagen oder weitere Veröffentlichungen zu dem jeweiligen Themenbereich aufgeführt werden. Diese weiterführenden Unterlagen sind überwiegend in Deutsch verfügbar, da davon ausgegangen wird, dass diese Zielgruppe entsprechende Texte verstehen können muss. Die Bearbeitungszeit eines Moduls richtet sich nach den zu vermittelnden Informationen und beträgt maximal 15 Minuten, um die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden aufrecht zu erhalten. Die einzelnen Module können unabhängig voneinander absolviert und ausgewählte Seiten können jederzeit erneut besucht werden. 168 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Veterinary Public Health ___________________________________________________________________________________________________________ Am Ende jeder Lerneinheit gibt es ein einfach gehaltenes Quiz, um das zuvor erworbene Wissen zu testen und zu vertiefen. Nach Absolvieren des Quiz haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich eine Teilnahmebestätigung (PDF) erstellen zu lassen, um für sich selbst oder den Arbeitgeber den Abschluss der Lerneinheiten nachzuweisen. Das Projekt eSchulTS² war ein gemeinschaftliches Projekt folgender Institute der Freien Universität Berlin: der AG Fleischhygiene des Instituts für Lebensmittelsicherheit und -hygiene, des Instituts für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde, des Instituts für Veterinär-Epidemiologie und Biometrie und dem Fachbereich und Bildungsmanagement. Industriepartner des Projekts war die Tönnies Holding Aps und Co KG. Gefördert wurde das Projekt vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Förderkennzeichen 2817806A18). Arbeitsbereich Weiterbildung Erziehungswissenschaft und Psychologie, Literatur 1. Isbrandt R, Wiegard M, Meemken D, Langkabel N. Impact of Procedures and Human-Animal Interactions during Transport and Slaughter on Animal Welfare of Pigs: A Systematic Literature Review. Animals 2022, 12, 3391. DOI: 10.3390/ani12233391. 2. Nicolaisen S, Langkabel N, Thöne-Reineke C, Wiegard M. Animal Welfare during Transport and Slaughter of Cattle: A Systematic Review of Studies in the European Legal Framework. Animals 2023, 13, 1974. DOI: 10.3390/ani13121974. 3. Duckwitz V, Eichler F, Isbrandt R, Nicolaisen S, Langkabel N, Wiegard M, Meemken D, Thöne-Reineke C, Doherr M. Resultate einer Expert:innenbefragung zur Tierschutzrelevanz einzelner Prozessschritte und deren Verbesserungspotenzial durch Schulungen bei Transport und Schlachtung von Rind und Schwein. 22. Fachtagung für Fleisch- und Geflügelfleischhygiene, 2022, Berlin. ISBN 978-3-00-070935-7, S. 45-50 4. Buchwald L, Duckwitz D, Seidel K, Isbrandt R, Nicolaisen S, Langkabel N, Meemken D, Thöne-Reineke C, Wiegard M, Altemeier J, Menzel V, Doherr M, Kuper H (2023). Digitale Mitarbeiter:innenschulung zum Thema Tierschutz für die Tierart Schwein: Evaluation des Schulungskonzepts. 23. Fachtagung für Fleisch- und Geflügelfleischhygiene, Berlin. ISBN 978-3- 00-074045-9, S. 22-24. 5. Nicolaisen S, Thöne-Reineke C, Buchwald L, Kuper H, Wiegard M. Analysis of the Knowledge Level of Slaughterhouse Employees and Evaluation of Online Training to Improve Animal Welfare. Journal of Food Science and Nutrition Research 2023, 6: 127-138. DOI:10.26502/jfsnr.2642-110000138. Kontakt Prof. Marcus G. Doherr, Freie Universität, Fachbereich Veterinärmedizin, Institut für Veterinär-Epidemiologie und Biometrie, Berlin eSchulTS2@vetmed.fu-berlin.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 169

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Neue und verbesserte Methoden zur Stressreduzierung bei wachen, kopffixierten Mäusen Anna Nasr1,2,3, Matthew E. Larkum1,2 1Charité 3R, Charité-Universitätsmedizin; 2Humboldt-Universität zu Berlin; 3Vrije Universiteit Amsterdam Die Kopffixierung ist eine Technik, die insbesondere in vielen Forschungsbereichen, in den Neurowissenschaften, eingesetzt wird. Bei dieser Technik wird eine Vorrichtung am Schädel des Tieres befestigt, um seine Bewegungen einzuschränken und seinen Kopf zu stabilisieren. Die Kopffixierung wird seit fast 60 Jahren in den Neurowissenschaften eingesetzt. Forscher*innen begannen erstmals damit, diese Technik bei Tieren anzuwenden, um neurophysiologische Experimente durchzuführen [1-3]. Diese bahnbrechenden Experimente gaben den Anstoß für eine jahrzehntelange Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Aktivität in den Sensomotorischen Kortexen und dem Verhalten. So wurde die Kopffixierung als Standardtechnik für die Kombination von wachem Verhalten und anspruchsvollen Aufzeichnungs- und Bildgebungsverfahren etabliert [4-8]. Die Kopffixierung ist zwar ein noch unerlässliches Instrument für die wissenschaftliche Forschung, hat aber den Nachteil, dass sie erheblichen Stress und Unbehagen beim Versuchstier verursachen kann. Unabhängig davon ist diese Methode zeit- und kostenintensiv, erfordert hochtechnisches Equipment und spezialisiertes Personal. Heutzutage gibt es Alternativen zur Kopffixierung. Dazu gehört die Verwendung von am Kopf montierten Kameras und Sensoren, mit denen die Bewegungen eines Tieres verfolgt werden kann, ohne dass es immobilisiert werden muss. Es ist auch möglich, elektrische Aufzeichnungen bei sich frei bewegenden Mäusen über am Kopf befestigte Sonden vorzunehmen [9-10]. Darüber hinaus können Forscher*innen mittlerweile nicht- invasive Techniken wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) einsetzen, um die Gehirnfunktion bei bewussten Tieren zu untersuchen [11]. Am Kopf befestigte Sonden können bei sich frei bewegenden Mäusen verwendet werden, wenn Forscher*innen neuronale Aktivität und Verhalten in einem natürlichen Kontext untersuchen. Dieser Ansatz ermöglicht die Beobachtung neuronaler Reaktionen in realen Szenarien, z. B. während die Mäuse verschiedenen Aktivitäten nachgehen und Verhaltensweisen zeigen. Dieser Aufbau ist besonders nützlich, für das Verständnis neuronaler Prozesse im Zusammenhang mit Erkundung, Navigation und anderen Verhaltensweisen, die Mobilität und Interaktionen mit der Umwelt erfordern. Die Fixierung des Kopfes ist jedoch notwendig, um bestimmte Hirnregionen für neuronale Untersuchungen präzise anzusteuern oder die Stabilität von implantierten Elektroden, die für die Messungen erforderlich sind, während längerer Aufzeichnungen zu gewährleisten. Das bietet eine bessere Kontrolle über die Elektrodenplatzierung und minimiert Bewegungsartefakte. Forscher*innen können sich für die Fixierung des Kopfes entscheiden, wenn sie feinskalige neuronale Aktivität untersuchen, z. B. bei Aufzeichnungen von einzelnen Neuronen oder neuronalen Oszillationen, bei denen selbst subtile Bewegungen ein erhebliches Rauschen in den Daten verursachen können. Darüber hinaus kann die Fixierung des Kopfes bei Aufgaben, die eine präzise Stimulus-Präsentation und Verhaltensüberwachung erfordern, von Vorteil sein, da sie eine genaue Synchronisierung der neuronalen Daten mit externen Stimuli oder Verhaltensereignissen ermöglicht. Darüber hinaus wird die Fixierung des Kopfes häufig bei Untersuchungen von Krankheitsmodellen verwendet, bei denen es wichtig ist, Schwankungen im Verhalten und in der Positionierung der Tiere zu minimieren. Insgesamt gibt es zwar berechtigte Bedenken hinsichtlich der ethischen Aspekte der Kopffixierung und der damit verbundenen Belastung des Versuchstieres, doch bleibt sie ein unverzichtbares Instrument für die Wissenschaft. Es ist davon auszugehen, dass mit dem Aufkommen neuer Technologien zukünftig mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Tiere auf effektive und stressarme Weise zu untersuchen. Die Kopffixierung kann zwar nicht vollständig ersetzt werden, aber es ist möglich, sie im Sinne der 3R zu verfeinern. Ein Ansatz besteht darin, sich auf den durch die Kopffixierung verursachten Stress und seine Auswirkungen auf das Versuchstier zu konzentrieren. Die Minimierung von Stress ist ein Erfordernis bei der Durchführung wissenschaftlicher Experimente an Tieren, insbesondere bei Mäusen mit fixiertem Kopf. Dies gilt ebenfalls für die längere Ruhigstellung des Kopfes. Daher ist es zunächst erforderlich, das Stressniveau bei 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 171

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Mäusen zu ermitteln und zu überwachen, um dadurch ihr Wohlergehen und die Zuverlässigkeit der Versuchsergebnisse zu gewährleisten und zu optimieren. Der erste Schritt besteht darin, dem Auftreten von Stress vorzubeugen. Ein solcher Ansatz ist die umfassende Gewöhnung und das Training. Wenn ein Tier mit der gesamten Versuchsanordnung und der Aufgabe, die es zu lösen hat, vertraut ist, ist die Fixierung des Kopfes weniger belastend. Daraus ergeben sich reduzierte Lernzeiten für die Aufgaben und weniger Stressanzeichen während der Kopffixierung [12]. jeweils ihre Vor- und Nachteile haben. Eine gängige Methode Die Vermeidung von Stress ist zwar wichtig, kann aber während eines Experiments nicht völlig ausgeschlossen werden. Um ihn zu erkennen und entgegenzuwirken, ist es unabdingbar, Stress während des Versuchs erkennen zu können. Es gibt mehrere Methoden zum Nachweis von Stress bei Mäusen mit fixiertem Kopf, die ist die Messung des Stresshormonspiegels in Blut- oder Stuhlproben. Die Blutabnahme ist sehr genau, jedoch invasiv und zeitaufwendig, da das entnommene Blut erst analysiert werden muss, um den Stresswert bestimmen zu können. Die Stuhlprobe ist nicht invasiv, aber auch dort ist die Auswertung meistens erst Tage bis Wochen nach dem Experiment möglich. Ein weiterer Ansatz ist die mouse grimace scale, bei der Veränderungen im Gesichtsausdruck beobachtet werden, die mit Stress oder Schmerz in Verbindung gebracht werden. Diese Methode ist jedoch nur von begrenztem Nutzen, da sie nur akuten Stress oder Schmerz erkennen kann und nicht empfindlich genug ist, um subtilere Veränderungen des emotionalen Zustands des Tieres zu erkennen. Das liegt meist daran, dass die Forscher*in während des Experiments nicht kontinuierlich auf kleinste Veränderungen des Gesichtsausdrucks achten kann. Jüngste Fortschritte in der Forschung der künstlichen Intelligenz, z. B. tiefe neuronale Netze, haben neue Möglichkeiten eröffnet, um Stress bei Mäusen mit fixiertem Kopf zu erkennen. Ein tiefes neuronales Netz ist eine Art maschineller Lernalgorithmus, der große Datenmengen analysieren und Muster und Beziehungen zwischen Variablen erkennen kann. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist DeepLabCut, ein Softwaretool, das bestimmte Gesichtsabschnitte von Mäusen mit fixiertem Kopf in Videoaufnahmen erkennen und verfolgen kann. Durch die Kombination mit einem zweiten Algorithmus ist es möglich, Veränderungen dieser Gesichtspunkte zu analysieren. Diese neue Software kann anhand von Gesichtsmerkmalen Veränderungen im emotionalen Zustand des Tieres erkennen, wie z. B. Stress oder Unbehagen. Diese Informationen können dann verwendet werden, um die Forscher*innen während des Experiments über das Wohlbefinden der am Kopf fixierten Mäuse zu informieren und die Versuchsbedingungen entsprechend anzupassen. Insgesamt ist die Erkennung von Stress bei diesen Mäusen von entscheidender Bedeutung für ihr Wohlergehen und die Gültigkeit wissenschaftlicher Experimente. Während herkömmliche Methoden ihre Grenzen haben, bieten neue Technologien wie tiefe neuronale Netze und Software wie DeepLabCut vielversprechende neue Wege zur Überwachung des emotionalen Zustands von Versuchstieren. Durch die Kombination traditioneller Gewöhnungsmethoden mit hochmodernen Technologien des maschinellen Lernens können wir einen ganzheitlicheren und humaneren Ansatz für die Pflege von Labormäusen entwickeln, deren Kopf fixiert wird. Dieser Ansatz fördert nicht nur das Wohlergehen dieser Tiere, sondern erhöht auch die Zuverlässigkeit der mit ihnen gewonnenen experimentellen Daten, was letztlich unser grundlegendes Verständnis verschiedener neuronaler Phänomene verbessert. Literatur 1. Jasper HH, Ricci G, Doane B, Microelectrode analysis of cortical cell discharge during avoidance conditioning in the monkey:, the Moscow colloquium on electroencephalography of higher nervous activity. Electroencephalogr Clin Neurophysiol 1960;(suppl 13): 137–5.5 2. Evarts EV (1968), Relation of pyramidal tract activity to force exerted during voluntary movement., J Neurophysiol 31: 14?27. pmid:4966614 3. R N Lemon, R Porter, Afferent input to movement-related precentral neurones in conscious monkeys 4. Dominiak SE, Nashaat MA, Larkum ME and Sachdev RNS.(2019), Whisking signals motor preparation and the behavioral state of mice., Journal of Neuroscience, 1809–19. 5. Bergmann R, Sehara K, Dominiak SE, et al. Coordination between Eye Movement and Whisking in Head-Fixed Mice Navigating a Plus Maze. eNeuro. 2022 Aug 29;9(4):ENEURO.0089-22.2022. doi: 10.1523/ENEURO.0089-22.2022. PMID: 35961771; PMCID: PMC9426778. 172 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ 6. Sehara Keisuke, Paul Zimmer-Harwood, Matthew E. Larkum, and Robert N. S. Sachdev, Real-Time Closed-Loop Feedback in Behavioral Time Scales Using DeepLabCut, eNeuro. 2021 Mar-Apr; 8(2): ENEURO.0415-20.2021 pmid:33547045 7. Sehara K, Bahr V, Mitchinson B, et al. Fast, Flexible Closed-Loop Feedback: Tracking Movement in "Real-Millisecond- Time". eNeuro. 2019 Nov 1;6(6):ENEURO.0147-19.2019. doi: 10.1523/ENEURO.0147-19.2019. PMID: 31611334; PMCID: PMC6825957. 8. Mountcastle V B, Talbot W H, Sakata H, et al. Cortical, neuronal mechanisms in flutter-vibration studied in unanesthetized monkeys. Neuronal periodicity and frequency discrimination., 1 May 1969 pmid:4977839 9. Werner CT, Williams CJ, Fermelia MR, et al. Circuit Mechanisms of Neurodegenerative Diseases: A New Frontier With Miniature Fluorescence Microscopy. Front Neurosci. 2019 Oct 31;13:1174. doi: 10.3389/fnins.2019.01174. PMID: 31736701; PMCID: PMC6834692. 10. Daniel Aharoni, Tycho M. Hoogland, Circuit Investigations With Open-Source Miniaturized Microscopes: Past, Present and Future 2019 11. Zeng H, Jiang Y, Beer-Hammer S, et al., Awake Mouse fMRI and Pupillary Recordings in the Ultra-High Magnetic Field Frontiers in Neuroscience VOLUME:16, 2022, DOI=10.3389/fnins.2022.886709 12. Nasr A, Dominiak SE, Sehara K, et al. (2022) Efficient training approaches for optimizing behavioral performance and reducing head fixation time. PLOS ONE 17(11): e0276531. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0276531 Kontakt Anna Nasr; Charité 3R, Charité-Universitätsmedizin anna.nasr@charite.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 173

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Nicht-aversives Handling und Vorbereitung von Mäusen auf Versuche Kristina Ullmann Nuvisan ICB GmbH, Berlin; Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragte e.V. Refinement durch Tunnelhandling als Vorbereitung von Mäusen auf Versuche In Versuchstierhaltungen werden Mäuse regelmäßig zur Reinigung der Käfige und zur Durchführung von Untersuchungen oder Eingriffen aus den Käfigen entnommen. Nicht-aversive Methoden der Entnahme stellen gegenüber dem klassischen Fixieren an der Schwanzbasis eine Verbesserung (Refinement) des Umgangs (Handling) mit dem Tier dar. Für das sogenannte Tunnelhandling werden die Mäuse in Röhren mit ca. 4 cm Durchmesser und ca. 9 cm Länge aufgenommen und ohne Fixierung am Schwanz aus dem Käfig entnommen. Untersuchungen zeigen, dass diese Methode nachhaltig den Stress der Tiere reduziert, auch wenn im Kontext des Versuchs Eingriffe durchgeführt werden (1-3). Das Tierschutzgesetz § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 c) (4) in Verbindung mit § 31 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1k TierSchVersV (5) verlangt vom Antragsteller eines Tierversuchsvorhabens die Darstellung (und Durchführung) von für die Tiere, die Verfahren und die Dauer Versuchs geeigneten Eingewöhnungs- und Trainingsprogrammen. Bei der Planung und Durchführung von Eingewöhnungs- und Trainingsprogrammen muss berücksichtigt werden, dass diese dazu vorgesehen sind, die Gesamtbelastung der Tiere zu reduzieren. Ein Gewöhnungs- oder Trainingsprogramm ist unter anderem nur dann geeignet, wenn die dadurch bedingte, zusätzliche Belastung der Tiere durch die reduzierte Belastung im Versuch kompensiert wird. Für Labormäuse gibt es nur wenige publizierte Erkenntnisse über Trainingsprogramme (z.B. 6, 7). Diese fokussieren in der Regel auf das Training als Selbstzweck des Versuchs. Fundierte Anleitungen, die Trainingsziele, -methoden und -erfolge zur Vorbereitung der Mäuse auf die Versuchsdurchführung darstellen, sind noch weniger verfügbar (z.B. 8). Durch die Vielfalt verschiedener, dem Versuchszweck geschuldeter Versuchsabläufe, wie z.B. Verhaltensversuche, operative Eingriffe, Applikation von Testsubstanzen, ist der Bedarf an validierten Programmen groß. Der Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragte e.V. hat erstmalig eine Stellungnahme zu Eingewöhnungs- und Trainingsprogrammen für Labornagetiere im Hinblick auf geplante Versuchsvorhaben publiziert (9). in denen mehrtägige Gewöhnungsprogramme an die Tunnel Die Gewöhnung der Mäuse an das Tunnelhandling kann eine sinnvolle Vorbereitung der Tiere auf Manipulationen während eines Tierversuchs sein, da es geeignet ist, die Stressbelastung der Tiere nachhaltig zu reduzieren (2). Die publizierten, positiven Effekte des Tunnelhandlings beruhen allerdings auf experimentellen Daten, in kleinen Versuchsgruppen durchgeführt wurden. Bisher wurde die Anwendbarkeit der Methode bei acht Mausstämmen berichtet (10). Wenig ist bekannt über die Möglichkeiten der Einführung dieser Methode im regulären Betrieb einer Versuchstierhaltung und -zucht. Die Tierpflegenden arbeiten zum Schutz der Mäuse mit hohen Hygieneauflagen und pflegen großen Tierzahlen einer Vielzahl genetisch veränderter Stämme. Dadurch ist eine Standardisierung der Abläufe erforderlich, die den Rahmen für die Verwendung von Tunneln und die Möglichkeiten eines Trainings der Tiere setzt. Untersuchung der Einführung von Tunnelhandling in einer Zuchtbarriere für Labormäuse Während der Einführung von nicht-aversivem Umsetzen von Mäusen in einer Zuchtbarriere wurden die Zeitdauer des Umsetzens und das Verhalten der Inzuchtstämme WNK (WNK 1 +/- mice) (11), NZW (zwei Unterstämme von NZWLac/J RRID:IMSR_JAX:001058), and Hello Kitty (C57BL6-Cpa-Cre;Mcl-1fl/fl) (12), die mit Tunnel oder schwanzfixiert umgesetzt wurden, dokumentiert (13). Die Tierpflegenden prüften, ob Tunnelhandling bei ihrer täglichen Arbeit durchführbar war. Darüber hinaus wurde analysiert, ob die Mäuse vom wöchentlichen Käfigwechsel mit dieser Methode profitieren. Die Studie erstreckte sich über einen Zeitraum von 10 Monaten. Bei jedem Käfigwechsel wurde das Verhalten von 150 Mäusen in Woche 1 nach dem Absetzen bis 89 Mäusen in Woche 9 nach dem Absetzen in geschlechtshomogenen, stabilen Gruppen von durchschnittlich 3,6 Tieren dokumentiert. Insgesamt wurden 587 tierindividuelle Käfigwechsel mittels Schanzfixierung und 544 mittels Tunnel bewertet. 174 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Die Studie wurde so geplant und durchgeführt, dass keine zusätzliche Belastung für die Tiere erzeugt und der routinierte Käfigwechselprozess nicht gestört wurden. Zur Bewertung wurden sichtbare Parameter ausgewählt, zum Beispiel der Kotabsatz, der freiwillige Kontakt zur Hand der Tierpflegenden und der Aufenthaltsort im Käfig. Der Tunnel, der Teil der Käfigausstattung war, konnte bei allen drei Mäusestämmen zum Umsetzen genutzt werden. Das Verhalten der Tiere war abhängig von der Technik des Umsetzens und dem Mausstamm unterschiedlich. Die Zeit zum Umsetzen einer Maus mittels Tunnel verlängerte sich um ca. 3 Sekunden im Vergleich zur Fixierung an der Schwanzwurzel. Ein untersuchter Parameter war die Häufigkeit der Defäkation während des Käfigwechsels als Hinweis auf Stress. Die mit Tunnel umgesetzten WNK- und NZW- Mäuse setzten weniger Kot ab als die an der Schwanzbasis fixierten Tiere dieser Stämme. Dieser Effekt war bei Hello Kitty nicht vorhanden. Anders als WNK- und Hello Kitty- zeigten die NZW-Mäuse mehr freiwilligen Kontakt zur Hand der Tierpflegenden, was als Zeichen reduzierten Angstverhaltens bewertet werden kann. Es wurde auch bewertet, wo die Tiere sich unmittelbar nach dem Umsetzen in den sauberen Käfig aufhalten. Der Aufenthalt im Haus wird diskutiert als Verstecken und so als Zeichen für Fluchtverhalten. Unabhängig von der Methode halten sich alle Stämme in den späteren Wochen nach dem Umsetzen weniger im Haus auf. Nach Umsetzen mit dem Tunnel halten sich zudem weniger NZW-Mäuse im Haus auf als nach Umsetzen an der Schwanzbasis. Diskussion Die untersuchten Verhaltensparameter zeigten positive Effekte des Umsetzens mittels Tunnel für die NZW- Mäuse. Uneindeutige Effekte ergaben sich bei Hello Kitty- und WNK-Mäusen. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass ein wöchentliches Intervall der Nutzung des Tunnels durch die Tierpflegenden nicht zur Gewöhnung der Tiere an den Vorgang ausreichte. Die Einführung der Entnahme von Mäusen aus dem Käfig mittels Tunnel als Standardmethode zum Ersatz der Fixierung am Schwanz erfordert einen Change Prozess in der Versuchstierhaltung, der institutsintern abgewogen werden muss. Insbesondere die Tierpflegenden leisten im Hinblick auf die Vorbereitung der Mäuse auf den Versuch durch die initiale Gewöhnung der Mäuse an die Methode einen großen Beitrag. Berücksichtigt werden müssen die Investitionen zur Anschaffung der Tunnel und der erhöhte Arbeitsaufwand, die eingehende Schulung und Akzeptanz der neuen Methode durch die Mitarbeitenden (Tierpflegende, Tierärzt*innen, Laborant*innen, Wissenschaftler*innen) und Einflüsse auf Experimente in Abwägung zum Refinement für die Mäuse. Wenig ist bisher bekannt über potenzielle Stammesunterschiede beim Tunnelhandling. Es wäre wünschenswert, Erfahrungswerte und Gewöhnungsprotokolle zu unterschiedlichen Stämmen zu teilen (10). Literatur 1. Hurst JL, West RS. Taming anxiety in laboratory mice. Nat Methods 2010; 7: 825–826. 2. Henderson LJ, Dani B, Serrano EMN, et al. Benefits of tunnel handling persist after repeated restraint, injection and anaesthesia. Sci Rep 2020; 10: 14562. 3. Gouveia K, Hurst JL. Improving the practicality of using non-aversive handling methods to reduce background stress and 4. 5. 6. anxiety in laboratory mice. Sci Rep 2019; 9: 20305. Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 20 des Gesetzes vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2752) geändert worden ist Tierschutz-Versuchstierverordnung vom 1. August 2013 (BGBl. I S. 3125, 3126), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 11. August 2021 (BGBl. I S. 3570) geändert worden ist Leidinger C, Herrmann F, Christa Thöne-Reineke C, et al. Introducing Clicker Training as a Cognitive Enrichment for Laboratory Mice. Vis Exp 2017 121:55415. 7. Martin L, Iceberg E. Quantifying Social Motivation in Mice Using Operant Conditioning. J Vis Exp. 2015 Aug 8;(102):e53009. 8. Dickmann, J.; Gonzalez-Uarquin, F.; Reichel, S.; et al. Clicker Training Mice for Improved Compliance in the Catwalk Test. Animals 2022, 12, 3545. 9. Stellungnahme aus dem Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragte e.V. zu Eingewöhnungs- und Trainingsprogrammen für Labornagetiere im Hinblick auf geplante Versuchsvorhaben (18.09.2023, 230322_AK_Gew%C3%B6hnungs_Trainingsprogramme_r7sK1EQjTwuDr41rI3Cx.pdf (website-editor.net) 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 175

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ 10. Mouse handling - Norecopa Wiki (18.09.2023) 11. Susa K, Kita S, Iwamoto T, et al. Effect of heterozygous deletion of WNK1 on the WNK-OSR1/ SPAK-NCC/NKCC1/NKCC2 signal cascade in the kidney and blood vessels. Clin Exp Nephrol. 2012 Aug;16(4):530-8. 12. Lilla JN, Chen CG, Mukai K, et al. Reduced mast cell and basophil numbers and function in Cpa3-Cre; Mcl-1fl/fl mice. Blood 2011; 118: 6930–6938. 13. Hohlbaum K, Merle R, Ullmann K, et al. The implementation of tunnel handling in a mouse breeding facility revealed strain- specific behavioral responses. im Druck, Lab Anim 2023 Kontakt Dr. Kristina Ullmann; Nuvisan ICB GmbH, Berlin kristina.ullmann@nuvisan.com 176 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Medical Training bei Großtieren Christina S. Helm NUVISAN ICB GmbH, Müllerstr. 178, 13353 Berlin Medical Training ist eine besondere Form des Tiertrainings, mit speziellen Herausforderungen und, vor allem im Kontext der Durchführung von Tierversuchen, einem besonderen Stellenwert. Auch das Medical Training unterliegt natürlich den Lerngesetzen und doch sind grundlegende Unterschiede zu bedenken. So wird beim Medical Training sehr häufig die Grenze der Individualdistanz unterschritten. Wir können uns beim versuchsbezogenen Medical Training beispielsweise langfristig nicht damit begnügen, dass das Tier aus der Situation geht, wenn es ihm zu viel wird, oder Gegenstände meidet, die ihm Angst machen. Aber genau hier, bei unangenehmen Situationen und im ersten Moment einschüchternden Gegenständen, fängt das Medical Training erst an. Das Tier soll lernen Manipulationen auszuhalten und dabei möglicherweise ausweichendes oder abwehrendes Verhalten zu unterlassen. Unsicherheit und unangenehme Situationen gilt es also durch die Verknüpfung mit positiven Reizen so angenehm, wie möglich zu gestalten. Großtiere sind intelligente und soziale Wesen, mit artspezifischen Verhaltensweisen, die im Training Beachtung finden müssen. Außerdem ist die Arbeit mit Großtieren körperlich anstrengend und aufwendig. Allerdings können Maßnahmen, die dazu dienen, den Tieren Angst zu nehmen, Stress zu reduzieren und ihre Kooperation zu fördern, helfen diese Körperlichkeit zu mindern. Der erste Schritt zum erfolgreichen Training ist die Schaffung einer Vertrauensbasis. Der Mensch, die gewählte Belohnung und die Trainingsumgebung dürfen keine Stressfaktoren mehr darstellen. Die Schaffung dieser Grundlage sollte, wie auch das weitere Training in möglichst kleinen, aufeinander aufbauenden Schritten erfolgen (1). Dieses sequenzielle Vorgehen führt während der weiteren Zusammenarbeit zu einem besseren Verständnis unserer Erwartungen bei den Tieren. Weiterhin essenziell für den Erfolg des Trainings ist ein ruhiges, aber konsequentes Vorgehen und vorausschauendes Handeln. Dabei muss die Balance zwischen dem Eingehen auf die tierindividuelle Tagesform und dem strukturierten Verfolgen der Trainingsziele gefunden werden. Es sollte keine Überforderung oder übermäßige Frustration bei den Tieren entstehen, aber auch nicht erlernt werden, wie Situationen und Aufgaben umgangen werden. Dabei ist es unbedingt notwendig das Auslösen von potenziellem Aggressions- oder Fluchtverhalten zu vermeiden. Denn gerade in der Arbeit mit Großtieren können daraus gefährliche Situationen, sowohl für das Tier als auch den Menschen entstehen, was auf beiden Seiten zu, die weitere Zusammenarbeit, störenden Auswirkungen führen kann. Außerdem entscheidend für den Trainingserfolg sind viele Wiederholungen. Dabei machen wir uns die klassische Konditionierung zunutze. Viele Wiederholungen bedeuten viel positive Bestätigung, zum Beispiel in Form von Futter, im besten Falle sehr gutem Futter. So wird nach und nach eine möglichweise bedrohliche oder zumindest unbequeme Situation in eine Situation verwandelt, die dem Tier ankündigt, dass etwas Erfreuliches passiert. Man ersetzt so die Sorge oder Unsicherheit durch freudige Erwartung. Das passiert allerdings nicht innerhalb von 5 oder 10 Wiederholungen. Es kann sein, dass es deutlich mehr braucht, bis das passende Verhalten erlernt und vor allem die angeborene Skepsis des Tieres in der jeweiligen Situation abgelegt wurde. Dies wiederrum kostet viel Zeit und Geduld von einem möglichst präzisen Trainer. Daher muss in der Planung des Trainings immer der Bezug zum Versuch Beachtung finden, um die Verhältnismäßigkeit in Hinblick auf Dauer und Umfang zu wahren. Denn ein längeres Training bedeutet beispielsweise immer auch ein längeres Verbleiben des Tieres unter versuchsbedingt eingeschränkten Haltungsbedingungen. Um das Training dann so stressfrei wie möglich gestalten zu können, sind fachlich kompetente Trainer mit guten tierartspezifischen und ethologischen Kenntnissen sowie Fähigkeiten in der Konditionierung notwendig. Nur so kann das Training individuell an Tagesform, Gefühlslage und andere beeinflussende Faktoren angepasst werden. 178 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Ein weiterer wichtiger Aspekt des Trainings ist es eine tierartspezifisch und tierindividuell anreizbietende Belohnung zu identifizieren, die das Tier ausreichend motiviert, das gewünschte Verhalten zu zeigen (2). Für das Training selbst stehen verschiedene Vorgehensweisen zur Wahl, die angepasst auf Trainer, Charakter des Tieres und Trainingsziel Anwendung finden. Bei der klassischen Konditionierung wird die Verknüpfung zwischen einem Reiz und einer Reaktion erlernt. Auch das Clickertraining macht sich diese Lerntheorie zunutze und verknüpft ein klick-klack Geräusch mit Futter. Diese konditionierte Erwartungshaltung für eine Belohnung verschafft eine hohe Präzision im Timing. Der Klick selbst stellt noch keine Belohnung dar, sondern lediglich die genaue Kennzeichnung des gewünschten Verhaltens und dann auch die Ankündigung der folgenden Belohnung. Alle Lebewesen lernen durch die klassische Konditionierung etwas über die Zusammenhänge bestimmter Ereignisse in ihrer Umwelt (1). Es geht nicht um ein bestimmtes Verhalten, sondern es ist lediglich eine Reiz- Reaktion Beziehung. Wenn wir ein bestimmtes Verhalten belohnen möchten, befinden wir uns bei der operanten Konditionierung. Durch das Prinzip der operanten Konditionierung wird die Verknüpfung zwischen einer Reaktion und einer Konsequenz erlernt. Es wird die Häufigkeit eines ursprünglich spontanen Verhaltens durch eine positive oder negative Reaktion erhöht oder erniedrigt. Für das Training von Tieren zur Kooperation bei versuchsbedingten Eingriffen oder Behandlungen sind vor allem die positive Verstärkung und die negative Bestrafung von Bedeutung. Bei der positiven Verstärkung ist das Ziel, dass das Tier den Zusammenhang zwischen Verhalten und Belohnung erkennt. Die positive Verstärkung kann auch für die Aneinanderkettung von Einzelverhaltensweisen genutzt werden. Die negative Bestrafung dagegen bedeutet das Ausbleiben einer Belohnung bei nicht erwünschtem Verhalten. Weiterhin kann auch mit negativer Verstärkung gearbeitet werden, wobei man das Ausbleiben oder Entfernen eines für das Tier unangenehmen Reizes bei Zeigen des gewünschten Verhaltens nutzt. Schließlich existiert noch die Möglichkeit der positiven Bestrafung. Dies bedeutet eine tatsächliche Bestrafung durch einen aversiven Reiz, wenn unerwünschtes Verhalten gezeigt wird. Letzteres sollte immer und vor allem in der Arbeit Großtieren mit Bedacht eingesetzt werden. Statt konkretem Training, also dem Erlernen von Abläufen und Zusammenhängen, kann auch durch das reine Locken mit Futter, soweit es das Versuchsdesign erlaubt, gearbeitet werden. Dies ist deutlich zeitsparender, da kaum Wiederholungen benötigt werden. Auch durch reine Gewöhnung kann erreicht werden, dass die Tiere gegenüber Gegenständen und Situationen, mit denen sie wiederholt konfrontiert sind, ihre Angst bzw. Scheu abbauen (3). Davon sind ganz klar jegliche Zwangsmaßnahmen abzugrenzen, die dann eine erlernte Hilflosigkeit zur Folge haben. In Versuchen sind die präzise Durchführung und die Reproduzierbarkeit von Daten essenziell für die Verwertbarkeit der entstandenen Ergebnisse. Dabei sind gestresste Tiere ein schwer zu kalkulierender Faktor, der bestenfalls vermieden wird. Denn zum einen kann Stress einen Einfluss auf die generierten Daten haben und zum anderen ist mit einem gestressten, möglicherweise wehrhaften Tier der problemlose Ablauf des Versuchs eventuell nicht im geplanten zeitlichen Rahmen möglich (4). Neben den bereits aufgeführten Vorteilen für Tier und Mensch, stellt das Medical Training ein angewandtes Refinement im Sinne der 3R dar, um so Schmerzen, Leiden und Schäden von Versuchstieren, auf das unerlässliche Maß zu reduzieren (5). Weiterhin dient Medical Training auch als kognitives Enrichment für die Tiere und erhöht deren Aktivitätslevel. Gleichzeitig verbessert es die Mensch-Tier-Beziehung und erleichtert die Arbeitsbedingungen für den Menschen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Medical Training ein bedeutender Faktor bei der Arbeit mit Großtieren in Versuchen darstellt. Literatur 1. Pryor, K., & Ramirez, K. (2014). Modern animal training. The Wiley Blackwell handbook of operant and classical conditioning, 453-482. 2. McGreevy, P., & Boakes, R. (2011). Carrots and sticks: principles of animal training. Darlington Press. 3. Wechsler B, Lea SEG. Adaption by learning: Its significance for farm animal husbandry. Appl Anim Behav Sci. 2007; 108:197-214 4. Brzozowski, B., Mazur-Bialy, A., Pajdo, R., Kwiecien, S., Bilski, J., Zwolinska-Wcislo, M., ... & Brzozowski, T. (2016). Mechanisms by which stress affects the experimental and clinical inflammatory bowel disease (IBD): role of brain-gut axis. Current neuropharmacology, 14(8), 892-900. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 179

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Die nichttechnische Projektzusammenfassung - eine wichtige Informationsquelle zu Tierversuchen Philipp Schwedhelm Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) - Deutsches Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R), Berlin Die nichttechnische Projektzusammenfassung Wer in Deutschland einen Tierversuch durchführen möchte, benötigt dafür eine Genehmigung der zuständigen Behörde (§§ 8 und 8a TierSchG). Erfolgt die Genehmigung im regulären Verfahren (§ 8 TierSchG), muss dem Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchsvorhabens auch eine allgemeinverständliche Zusammenfassung beigefügt werden. Diese nichttechnische Projektzusammenfassung (NTP) dient in erster Linie der Unterrichtung und Information der Öffentlichkeit (siehe auch Artikel 43 Abs. 3 der Richtlinie 2010/63/EU). Die NTP enthält unter anderem Informationen zu den Versuchszwecken, den bei den Tieren erwarteten Schäden oder Belastungen, der Art und Anzahl der beantragten Tiere sowie der Berücksichtigung des 3R-Prinzips (1) bei der Versuchsplanung und –durchführung, darf darüber hinaus jedoch keine einrichtungs- oder personenbezogenen Daten enthalten (§ 41 Abs. 1 Satz 3 TierSchVersV). NTP werden bei der Beantragung von Tierversuchen von den Antragstellenden geschrieben und im Rahmen der Genehmigung behördlich freigegeben. Dabei übermittelt die zuständige Behörde die NTP an das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das den gesetzlichen Auftrag hat, die NTP im Internet zu veröffentlichen (§ 41 Abs. 2 TierSchVersV). Seit dem Jahr 2015 erfolgt dies in der durchsuchbaren und frei zugänglichen Online-Datenbank www.animaltestinfo.de (2). Aktuell ist damit zu jedem in Deutschland nach vollumfänglichen Verfahren genehmigten Tierversuch eine NTP in AnimalTestInfo veröffentlicht. Auch bereits beendete Versuchsvorhaben können auf AnimalTestInfo recherchiert werden. NTP zu Tierversuchsanträgen, die ab dem 1. Januar 2021 genehmigt wurden, übermittelt das BfR zudem an die von der EU-Kommission eingerichtete Datenbank ALURES (3) (Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2010/63/EU i. V. m. § 41 Abs. 3 TierSchVersV), in der NTP aller EU-Mitgliedsstaaten gemeinsam in der jeweiligen Landessprache veröffentlicht werden. Auswertung der nichttechnischen Projektzusammenfassungen NTP sind leicht verständliche Zusammenfassungen zu genehmigten Tierversuchsvorhaben, dennoch enthalten sie viele Informationen, die wissenschaftlich ausgewertet werden können. Beispielsweise kategorisiert das BfR den in den NTP genannten Nutzen der jeweiligen Vorhaben mit ICD-Codes um eine erhöhte Transparenz über die Forschungsfelder der Tierversuche zu erzielen. Der ICD-Code ist ein Klassifikationssystem von Krankheitsdiagnosen verwendet wird. Durch die Indexierung der NTP mit ICD-Codes konnten im Rahmen eines Pilotprojekts erstmalig die Forschungsgebiete ermittelt werden, in denen über Jahre hinweg viele Tierversuche genehmigt werden (4). Sofern bekannt ist, für welche Zwecke besonders viele Tierversuche durchgeführt werden, können beispielsweise zielgerichtet neue Ersatzmethoden zum Tierversuch entwickelt werden. der Weltgesundheitsorganisation, welches zur Verschlüsselung Die kontinuierliche Auswertung der in den NTP angegebenen Zwecken wurde dabei zuletzt im Jahr 2021 erweitert – seitdem können die Antragstellenden ihren Vorhaben selbst ICD-Codes zuweisen, den eigenen Projekten also primär im Fokus der Forschung stehende, menschliche Erkrankungen zuweisen. Diesen Daten lässt sich beispielsweise entnehmen, dass in Deutschland vergleichsweise viele Tiere für die Erforschung des Nervensystems eingesetzt werden sollen, aber auch im Bereich der Tumorforschung, der Herz- Kreislaufforschung sowie zur Erforschung von Verdauungssystem und Stoffwechselerkrankungen sind konstant viele Tierversuche geplant. Auch zur Analyse besonderer Forschungsereignisse können NTP herangezogen werden. So war es beispielsweise möglich, mittels einer Schlagwortsuche und Auswertung der NTP darzustellen, wie viele Tiere für die Entwicklung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 in Deutschland im Rahmen von Tierversuchen genehmigt wurden und wie die Forschung in den ersten Monaten der COVID-19 Pandemie in Deutschland 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 181

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ voranschritt (5). Dabei konnte gezeigt werden, dass in Deutschland bereits ab März 2020, vor dem ersten Lockdown, ein Versuchsvorhaben zur Erforschung von SARS-CoV-2 genehmigt wurde. Die Genehmigung neuer Vorhaben erfolgte danach fast linear, unbeeinflusst durch Corona-bedingte Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Bemerkenswert war zudem der geplante Einsatz von Hamstern für Versuchsvorhaben mit Bezug zum Coronavirus. In den ersten sechs Monaten der Pandemie wurden alle neu genehmigten Hamster für die Erforschung von SARS-CoV-2 vorgesehen. (5) Auch abseits der Analyse besonderer Forschungsereignisse können NTP herangezogen werden, um darzustellen, wie viele Tierversuche in Deutschland jährlich genehmigt werden, wie viele und welche Tiere dabei eingesetzt werden sollen und wie sich diese Zahlen seit dem Jahr 2015 verändert haben. So ist insbesondere bei der Anzahl der neu beantragten Versuchstiere seit dem Jahr 2018 ein fallender Trend zu verzeichnen. Dieser Trend findet sich auch, mit entsprechend zeitlichem Versatz, in der jährlichen Meldung der tatsächlich verwendeten Versuchstiere. (6) Prospektive und Retrospektive Angaben Bei der Auswertung und Interpretation der in den NTP enthalten Informationen ist es wichtig zu beachten, dass es sich hierbei um Angaben zu geplanten Tierversuchen handelt. Die in den NTP angegebenen prospektiven Tierzahlen können demnach als eine Obergrenze für den tatsächlichen Einsatz von Tieren in Versuchen verstanden werden. Zudem können sich Versuchsvorhaben über bis zu fünf Jahre erstrecken, so dass die tatsächliche Verwendung genehmigter Tiere mit entsprechendem zeitlichen Versatz und Verteilung über mehrere Jahre erfolgen kann. Retrospektiv wird die Anzahl der tatsächlich in Tierversuchen eingesetzten Tieren jährlich im Rahmen der Versuchstiermeldung ebenfalls vom BfR veröffentlicht (6) (§ 2 VersTierMeldV). Dabei sind bei der jährlichen Tierzahlmeldung alle Tierversuche erfasst, also beispielsweise auch gesetzlich vorgeschriebene Versuche, für die keine NTP veröffentlicht werden. Dennoch zeigt sich durch den Vergleich der Anzahl der tatsächlich in Tierversuchen eingesetzten Tieren mit den jährlich neu genehmigten Tieren, dass regelmäßig weniger als die Hälfte der vorab genehmigten Versuchstiere auch tatsächlich im Tierversuch eingesetzt werden. Die Gründe für diese Abweichung sind nicht bekannt. Eine mögliche Erklärung ist jedoch, dass in Deutschland bei der genehmigungspflichtigen Zucht von genetisch veränderten Tieren alle Nachkommen, einschließlich der genetisch normalen Tiere, behördlich genehmigt und in der NTP angegeben werden. Allerdings werden viele dieser Nachkommen nicht als im Tierversuch eingesetzt gemeldet, sondern der Gruppe der sogenannten „überzähligen“ Versuchstiere (7-9) zugeordnet. Die wissenschaftlichen und statistischen Analysen zeigen, dass die in den NTP enthaltenen Angaben nicht nur zur Unterrichtung der Öffentlichkeit zu Tierversuchen dienen, sondern auch eine wichtige Informationsquelle für die wissenschaftliche Gemeinschaft darstellen. Literatur 1. Russel W, Burch R. The principles of Humane Experimental Technique; as reprinted 1992. Universities Federation for Animal Welfare: Wheathampstead, UK, 1959. 2. Schönfelder G, Grune B, Oelgeschläger M, Hensel A. Laboratory animals: German initiative opens up animal data. Nature 2015;519(33). https://webgate.ec.europa.eu/envdataportal/web/resources/alures/submission/nts/list 3. 4. Bert B, Dörendahl A, Leich N, et al. Rethinking 3R strategies: Digging deeper into AnimalTestInfo promotes transparency in in vivo biomedical research. PLoS Biology 2017;15(12):e2003217. 5. Schwedhelm P, Kusnick J, Heinl C, et al. How many animals are used for SARS‐CoV‐2 research? An overview on animal experimentation in pre‐clinical and basic research. EMBO Reports 2021;22(10):e53751. https://www.bf3r.de/de/erfassung_von_versuchstierzahlen_in_deutschland-310435.html 6. 7. Wewetzer H, Wagenknecht T, Bert B, Schönfelder G. The fate of surplus laboratory animals: Minimizing the production of surplus animals has greatest potential to reduce the number of laboratory animals. EMBO Reports 2023;24(3):e56551. 8. Wagenknecht T, Eusemann B, Schwedhelm P, et al. Die Tötung überzähliger Versuchstiere - das Erfordernis des “vernünftigen Grundes” und die Übertragung aktueller Rechtsprechung auf den Versuchstierbereich. Natur und Recht 2023:45:22-30. 9. Wagenknecht T, Eusemann B, Schwedhelm P, et al. Das Vorliegen eines „vernünftigen Grundes“ bei der Tötung überzähliger Versuchstiere. Natur und Recht 2023;45:225-233. 182 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Tierversuchsfrei Lehren – Geht das? Christa Thöne-Reineke Freie Universität Berlin, Fachbereich Veterinärmedizin, Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde Rechtliche Einordnung Das letztendliche Ziel der Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz von Tieren, die für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, ist der vollständige Ersatz von Tierversuchen1. Zur Erreichung dieses Ziels muss das 3 R Prinzip angewendet werden, d.h. wo immer möglich sollen Tierversuche durch Alternativmethoden ersetzet werden, die Anzahl der Tiere auf das unerlässliche Maß reduziert werden und die Versuche so schonend wie möglich durchgeführt werden (EU 2010/631). Dieses Ziel wurde mit der Novellierung des Tierschutzgesetze in 2013 und 2021 in nationales Recht umgesetzt (TierSchG2, TierSchVersV3). Was bedeutet das für die Lehre allgemein? Als Tierversuche gelten auch Eingriffe die nicht Versuchszwecken dienen und die zu Aus-, Fort- oder Weiterbildungszwecken vorgenommen werden. Tierversuche zur Aus-, Fort- oder Weiterbildung dürfen nur durchgeführt werden an einer Hochschule, einer anderen wissenschaftlichen Einrichtung oder einem Krankenhaus oder im Rahmen einer Aus-, Fort- oder Weiterbildung für Heil- oder Heilhilfsberufe oder naturwissenschaftliche Hilfsberufe (§7 TierSchG²). Daraus folgt, dass die Ausbildung und Prüfung am Tier für diese Berufsgruppen einen Tierversuch darstellen, wenn diese mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die Tiere verbunden sein können und die Eingriffe ausschließlich zu Ausbildungszwecken durchgeführt werden. Es ist notwendig vorher bei der zuständigen Behörde einen Genehmigungsantrag für diese Lehrvorhaben zu beantragen, in dem dargelegt werden muss, dass die Durchführung aus pädagogischer Sicht gerechtfertigt ist und keine Alternativmethode zur Verfügung steht (§8TierSchG²). Im Gegensatz dazu sehen die unterschiedlichen Ausbildungsordnungen wie z.B. die Tierärztliche Approbationsverordnung4 eine Ausbildung und Prüfung am Tier vor, um dem Tier- und Arbeitsschutz Rechnung zu tragen. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich hierbei um eine Genehmigung nach vereinfachten Verfahren handelt (§8a TierSchG²). Gleiches gilt für die notwendige versuchstierkundliche Ausbildung, die laut EU Ausbildungsrahmen5 modular für die unterschiedlichen Funktionen vorgeschrieben ist und eine Voraussetzung für das Mitarbeiten in Tierversuchen darstellt. Die praktische Ausbildung am Tier ist darüber hinaus selbst ein Refinement und Reduction und führt zu valideren Versuchsergebnissen, da sich die Streuung in den Versuchsergebnissen verringert, wenn Lernkurven nicht in die Versuchsergebnisse eingehen. In den Bereichen, wo spezielle Eingriffe für wissenschaftliche Fragestellungen erlernt werden müssen wie z.B. Operationstechniken handelt es sich um Genehmigungen nach §7 TierSchG², diese können in den Tierversuchsantrag für die wissenschaftliche Fragestellung integriert werden. In jedem Fall muss in diesen Versuchsvorhaben zur Ausbildung der Einsatz von Alternativmethoden in der Lehre dargelegt werden wie Videos, E-Learning Tools, Computersimulationen, virtuelle Realitäten und Modelle. Die Integration dieser Alternativmethoden stellt selbst ein Refinement und Reduction in Bezug auf die jeweiligen Lehrprogramme dar und dient der Vorbereitung auf die Ausbildung am Tier (Humpenöder et al. 20216,7). Mit Modellen können bisher jedoch keine Verhaltensweisen oder Abwehrreaktionen der jeweiligen Tierspezies simuliert werden, die für den sicheren Umgang mit Tieren unter Anleitung erlernt werden müssen. Weiterhin ist die Haptik und Anatomie von Modellen häufig nicht realitätsnah (Corte et al. 20218). Was bedeutet das für die Ausbildung von Agrarwissenschaftlern und Tierärzten? Hierzu hat die Bundestierärztekammer am 05.01.2022 eine Stellungnahme verfasst, die auf die Notwendigkeiten der Ausbildung am Tier hinweist: Werden Studierende (nach sorgfältigen Übungen an Modellen oder auch toten Tieren) für Eingriffe und Behandlungen an lebenden Tieren ausgebildet, so werden aus Patiententieren (so die Besitzer zustimmen, was keineswegs selbstverständlich ist) temporär Versuchstiere. Tatsächlich kommt also das Ansinnen, Studierende 184 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ der Veterinärmedizin ohne Tierversuche ausbilden zu wollen, einem tierfreien Studium gleich. Dasselbe gilt für die Fort- und Weiterbildung von Tierärzten, Agrarwissenschaftlern und weiteren Berufsgruppen, welche Techniken und Verfahren erlernen müssen, die mit Eingriffen oder Behandlungen an Tieren einhergehen (Mamerow9, Stellungnahme BTK10). Dass Studierende der Tiermedizin in einer qualitativ hochwertigen Ausbildung ausreichend Praxiskontakt haben sollten, um für ihre späteren Tätigkeit am Patienten bestmöglich vorbereitet zu sein, steht im Einklang mit dem Selbstverständnis der tierärztlichen Ausbildungsstätten und der Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen und Tierärzten (TAppV4). Um Krankheiten sicher diagnostizieren und behandeln zu können, bedarf es zunächst des Verständnisses physiologischer Lebensvorgänge. In eine fachlich fundierte Ausbildung gehören folglich sowohl gesunde Tiere wie auch Patiententiere (Stellungnahme BTK10). Eine tierärztliche Ausbildung allein auf der Basis von Patententieren durchzuführen, ist unrealistisch. Unstrittig ist, dass Patiententiere in die Ausbildung einbezogen werden sollen, wann immer es möglich ist (Stellungnahme BTK10). Zudem widerspricht es dem Tierschutzgedanken, wenn erkrankte Tiere zusätzlichen Stress bzw. zusätzlichen Ängsten, Schmerzen und Leiden ausgesetzt werden, wenn ungeübte Personen im Rahmen ihrer Ausbildung erlernen sollen, wie Eingriffe an dieser Tierart vorzunehmen sind oder Behandlungen durchgeführt werden sollen. Im schlimmsten Fall kann durch diese zusätzlichen Belastungen der Heilungsprozess nachhaltig gestört werden (Stellungnahme BTK10). Neben dem Tierschutz sind auch Aspekte des Arbeitsschutzes relevant, insbesondere im Umgang mit Großtieren. Die Unfallgefahr für Mensch und Tier ist deutlich erhöht, wenn ungeübte, unsichere oder nervöse Menschen auf verängstigte, gestresste Tiere treffen. Studierende der Veterinärmedizin sollten im Erstkontakt mit einer Tierart auf gelassene Tiere treffen, um zunächst Hemmschwellen abbauen zu können und Sicherheit im Umgang mit der betreffenden Tierart zu erlangen (Stellungnahme BTK10). Ein sicherer und schonender Umgang mit erkrankten Tieren erfordert, dass die Grundlagen eines tierartgerechten Handlings beherrscht werden. Zudem sind Kenntnisse über physiologische Körperfunktionen notwendig, bevor krankhafte Veränderungen sicher eingeordnet werden können. Für das Erlernen dieser Basiskompetenzen eignen sich nur gesunde Tiere, die zudem in ihrer gewohnten Umgebung sind und den Umgang mit Menschen kennen (Stellungnahme BTK10). An kranken Tieren, die in der für sie ungewohnten Umgebung eines Behandlungszimmers oder einer Tierklinik verängstigt und zusätzlich gestresst sind, lassen sich weder physiologische Befunde noch der sichere Umgang mit der entsprechenden Tierart erlernen (Stellungnahme BTK10). Fazit Daraus lässt sich schlussfolgern, dass solange Tiere genutzt werden nach jetziger Gesetzeslage auf Tierversuche zu Ausbildungszwecken nicht komplett verzichtet werden kann, denn die Ausbildung am Tier ist aktiver Tierschutz (Mamerow9, Stellungnahme BTK10). Literatur 1. EU Richtlinie 2010/63 2. "Tierschutzgesetz in der Fassung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313) dass zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 18. Juni 2021 (BGBl. I S. 1821) geändert worden ist". "Tierschutz-Versuchstierverordnung vom 1. August 2013 (BGBl. I S. 3125, 3126), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 11. August 2021 (BGBl. I S. 3570) geändert worden ist" "Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen und Tierärzten vom 27. Juli 2006 (BGBl. I S. 1827), die zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) geändert worden ist" 3. 4. 5. Humaner Umgang mit Tieren für eine bessere Wissenschaft, Zuständige nationale Behörden für die Umsetzung der Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, Arbeitsdokument zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Ausbildungs- und Schulungsrahmens zur Erfüllung der Anforderungen der Richtlinie, Brüssel, 19.-20. Februar 2014 6. Humpenöder M, Corte GM, Pfützner M, Wiegard M, Merle R, Hohlbaum K, Erickson NA, Plendl J, Thöne-Reineke C. Alternatives in Education—Evaluation of Rat Simulators in Laboratory Animal Training Courses from Participants’ Perspective. Animals 2021, 11, 3462. https://doi.org/10.3390/ani11123462 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 185

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ 7. Humpenöder, M.; Corte,G.M.; Pfützner, M.; Wiegard, M.;Merle, R.; Hohlbaum, K.; Erickson,N.A.; Plendl, J.; Thöne- Reineke, C. Alternatives in Education—Rat andMouse Simulators Evaluated from Course Trainers’ and Supervisors’Perspective. 2021, Animals,11, 1848.https://doi.org/10.3390/ani11071848 8. Corte, G.M.; Humpenöder, M.; Pfützner, M.; Merle, R.; Wiegard, M.; Hohlbaum, K.; Richardson, K.; Thöne-Reineke, C.; Plendl, J. Anatomical Evaluation of Rat and Mouse Simulators for Laboratory Animal Science Courses. Animals 2021, 11, 3432. https://doi.org/ 10.3390/ani11123432 9. Mamerow S, Reinhold P, Klüß J, Petow S,Kaepke M, Wiegard M, Thöne-Reineke C. Tierartspezifische Sachkunde für den Umgang mit landwirtschaftlichen Nutztieren im Tierversuch. 2022, 29, 4, 180-183. Amtstierärztlicher Dienst und Lebensmittelkontrolle. 10. Stellungnahme der Bundestierärztekammer zum Thema ,,Lehre ohne Tierversuche“ vom 05.01.2022 Kontakt Prof. Dr. Christa Thöne-Reineke; Fachbereich Veterinärmedizin, FU Berlin, Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde thoene-reineke.christa@fu-berlin.de 186 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Nadel im Heuhaufen - auf der Suche nach Alternativmethoden Bettina Bert, Mariana Neves, Daniel Butzke Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Deutsches Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R), Berlin Strenge Regelungen für Tierversuche Tierversuche unterliegen in Deutschland strengen rechtlichen Regelungen. Maßgeblich für die Durchführung von Tierversuchen sind das Tierschutzgesetz (TierSchG)(1) und die Tierschutz- Versuchstierverordnung (TierSchVersV)(2). Versuche an Tieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn sie für den zu erreichenden Zweck unerlässlich und die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden für die Erreichung des Versuchszwecks ethisch vertretbar sind. Bevor ein Tierversuch im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes durchgeführt werden darf, muss er von der zuständigen Behörde genehmigt werden. Dazu reichen die verantwortlichen Forschenden einen Genehmigungsantrag ein, in dem die Erfüllung der gesetzlichen und wissenschaftlichen Anforderungen ausführlich beschrieben ist. Ein wesentlicher Teil des Antrages ist, dass die Antragstellenden nachweisen müssen, dass der geplante Tierversuch nicht durch eine Alternativmethode ersetzt werden kann. Eine solche Alternative wäre z. B. eine Methode oder ein Verfahren, mit dem eine spezifische wissenschaftliche Fragestellung ohne den Einsatz lebender (Wirbel-)Tiere beantwortet werden kann, z. B. mit ex vivo Versuchen mit Organen oder Geweben, mit Hilfe von Zellkulturen, Organoiden, Computersimulationen oder niederentwickelten Tieren wie Drosophila-Fliegen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen daher in einer sorgfältigen Literaturrecherche prüfen, ob nicht bereits eine solche Alternativmethode für ihre wissenschaftliche Fragestellung existiert. Die Recherche nach möglichen Alternativmethoden ist allerdings meist sehr komplex und stellt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor eine große Herausforderung. Optimierung der Recherche in PubMed PubMed (3) ist eine freizugängliche Datenbank, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Suche nach Literatur der Biomedizin und Lebenswissenschaften unterstützt. Sie wird vom National Center for Biotechnology Information (NCBI) an der Nationalen Bibliothek für Medizin der USA (NLM) der National Institutes of Health (NIH) betrieben. Derzeit enthält sie mehr als 36 Millionen Abstracts meist mit Links zu den Volltexten bei den jeweiligen Fachzeitschriften oder mit einem Verweis auf PubMed Central (PMC). ScienceDirekt (4) von Elsevier und Web of Science von Clarivate (5) sind zwei weitere wichtige Datenbanken für biomedizinische Literatur, sind aber im Gegensatz zu PubMed kostenpflichtig. Aufgrund des freien Zugangs hat sich daher PubMed zur allgemeinen Literaturrecherche in der biomedizinischen Forschungslandschaft durchgesetzt. Weitere freiverfügbare Datenbanken bzw. Suchmaschinen sind EuropePMC von EMPL-EBI (6), welche im Gegensatz zu PubMed auch Preprints enthält, und Google Scholar (7). MEDLINE ist ein wichtiger Teil von PubMed und enthält kurierte und mit MeSH (Medical Subject Headings)- Terms indexierte Abstrakts. Für die spezifische Suche nach Alternativmethoden bietet PubMed die MeSH- Terms „animal testing alternatives“ und „animal use alternatives“ an. Allerdings liefert eine Recherche mit diesen MeSH-Terms nicht immer zufriedenstellende Ergebnisse (8). Relevante Methoden können daher bei einer Suche basierend nur auf diesen beiden MeSH-Terms verloren gehen. Für eine Recherche nach Alternativmethoden in PubMed empfiehlt sich daher, den PubMed Advanced Search Builder (9) für eine komplexe Suchstrategie zu verwenden. Diese Art der Recherche erfordert einige Übung, das Tutorial von PubMed liefert eine aber gute Erklärung, wie der PubMed Advanced Search Builder einzusetzen ist (10). Darüber hinaus bietet auch der Search Guide des Europäischen Referenzlabors für Alternativen zum Tierversuch (kurz: EURL-ECVAM) eine wertvolle Hilfestellung bei der Suche nach Alternativmethoden (11), auch wenn er inzwischen schon mehr als 10 Jahre alt ist. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 187

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Datenbanken und Tools zur Suche nach Alternativmethoden Inzwischen existieren mehrere Datenbanken, die die Identifizierung von Alternativen zum Tierversuch erleichtern können. Im Bereich der regulatorisch vorgeschriebenen Tierversuche sind dies beispielsweise - neben den bereits validierten Ersatzmethoden (12) – mehrere Datensammlungen, die vom EURL ECVAM bereitgestellt werden. Zum einen die DB-ALM-Datenbank (13), die eine Sammlung von Methoden ist, die zur EURL-ECVAM zwischen 2000-2019 zur Validierung geschickt wurden. Zum anderen die TSAR-Datenbank (14), die Methoden enthält, die in verschiedenen Bereichen als Alternative bereits anerkannt sind bzw. die sich noch in der Phase der Validierung befinden. Das Joint Research Centre (JRC) der Europäischen Kommission stellt darüber hinaus Kataloge zu verschiedenen Krankheitsbildern zur Verfügung, die zahlreiche tierversuchsfreie Methoden auflisten (15). Weitere Datenbanken sind die NAT-Datenbank (16) von „Ärzte gegen Tierversuche“ oder die belgische Datenbank Re-Place (17). Allerdings ist es bei solchen reinen Datenbanken problematisch, dass die Pflege sehr zeitintensiv ist und dass es oft unklar ist, ob und nach welchen Kriterien die Inhalte kuratiert wurden. Die Datenbank AnimAlt-ZEBET des BfR (18), welche wissenschaftlich bewertete Methodenportraits beinhaltete, konnte letztendlich aufgrund des hohen personellen Aufwandes nicht weiter gepflegt werden. Online Tools, wie die ALTBIB-Bibliographie des nationalen Toxikologie-Programms der USA (19), versuchen die Problematik der aufwändigen Datenbankpflege zu umgehen. ALTBIB bietet beispielsweise zusätzliche Recherche-Termini für die Suche nach Alternativmethoden in PubMed an und verknüpft diese auch mit existierenden MeSH-Terms. Einen Schritt weiter geht 3Ranker (20, 21). 3R-Ranker ist ein Projekt des Karolinska Instituts gemeinsam mit Syrcle und TenWise, die einen Such-Algorithmus für in PubMed gelistete 3R-Publikationen, d. h. Publikationen zum Ersatz von Tierversuchen (replace), zur Reduktion von Tierversuchen (reduce) und zur Verbesserung des Wohlbefindens von Versuchstieren (refine), entwickeln wollen. Derzeit werden im Rahmen dieses Projektes für das Training der künstlichen Intelligenz (KI) in MEDLINE publizierte Abstrakts im Hinblick auf ihre 3R-Relevanz kuratiert. Bisher gibt es über 120 kuratierte Abstrakts, die auf der Plattform bereitgestellt werden. Die derzeitige Suche in 3R-Ranker bezieht die letzten 5000 PubMed-Abstrakts mit ein. SMAFIRAVersuchszweck-genaue Recherche nach Alternativmethoden Was die bisherigen Datenbanken und Online Recherche-Tools allerdings außer Acht lassen, ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler meist eine sehr konkrete wissenschaftliche Fragestellung vor Augen haben, wenn sie nach einer Alternativmethoden suchen. Vor diesem Hintergrund hat sich das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) dazu entschieden, ein Recherche-Tool zu entwickeln, welches eine Versuchszweck-genaue Suche nach potentiellen Alternativmethoden in PubMed ermöglicht. Abb. 1: Beispiel für eine Trefferliste für die Suche nach Alternativmethoden in SMAFIRA 188 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Das SMAFIRA (Smart Feature based Interactive Ranking)-Tool basiert auf Methoden der Computerlinguistik wie des information retrievals, der text similarity bzw. der relation extraction und des Machine Learnings. Das Tool setzt auf PubMed auf und soll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anhand eines spezifischen Referenzdokuments die Suche nach möglichen Alternativmethoden erleichtern. Grundlage für die Suche sind die sogenannten similar articles, die PubMed zu dem Referenzdokument herausgibt. Diese similar articles werden mit SMAFIRA nach ihrer Relevanz neu gerankt (7). Die Abstrakts und die darin erwähnten Methoden werden mithilfe der genannten KI-Methoden verschiedenen Kategorien wie in vivo, organs, primary cells, immortal cell lines, invertrebrates, humans und in silico zurgeordnet (22). Dadurch ergibt sich eine Trefferliste mit bis zu 200 Manuskripten, die eine mögliche Alternativmethode zum Referenzdokument darstellen (s. Abb. 1). SMAFIRA entbindet die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht davon, sich mit den einzelnen vorgeschlagenen Alternativmethoden auseinanderzusetzen und zu eruieren, ob ihre wissenschaftliche Fragestellung tatsächlich mit einer tierversuchsfreien Methode beantwortet werden kann. Dennoch kann SMAFIRA eine wertvolle Hilfestellung bei der Suche nach Alternativmethoden in PubMed bieten. SMAFIRA wird zukünftig unter https://smafira.bf3r.de/ bereitgestellt werden. Literatur/Links 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://www.gesetze-im-internet.de/tierschversv/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ (zuletzt abgerufen am: 18.9.2023) https://www.sciencedirect.com/ (zuletzt abgerufen am: 18.9.2023) https://www.webofscience.com/ (zuletzt abgerufen am: 18.9.2023) https://europepmc.org/ (zuletzt abgerufen am: 19.9.2023) https://scholar.google.de/ (zuletzt abgerufen am: 18.9.2023) Butzke D, Dulisch N, Dunst S, Steinfath M, Neves M, Mathiak B, et al. SMAFIRA-c: A benchmark text corpus for evaluation of approaches to relevance ranking and knowledge discovery in the biomedical domain. Research Square; 2020. https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-16454/v1 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/advanced/ https://www.nlm.nih.gov/oet/ed/pubmed/quicktours/advanced/index.html https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/8835aa05-f780-454a-ac43-7752b38b394e https://www.bf3r.de/de/ersatzmethoden-283655.html (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://data.jrc.ec.europa.eu/dataset/b7597ada-148d-4560-9079-ab0a5539cad3 (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://tsar.jrc.ec.europa.eu/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/c8ec5086-f988-11ea-b44f-01aa75ed71a1 (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://nat-datenbank.de/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://www.re-place.be/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://apps.bfr.bund.de/animalt-zebet/index.cfm (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://ntp.niehs.nih.gov/whatwestudy/niceatm/altbib (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) https://www.open3r.org/ (zuletzt abgerufen am: 15.9.2023) Ritskes-Hoitinga M, Alkema W. The Use of Artificial Intelligence for the Fast and Effective Identification of Three Rs- based Literature. Altern Lab Anim. 0(0):02611929211048447. PMID: 34581190. https://doi.org/10.1177/02611929211048447 Neves, M., Klippert, A., Knöspel, F. et al. Automatic classification of experimental models in biomedical literature to support searching for alternative methods to animal experiments. J Biomed Semant 14, 13 (2023). https://doi.org/10.1186/s13326-023-00292-w Kontakt PD Dr. Bettina Bert; Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Berlin bettina.bert@bfr.bund.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 189

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Einblicke in das Berufsbild Tierschutzbeauftragter und benannter Tierarzt Katrin Reppe Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden Alle Einrichtungen, die Wirbeltiere oder Kopffüßer für wissenschaftliche Zwecke züchten, halten oder verwenden sowie zur Abgabe an Dritte halten, müssen nach Vorgabe des Tierschutzgesetzes (1) und der Tierschutz-Versuchstierverordnung (2) über einen Tierschutzbeauftragten verfügen. Auch die Position des benannten Tierarztes ist gemäß der EU-Richtlinie 2010/63/EU (3) für Züchter, Lieferanten und Verwender der genannten Wirbeltiere oder Kopffüßer gesetzlich vorgeschrieben. Dabei sind sowohl der Tierschutzbeauftragte wie auch der bestimmte Tierarzt ein wichtiger Ansprechpartner für die in der Zucht und Haltung tätigen Mitarbeiter wie auch für alle an Tierversuchsvorhaben beteiligten Personen. In dem Vortrag werden Einblicke in die Aufgaben und das praktische Arbeitsfeld des Tierschutzbeauftragten und des benannten Tierarztes vermittelt. Es werden Beispiele präsentiert, wie beide Positionen einen wichtigen Beitrag zum aktiven Tierschutz in Forschungseinrichtungen leisten. Literatur 1. 2. Tierschutzgesetz (TierSchG) vom 18. Mai 2006, zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 20 des Gesetzes vom 20. Dezember 2022. https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/ Tierschutz-Versuchstierverordnung (TierSchVersV) vom 1. August 2013 zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 11. August 2021. https://www.gesetze-im-internet.de/tierschversv/ 3. Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. https://eur-lex.europa.eu/ Kontakt Dr. Katrin Reppe; Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden reppe@mpi-cbg.de 190 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Einblicke in das Berufsbild ForscherIn/Universität Nicole Kemper Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie (ITTN), Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover An naturwissenschaftlich ausgerichteten Universitäten allgemein, nicht nur an den human-/zahn- und veterinärmedizinischen Bildungsstätten, werden in Forschung und Lehre zu verschiedensten Fragestellungen Tierexperimente durchgeführt. Dabei kommen TierärztInnen in ganz unterschiedlichen Rollen zum Einsatz. Als WissenschaftlerInnen, die Versuche planen, leiten und durchführen, im Rahmen der Zucht und Pflege von Versuchstieren und als Tierschutzbeauftragte. Dabei ist eine hohe Expertise gefragt, die über die Planung und Durchführung der rein experimentellen Versuchsansätze hinausgeht. Für jede Tierart müssen unter anderem Kenntnisse anatomischer und physiologischer Besonderheiten sowie zum Verhalten und etwaiger Krankheiten der Tiere vorhanden sein. Darüber hinaus werden Kenntnisse in der Ethik in Bezug auf die Mensch-Tier- Beziehung, den intrinsischen Wert des Lebens und Argumente für und gegen die Verwendung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken gefordert sowie ein profundes Wissen der geltenden Rechtsvorschriften. In einer soliden Ausbildung bzw. versuchstierkundlichen Kursen sind diese Inhalte sowohl praktisch als auch theoretisch zu vermitteln. Dies dient nicht nur der Sicherung einer hohen wissenschaftlichen Qualität der Versuchsergebnisse, sondern vor allem dem Tierschutz. Wie in der Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments zum Schutz von Tieren, die zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden, in der Einleitung erwähnt, sind Tierschutz und Labortierforschung eng miteinander verzahnt: "Die Gemeinschaft erkennt die Bedeutung des Schutzes und des Wohlergehens von Tieren für wissenschaftliche Zwecke auf internationaler Ebene an". Daher muss auch die Labortierforschung weiter vorangetrieben werden. Die aktuellen Forschungsaktivitäten zur Erhöhung des Tierwohls bei Versuchstieren orientieren sich insbesondere am 3R- Konzept von Russel und Burch (1959). Neben dem Ersatz von Tierversuchen durch tierfreie Alternativen und der Reduktion der verwendeten Tierzahlen auf das wissenschaftlich begründete Minimum sind Refinement- Maßnahmen erforderlich, um die Belastung der Tiere soweit wie möglich zu reduzieren. Strukturelles Refinement durch Optimierung der Haltungsbedingungen bietet dabei ebenso Potential für Verbesserungen wie Maßnahmen zum schonenden Umgang mit den Tieren und modifizierte Handlungsabläufe. An den veterinärmedizinischen Bildungsstätten müssen dazu, sofern noch nicht vorhanden, entsprechende Arbeitsgruppen und Infrastrukturen geschaffen werden, die eine solide Weiterbildung Interessierter in diese Richtung ermöglichen. Dabei sollte neben der originären labortierkundlichen Forschung auch die Forschung auf dem Gebiet der Tierethik, des Versuchstierrechts und der Psychologie/Soziologie berücksichtigt werden. Letzteres begründet sich im Erwägungsgrund 31 der Richtlinie 2010/63/EU, in der ZüchterInnen, LieferantInnen und VerwenderInnen von Versuchstieren dazu aufgefordert werden, „ein Klima der Fürsorge“ zu etablieren, mit dem Ziel, das körperliche und emotionale Wohlergehen von Tier und Mensch zu fördern. Zufriedene und gut informierte Mitarbeitende haben ein intrinsisches Interesse an tiergerecht gehaltenen und gesunden Tieren und sind als wichtige Säule der guten wissenschaftlichen Praxis unerlässlich. Entsprechend lässt sich durch eine „Culture of Care“ das Umsetzen von ethischen Richtlinien und die Priorisierung des Tierwohls als höchstes Gut in die tägliche Arbeit implementieren. Literatur 1. 2. Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. Russell W.M.S & Burch R.L. (1959) The Principles of Humane Experimental Technique, Methuen, London. Kontakt Prof. Dr. Nicole Kemper; Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover nicole.kemper@tiho-hannover.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 191

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Berufsbild: Leitung einer Experimentaltierhaltung Caroline Johner Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, Freiburg Einleitung Die Versuchstierkunde vermittelt zwischen Tierschutz und Forschung zum Wohl von Mensch und Tier. Sie vertritt in ethischer Verantwortung die Bedürfnisse der Tiere als Mitgeschöpfe gegenüber den Anforderungen von Forschung und Lehre. Zudem ist sie ein Teilgebiet der Veterinärmedizin, welches sich mit der Diagnose, der Behandlung und der Vorbeugung der Krankheiten von Versuchstieren befasst (1). Das Personal von Versuchstierhaltungen setzt sich aus Personengruppen unterschiedlicher Qualifikationen und Aufgaben zusammen. Dieses Zusammenwirken hat zum Ziel, die Aussagekraft und Verlässlichkeit tierexperimenteller Studien zu steigern und den Tierschutz unter Berücksichtigung der tierartlichen Bedürfnisse stetig zu verbessern. Voraussetzungen Die Vorrausetzungen für den Betrieb einer Versuchstierhaltung sind im §11 des deutschen Tierschutzgesetzes (TierSchG)(2) geregelt: Es bedarf einer Erlaubnis der zuständigen Behörde, wer Wirbeltiere oder Kopffüßer, die dazu bestimmt sind, in Tierversuchen verwendet zu werden, oder deren Organe oder Gewebe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet zu werden, züchten oder halten oder verwenden will (2). Des weiteren definiert §11 Tierschutzversuchstierverordnung (TierSchVersV)(3) die zu erfüllenden personellen Voraussetzungen zur Erteilung einer Erlaubnis nach §11 TierSchG, ohne dabei jedoch einen beruflichen Abschluss näher zu benennen. Nachgewiesen werden müssen die für die Tätigkeit erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf Grund der Ausbildung oder des bisherigen beruflichen oder sonstigen Umgangs mit Tieren. Für Tierärzte und -ärztinnen gibt es mehrere Möglichkeiten zur Erlangung der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten. Zum einen über die Weiterbildung zum Fachtierarzt/-ärztin für Versuchstierkunde oder zum/zur Diplomate des European College for Laboratory Animal Medicine. Desweiteren gibt es für andere Berufsgruppen die Möglichkeit, einen Master in Laboratory Animal Science zu absolvieren oder nach mehrjähriger einschlägiger Berufserfahrung die Anerkennung als Fachwissenschaftler*in Versuchstierkunde der GV-SOLAS zu erlangen. Gegebenenfalls sind die erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auf Verlangen in einem Fachgespräch bei der zuständigen Behörde nachzuweisen. Aufgabengebiete Die Aufgabengebiete der Tierhausleitung und damit in der Regel der verantwortlichen Person nach §11 TierSchG sind breit gefächert ohne immer direkten Bezug zum Studium der Veterinärmedizin zu haben. In der Praxis führt die Tierhausleitung das Personal (Tierärzte, Tierpflegende, technisches Personal, Reinigungskräfte, etc.) und trägt damit gleichzeitig auch die Verantwortung für Arbeitssicherheit und Gesundheit des Personals. Verstärkt gehört hierzu auch die „Culture of Care“ (Kultur der Fürsorge). In diesem Sinne ist es essentiell, in dieser Tätigkeit über die gesetzlich festgelegten Anforderungen hinauszugehen, um Mitgefühl und Respekt sowohl für die in der Forschung verwendeten Tiere als auch für das Personal, das mit ihnen arbeitet, zu gewährleisten (5). Die Tierhausleitung trägt zudem die Verantwortung für die veterinärmedizinische Versorgung, das Hygienemanagement und die Gesundheitsüberwachung des Tierbestandes (4). Einrichtungen die mit eigenen Diagnostiklaboren ausgestattet sind, fallen i.d.R. auch in den Verantwortungsbereich der Tierhausleitung. Das Führen einer tierärztlichen Hausapotheke sowie die Vorbeugung, Erleichterung und Minimierung von Schmerzen, Schäden, Leiden und Ängsten der Tiere gehören ebenfalls zum Aufgabenspektrum. Sofern die Tierhausleitung keine tierärztliche Approbation aufweist, ist es notwendig, eine veterinärmedizinische Betreuung sowie den Betrieb der tierärztlichen Hausapotheke anderweitig zur organisieren bzw. extern betreuen zu lassen (4). Im Rahmen der kontrollierten Gesundheitsüberwachung fallen der Import und Export von Tieren und auch von biologischen Materialien ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Tierhausleitung. 192 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Konzeptionell ist die Tierhausleitung immer auch an der Förderung und der Umsetzung der 3R beteiligt. Sie interagiert mit dem Tierschutzausschuss und den Tierschutzbeauftragten. Sie gewährleistet als verantwortliche Person nach §11 TierSchG die Sachkunde aller mit Versuchstieren beschäftigten Personen. Daher fördert und fordert sie deren regelmäßige Fortbildung. Zudem berät und unterstützt sie Tierexperimentatoren bei der Umsetzung spezieller tierexperimenteller Fragestellungen. Darüber hinaus obliegen der Tierhausleitung die Organisation und technische Ausstattung der Räumlichkeiten, Budget- und Materialwirtschaft sowie Konzeption und Planung von Neu- und Umbaumaßnahmen. Zusammenfassung Das Aufgabengebiet der Tierhausleitung erstreckt sich weit über das im veterinärmedizinischen Studium gelernte Wissen hinaus. Und dennoch liegt der Fokus darauf, hygienisch- und genetisch einwandfreie Tiere unter standardisierten Zucht- und Haltungsbedingungen für die Forschenden zur Verfügung zu stellen, um damit aussagekräftige tierexperimentelle Studien zu ermöglichen, ohne dabei den Tierschutz unter Berücksichtigung der tierartlichen Bedürfnisse aus dem Auge zu verlieren. Nur mit ausgewiesener versuchstierkundlicher Expertise kann dies gelingen. Die Tierhausleitung trägt einen verantwortungsvollen Posten im Spannungsfeld zwischen tierschutzrechtlichen Bestimmungen, Anforderungen der Forschenden und Betrieb einer facettenreichen Organisationseinheit. Literatur 2. 1. Poirier GM, Bergmann C, Denais-Lalieve DG, et al. ESLAV/ECLAM/LAVA/EVERI recommendations for the roles, responsibilities and training of the laboratory animal veterinarian and the designated veterinarian under Directive 2010/63/EU. Laboratory Animals. 2015;49(2):89-99. doi:10.1177/0023677214557717 Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 20 des Gesetzes vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2752) geändert worden ist Tierschutz-Versuchstierverordnung vom 1. August 2013 (BGBl. I S. 3125, 3126), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 11. August 2021 (BGBl. I S. 3570) geändert worden ist 3. 4. Hofmann A, Brielmeier M. Anforderungen an die Leitung einer Versuchstierhaltung. Stellungnahme der GV-SOLAS Stand August 2022 https://frame.org.uk/the-issue/what-is-culture-of-care/ 5. Kontakt Dr. Caroline Johner, Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, Freiburg johner@ie-freiburg.mpg.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 193

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Als Amtstierärztin im Tierversuchsbereich Mona Schütz Regierungspräsidium Gießen Abstract Die behördliche Tätigkeit im Bereich Tierversuche umfasst je nach Bundesland in den einzelnen Behörden unterschiedliche Inhalte. Zentrale Themen sind die Genehmigung von Tierversuchen und Erlaubniserteilung für Versuchstierhaltungen inklusive deren Kontrolle. Diese Aufgaben erfordern zwar eine hohe fachliche Qualifikation, bieten jedoch die Möglichkeit, den Tierschutz bei Tierversuchen tatsächlich zu verbessern. Trotz der unbestreitbaren Belastungen durch die Thematik handelt es sich außerdem um ein spannendes Sachgebiet, das zugleich permanent Einblicke in aktuelle Forschungsentwicklungen gewährt. Amtstierärztliche Tätigkeiten im Tierversuchsbereich jeweiligen Zuständigkeitsverordnungen Der Zuschnitt der Aufgaben ist je nach Bundesland unterschiedlich, die Regelungen im Einzelnen sind in festgelegt. Üblicherweise sind die untere und mittlere den Verwaltungsebene im meist dreistufigen Verwaltungsaufbau für Tierversuchsangelegenheiten zuständig, also Veterinärämter/Kreisordnungsbehörden und Regierungspräsidien/Landesämter. Der Bereich Tierversuche umfasst neben der Bearbeitung von Genehmigungs- und Anzeigeverfahren die Erteilung von Erlaubnissen nach § 11 Tierschutzgesetz (TierSchG) zur Haltung, Züchtung und Verwendung von Versuchstieren sowie die Kontrolle von Tierversuchen und Versuchstierhaltungen. Auch die Dokumentenprüfung, die rückblickende Bewertung von Tierversuchen sowie die Erteilung von tierschutzrechtlichen Einfuhrerlaubnissen sind Teil der Tätigkeit. Am Regierungspräsidium Gießen machen die Antragsverfahren (ca. 120 pro Jahr) einen wesentlichen Teil des Sachgebietes aus. Im Rahmen dieser Verfahren muss geprüft werden, ob die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen für eine Genehmigung vorliegen. Zentral ist hierbei die Unerlässlichkeit und Geeignetheit des Versuches sowie die Berücksichtigung des so genannten 3R Prinzips, also die Durchführung eines Tierversuches, nur wenn es keine geeigneten tierfreien Ersatzmethoden gibt, an so wenigen Tieren wie möglich und so schonend, wie irgend geht (Replace, reduce, refine). Hierbei muss zwingend der Stand der aktuellen Wissenschaft in die Prüfung einbezogen werden. Auch die Verwendung geeigneter Methoden, das Vorhandensein der notwendigen Geräte sowie des ausreichend qualifizierten Personals sind Gegenstand der intensiven Prüfung. Unterstützt wird die Behörde dabei von der Kommission nach § 15 TierSchG („Tierschutzkommission“), in die ehrenamtlich Wissenschaftler und von Tierschutzorganisationen vorgeschlagene Personen (die oft auch Wissenschaftler sind) berufen werden. Diese Kommission begutachtet mit ihrer zusätzlichen Expertise jeden Antrag und gibt ein Votum dazu ab. Auch wenn der Anteil der abgelehnten oder zurückgezogenen Anträge gering ist, stellt das Genehmigungsverfahren die zentrale Möglichkeit dar, Tierversuche so tierschutzgerecht wie möglich zu gestalten. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit, Analgesie- und Anästhesieregimes anzupassen, das Design zu verändern oder Abbruchkriterien neu zu definieren. Letztlich bietet das Verfahren die Gelegenheit, ein Vorhaben unter Tierschutzgesichtspunkten so lange zu „beschleifen“, bis das Optimum für die Tiere erreicht ist. Praktisch kein Antrag wird so genehmigt, wie er ganz ursprünglich gestellt war. Dies ist auch die Intention des EU-Gesetzgebers bei Erlass der Richtlinie 2010/63/EU gewesen, der diesen Prozess als „interactive dialogue“ beschreibt. Hinzu kommt, dass die Behörde im Rahmen des Genehmigungsbescheides Auflagen festlegen kann, die dann den verbindlichen Rahmen für die Durchführung des Versuches darstellen. Komplementär dazu hat die Behörde die Befugnis, die korrekte Durchführung der Versuche vor Ort zu überprüfen. 194 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Hierzu kann sie unangemeldet Zutritt zu entsprechenden Einrichtungen verlangen, Haltungseinrichtungen, Tiere und Versuchsabläufe begutachten, Dokumente einsehen, usw. Sofern Mängel festgestellt werden, verfügt die Behörde über die Instrumente, diese abzustellen über mündliche oder schriftliche Anordnungen. Auch die Ahndung, also die Einleitung von Bußgeld- oder Abgabe von Strafverfahren sind möglich. Neben den Antragsverfahren spielt die Neuzulassung und Überwachung von Versuchstierhaltungen und Verwendereinrichtungen eine wesentliche Rolle. Auch hier muss vorab bzw. dann im Betrieb die Einhaltung der gesetzlichen Standards gewährleistet sein und überprüft werden. Fast alle Verfahren im Tierversuchsbereich sind von gesetzlichen Fristen bestimmt. Dies bedingt häufig ein eng getaktetes Arbeiten abhängig von eingehenden Anträgen und Anfragen. Die Behörden, die in Deutschland für Anträge auf die Durchführung von Tierversuchen zuständig sind, stehen in engem Kontakt. Die regelmäßig zweimal jährlich stattfindenden Treffen bieten eine gute Möglichkeit für fachlichen und verwaltungsrechtlichen Austausch. Anforderungen Für die Tätigkeit sind umfassende Kenntnisse zu den relevanten Versuchstierspezies, v.a. Nager, sowie im tierversuchskundlichen Bereich erforderlich. Neben den Bereichen Anatomie und Physiologie sowie Ethologie umfassen diese u.a. auch pharmakologisches Wissen, Verständnis für die wissenschaftlichen Methoden und Statistik. Hier bieten interessante nationale und internationale Fachtagungen die Gelegenheit, den eigenen Wissenstand ständig zu erweitern und zu aktualisieren. Gleichzeitig ist es für die Tätigkeit der Behörde wichtig, die betreffenden Personenkreise über Fachvorträge und Ausarbeitungen mit relevanten Informationen zu versorgen. Natürlich müssen die tierschutzrechtlichen Rahmenbedingungen sowie die verwaltungsrechtlichen Grundlagen ebenfalls beherrscht werden. Gute Englischkenntnisse sind ebenfalls erforderlich, da sowohl die Recherche zum wissenschaftlichen Hintergrund der Versuche als auch die eigene Fortbildung die Lektüre englischer Originalpublikationen erfordern. Nicht zuletzt sind kommunikative Fähigkeiten von Vorteil, um die behördliche Vorgehensweise argumentativ zu vertreten und auch in schwierigen Situationen Lösungen mit den Wissenschaftlern zu erarbeiten. Fazit Die Bearbeitung des Tierversuchsbereiches ist anspruchsvoll, zeitaufwendig und manchmal belastend. Gleichzeitig steht diese Tätigkeit an zentraler Stelle für den Versuchstierschutz. Die zuständige Behörde ist die Instanz, die letztlich überprüft und ggf. sicherstellt, dass der rechtliche Rahmen im Tierversuchsbereich eingehalten wird. Kontakt Dr. Mona Schütz; Regierungspräsidium Gießen 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 195

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Versuchstierkunde ___________________________________________________________________________________________________________ Berufsbilder Versuchstierkunde: Industrie Tanja Schmidt Nuvisan ICB GmbH, Berlin Zusammenfassung Die möglichen Arbeitsfelder für Tierärzt*innen sind vielfältig. Ein attraktiver Arbeitsbereich ist die Industrie. Im Jahr 2021 arbeiteten 5 % der Tierärzte*innen (1687) in der Privatwirtschaft bzw. Industrie, der Großteil davon in der pharmazeutischen Industrie (1417)(1). In diesem Arbeitsfeld können Tierärzte nicht nur ihr umfangreiches tiermedizinisches Wissen anwenden. Durch gezielte und professionelle Förderung, die Erstellung individueller Entwicklungspläne und das Vorhandensein etablierter Programme zur Karriereentwicklung, eröffnen sich ständig neue Wege und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Dies bezieht sich nicht nur auf fachliche, tiermedizinische Fähigkeiten, sondern umfasst die verschiedensten Bereiche wie das Projektmanagement, Personalführung sowie kommunikative und persönliche Kompetenzen. Bei der Einstellung von Tierärzten in der pharmazeutischen Industrie sind versuchstierkundliche Skills oder ein Fachtierarzt für Versuchstierkunde häufig Teil des Anforderungsprofils. Tierversuche sind ein unerlässlicher Bestandteil im Rahmen der Arzneimittelforschung und -entwicklung. Sie sind notwendig, um potentielle neue Arzneimittel zu charakterisieren, weiterzuentwickeln und liefern unerlässliche Daten zur Sicherheits- und Wirksamkeitsabschätzung vor Erstanwendung eines neuen Arzneimittels am Menschen. Tierärzte und speziell Fachtierärzte für Versuchstierkunde stellen dabei nicht nur die tierschutz- und gesetzeskonforme Durchführung der Versuche sicher, sie sind auch die Experten zur fortlaufenden Verbesserung und Verfeinerung der eingesetzten Methoden zur Erhöhung des Tierwohls in den Versuchen. Die kontinuierliche Prüfung möglicher Ersatzmethoden und die Schulung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden sind ebenfalls wichtige Bestandteil ihrer täglichen Arbeit. Als Laborleiterin bearbeite ich ein vielfältiges Arbeitsgebiet. Neben der Erstellung von Anträgen und der Kommunikation mit den zuständigen Behörden, arbeite ich mit meinem multidisziplinären Team aus technischen Mitarbeitenden, Chemikern, Biologen, Pharmazeuten und anderen Naturwissenschaftlern ständig an der Verbesserung unserer Methoden und bearbeite wissenschaftliche Fragestellungen. Zusammengefasst ist die Tätigkeit in der pharmazeutischen Industrie sehr vielfältig, abwechslungsreich. Besonders die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Fachexperten, der Austausch auf Augenhöhe sowie die sehr guten Karriere- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind hervorzuheben. Literatur 1. Statistik 2021, Tierärzteschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Deutsches Tierärzteblatt 6/2022, S. 762-772 Kontakt Dr. Tanja Schmidt; Nuvisan ICB GmbH, Berlin tanja.schmidt@nuvisan.com 196 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ The Journey of a Veterinary Teacher: You can make a difference and it can be a lot of fun! Sarah Baillie University of Bristol As a veterinary teacher and educator there is an exciting journey to travel. Along the road, there are many opportunities to develop ideas and innovations and to undertake educational research. Educators will develop a ‘portfolio of evidence’ of the impact of their initiatives, publish in journals, produce shareable resources, and make a difference to student learning. Over time, educators will engage in projects designed to solve important, timely educational problems and develop innovative solutions; aspire to leadership roles in curriculum review, administration, and quality assurance; and contribute to the evidence-base, the growing field of veterinary educational research. And the journey has already started, whether the educator (new or established) has a current focus in clinical work or on a more academic teacher and researcher track, as there are many transferable skills. An example that illustrates how a project can be designed to solve a specific educational problem relates to learning and teaching bovine rectal palpation. The skill can be considered as a black box; the student cannot see the veterinarian’s palpation technique inside the cow so cannot copy, then when the student has a go, it is not possible for the veterinarian to provide guidance or feedback. Another challenge is the expert’s (teacher’s) tacit knowledge; the expert can easily, almost automatically, find structures e.g., the uterus, but has difficulty articulating all the steps that students need to be aware of to guide their learning. There are other challenges that are common to other clinical skills such as increasing student numbers, more limited opportunities to practise, and ethical and animal welfare concerns. To help solve the bovine problem, a virtual reality simulator was designed with computer-generated palpable models of the cow’s reproductive tract, pelvis and caudal abdomen. Research helped determine all the steps of the expert’s technique, which informed the simulator design and development of a teaching protocol. The model was validated as being effective in teaching students the relevant skills. Further research with the simulator provided insights into the differences in the performance of novice learners and expert veterinarians, which has informed and improved associated teaching practices. There are also opportunities during an educator’s journey to move into leadership and administrative roles. For example, participating in a curriculum review, managing quality assurance processes, and contributing to educational policy. Fortunately for veterinary educators moving into such roles, there is a wealth of experience and a substantial evidence base in medical education. There are also relevant educational theories e.g., Bloom, Miller, Bruner, Vygotsky, etc. Leading any educational initiative will inevitably involve bringing together the evidence base and the underpinning educational theory to guide the required changes and inform the associated decision making. If leading a curriculum re-design, some of the steps will include identifying the issues with the current curriculum e.g., overload of information, a teacher-led style rather than student-centred active learning approaches. Historically, there has been limited coverage of some crucial topics that underpin the development of the Day One Competences e.g., hands-on practice of clinical skills prior to final year, clinical reasoning, and professional skills e.g., communication, teamwork, lifelong learning, financial literacy, etc. Modern curricula are typically outcomes-based, with the design focused on producing graduates who are ready for work in practice. Many curricula are ‘spiral’, when students build upon previously learned topics and concepts sequentially and with increasing complexity. For a veterinary curriculum, the first turn of the spiral could be normal structure and function, the next turn might cover the mechanisms and causes of disease and the body's response, and the final turn brings everything together as students learn to manage clinical cases. Veterinary and medical curricula are now typically systems-based e.g., learning structure and function together in a cardiovascular system course (as the patient would present in clinical practice) rather than having anatomy and physiology taught as separate disciplines. 198 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Another change in educational practices has seen more emphasis on how to support and promote learning, rather than focusing on delivering teaching (‘transmitting’ knowledge). An example that supports active, student- centred learning is case-based learning. The case is used to demonstrate the relevance of basic science to clinical practice, integrate disciplines, and support the development of clinical reasoning skills. Students learn to develop a logical approach to a case as they work through every step from the presenting complaint, history taking and physical examination, forming a problem list and identifying differential diagnoses, deciding upon appropriate diagnostic test to developing a treatment and/or management plan. Another example is flipped classroom, a type of e-learning where the students are assigned pre-work in advance of an in-class session. The educator can then focus on problem solving activities and discussion of cases or allow more time for skill development during practicals. Other considerations when implementing curricular change include ensuring assessment practices align with, and utilise, modern evidence-based methods and are accompanied by the associated quality assurance processes. As a leader of change, the educator will also have responsibility for building a curriculum team and developing training courses for colleagues focused on learning modern pedagogical practices. The transition to a modern curriculum can be an enjoyable journey and ultimately a success for all stakeholders – students, academics, the university, employers and the wider profession. In summary, gone are the days when ‘curriculum was pulled like a rabbit from a hat, and a lecturer taught whatever attracted his or her attention’; instead, there is an evidence base to draw upon and a growing community of veterinary educators with relevant expertise. Another important area that will be integral to an educator’s journey is engagement with educational research. Fundamental to the success, growth, and quality of veterinary education is the evidence base (educational research) on which it is founded. Research generates new knowledge, validates initiatives, guides innovation and informs teaching practices. Veterinary educational research is a relatively new, but rapidly growing disciple. A recent international project sought to gain a greater understanding of veterinary educational research and the community's needs. It led to the development of an open-access handbook specifically designed for veterinary educators that includes tips on study design and references to key literature. The project also identified the importance of collaborative networks and mentors in supporting new educational researchers. One area that illustrates the growth in veterinary education’s evidence base is clinical skills. Studies range from validating models to identifying the most important competences required by new graduates. The number of publications is increasing rapidly. Another example of an educational innovation is the introduction of clinical skills labs at many veterinary schools. A survey in 2015 found less that twenty veterinary clinical skills labs around the world and all were in North America and Europe. When the survey was repeated in 2021, nearly a hundred veterinary schools reported having a clinical skills lab and represented thirty-four countries and every continent. A final example is an online veterinary educator group that is based on the principles of a community of practice (CoP). In the CoP, like-minded veterinary educators have come together to share expertise, learn from each other, and build new knowledge. During an educator’s journey, there will be opportunities to develop a ‘portfolio of evidence’ (for recognition and promotion), collaborate with people who are passionate about common interests, and add to the evidence base by publishing educational research studies. Participating in useful and innovative projects can be a lot of fun and has the potential to make a real difference. References relevant to educational theories, evidence-based practices, and educational research are available in the open-access ‘Veterinary Educational Researcher's Handbook’ (2022) by Hunt J, Baillie S, Thompson M, Ruohoniemi M, Phillips V, Boller M & Aumarm W. https://doi.org/10.35542/osf.io/dn6e2 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 199

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Miteinander lachen, was leistet Humor in der Lehre? Ingrid Vervuert Institut für Tierernährung, Ernährungsschäden und Diätetik, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig Abstract Humor ist ein integraler Part der Kommunikation, welcher als geplanter oder aber auch spontaner Bestandteil in der Lehre eingesetzt werden kann. Forschungsergebnisse zeigen, dass positiver bzw. konstruktiver Humor in der Lehre z.B. Anekdoten, Comics, Cartoons oder auch Schauspielsequenzen eine positive Bindung bzw. Grundstimmung, d.h. z.B. miteinander lachen, oder auch eine erhöhte Aufmerksamkeit zwischen Dozierenden und Studierenden schaffen kann. Vielfach dient positiver Humor in der Lehre auch dem Stressabbau. Umgekehrt führt negativer, d.h. destruktiver oder aggressiver Humor, der z.B. darauf abzielt, Personen zu verletzen oder herabzusetzen, zur Distanzierung und Ablehnung der Studierenden. Zu beachten ist allerdings, dass Humor von Studierenden sehr unterschiedlich wahrgenommen und ausgelegt werden kann, hier spielen vor allen Dingen soziokulturelle Aspekte eine große Rolle. Definition Humor „Humor ist das, was man nicht hat, sobald man es definiert!“ (Rudolpf Presber 1868-1935) Es gibt keine allgemeingültige Definition von Humor, dennoch besteht Konsens, dass der Einsatz von Humor in Form von verbaler oder nonverbaler Kommunikation positive Reaktionen in Form von Lachen oder Freude bei den Adressaten hervorrufen kann [1]. Humor aus der Perspektive der Psychologie bezeichnet z.B. die Eigenschaft einer Handlung, einer Ausdrucksweise oder eines Textes, heiter zu stimmen, scherzhaft, lustig, witzig, spaßig oder kurios zu sein. Humor umfasst dabei auch die Fähigkeit, diesen wahrzunehmen oder vermitteln zu können. Humor spielt in zwischenmenschlichen Interaktionen eine wichtige Rolle, und hilft dabei, den Umgang mit schwierigen Situationen zu erleichtern, aber auch negative oder positive Emotionen zu regulieren [2]. Neben dem Humor, der als positiv wahrgenommen wird, gibt es auch zahlreiche Formen des Humors, die als negativ wahrgenommen werden, wobei vielfach Sarkasmus, Verhöhnung, Spott und/oder Verletzungen von anderen Personen im Vordergrund stehen. Zu beachten ist, dass Humor sehr individuell wahrgenommen und ausgelegt wird, wobei der soziokulturelle Hintergrund des adressierten Publikums eine wesentliche Rolle spielt. Humor in der Lehre? Humor als integraler Bestandteil der Kommunikation wird sehr vielfältig in der Lehre genutzt, wobei in wissenschaftlichen Untersuchungen der geplante Humor, aber weniger der spontan eingesetzte Humor als didaktisches Element vorrangig untersucht wurde [3]. Das Einbinden von Humor in Lehrveranstaltungen findet z.B. im Medizinstudium von mehr als 80 % der Studierenden als auch von den Dozierenden positive Zustimmung (Tabelle 1) [4]. Geplanter Humor beinhaltet z.B. das gezielte Einbinden von Kurzgeschichten, Witzen, Comics, Cartoons oder auch Schauspielsequenzen in Vorlesungen oder Seminaren. Auch wenn für die Veterinärmedizin bislang keine Studien vorliegen, so deuten Forschungsergebnisse anderer Studiengänge darauf hin, dass z.B. die Aufmerksamkeit und die Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden durch das Einbringen von humoristischen Elementen in Vorlesungen und Seminaren deutlich gefördert werden kann (Tabelle 2) [3;4]. Unklar bleibt allerdings, ob der Lernerfolg durch Humor als didaktisches Element verbessert wird. Subjektiv wird langfristig ein höherer Lernerfolg von den Studierenden wahrgenommen [3;4]. Unter objektivierbaren Versuchsbedingungen zeigten Studierende der Kommunikationswissenschaften allerdings kurzfristig deutlich schlechtere Lernerfolge im unmittelbaren Anschluss an eine Vorlesung mit humoristischen Elementen im Vergleich zu einer Vorlesung, in der keine humorvollen Tools implementiert wurden. Die Studierenden erzielten in dieser Untersuchung deutlich schlechtere Testergebnisse in einem schriftlichen Multiple Choice-Test zu den 200 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Lerninhalten im Anschluss an die Verlesung mit humorvollen Darbietungen im Vergleich zu der klassischen Vorlesung [5]. Die Autoren argumentieren, dass Studierende sich zumindest kurzfristig mehr an die humoristischen Inhalte als an den eigentlichen Vorlesungsstoff erinnern. Dies unterstreicht Überlegungen, dass humoristische Elemente dosiert und nicht überbordend einzusetzen sind (Tabelle 3) [4], so dass vermutlich ein höherer Lernerfolg aufgrund einer positiven Lernumgebung lang-, aber auch kurzfristig zu erzielen ist. Tabelle 1: Umfrage über den gewünschten Einsatz von Humor in Lehrveranstaltungen im Medizinstudium, Angaben in Prozent, Einfachnennung [4] Einschätzung Studierende Dozierende (n = 165) Sehr hohe Zustimmung Hohe Zustimmung Indifferent Ablehnung Sehr hohe Ablehnung 52 35 13 0 0 (n = 327) 45 42 11 2 0 = 327) 94 90 82 67 64 Tabelle 2: Umfrage über die Vorteile des Einsatzes von Humor in Lehrveranstaltungen im Medizinstudium, Angaben in Prozent, Mehrfachnennung möglich [4] Item Studierende (n Dozierende (n = 165) Entspannte Atmosphäre Positive Lernumgebung, Freude am Lernen Positive Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden Fokussierun auf das Thema Erhöhung des langfristigen Erinnerungsvermögens 82 80 77 74 55 Zu beachten ist auch, dass die Ergebnisse zum Lernerfolg sicherlich auch fachspezifisch zu werten sind. Inwieweit sich Ergebnisse von Studierenden und Dozierenden der Kommunikations-wissenschaften auf die Lehre bzw. den Lernerfolg in der Veterinärmedizin übertragen lassen, muss an dieser Stelle offenbleiben. Tabelle 3: Anzahl der gewünschten humoristischen Elemente im Medizinstudium in einer Vorlesungseinheit von 45 min, Angaben in Prozent, Einfachnennung [4] Anzahl 1 2 3 4 5 > 5 Dozierende (n = 165) Studierende (n = 327) 5 38 31 12 9 5 4 19 36 21 14 6 Fazit „Wesentliche Dinge im Leben sind nicht zuletzt der Humor und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen.“ (Yehudin Menuhin 1916-1999) Der Einsatz von positivem Humor ist innerhalb einer Vielzahl von didaktischen Werkzeugen in der Hochschullehre ein wertvolles Tool. Humoristische Elemente können geplant, aber auch spontan in 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 201

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Vorlesungen und Seminaren eingebaut werden, wobei soziokulturelle Aspekte, aber auch die Anzahl der humoristischen Einschübe in einer Lehreinheit zu beachten sind. Literatur 1. Banas, J.A., Dunbar, N., Rodriguez, D., Liu, S.J. A Review of Humor in Educational Settings: Four Decades of Research. Communication Education Vol. 60, No. 1, 2011, 115-144 2. Stangl W. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/10523/humor 3. Haydon, G., Reis; J., Bowen, L. The use of humour in nursing education: An integrative review of research literature. Nurse 4. Education Today, 126, 2023, 105827 Liu, Y.P., Sun, L., Wu, X.F., Yang, Y., Zhang, C.T., Zhou, H.L., Quan, X.Q. Use of Humour in medical education: A survey of students and teachers at a medical school in China. BMJ Open, 2017, 7:e018853, doi:10.1136/bmjopen-2017-018853 5. Bolkan, S., Griffin, D.J., Goodboy, A.K. Humor in the classroom: the effects of integrated humor on student learning. Communication Education Vol. 64, No. 2, 2018, 144-164, doi:10.1080/03634523.2017.1413199 Kontakt Prof. Dr. med. vet. Ingrid Vervuert; Institut für Tierernährung, Ernährungsschäden und Diätetik, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig, an den Tierkliniken 9, 04103 Leipzig ingrid.vervuert@vetmed.uni-leipzig.de 202 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Peer-assisted Learning in einem simulations-basierten Notfallmodul Schlesinger Samira Veterinary Skills Net, Freie Universität Berlin Teaching emergency and critical care procedures is associated with a range of challenges (1). The demand for practical, hands-on training is particularly high but the emergency or critical care unit is typically a stressful, unforgiving environment where simple mistakes can mean the difference between life and death (1). In 2020, a novel simulation-based emergency veterinary care (EVC) module was introduced at the faculty for veterinary medicine, Freie University Berlin. The module was mandatory for all final-year veterinary students (n = 155). One semester prior to the module, students take part in a 5-hour workshop on communication skills. The theoretical background is revised using a series of interactive, virtual emergency cases using an internal platform specifically designed for this purpose. Subsequently, the practical skills necessary for the management of each case, are taught using different simulation-based learning stations in a two-week block event. In 2020, a peer-assisted learning (PAL) approach was trialed at two learning stations. Interfusing simulation- based training scenarios with elements of peer teaching or peer-assisted learning (PAL) can help to take some of the pressure off of educators (2,3). A multitude of studies has demonstrated the benefits of PAL for both teachers and learners in the medical field (4,5) with some authors advocating the formal integration of PAL in the clinical stages of all medical curricula (6). Sixteen students volunteered to act as student tutors for their peers. The student tutors came from the same cohort as the participating students (“same level PAL”) and were prepared for the tutoring activity in a specific training session prior to the exercise. During the emergency module, each tutor then tutored six groups of 3 – 4 tutees in one topic of their choice. Evaluation forms were filled out by both tutors and tutees with a response rate of 100% and 89.7%, respectively. The peer-assisted learning activity was very well-received by all participants. All participating tutors felt well-prepared for the exercise. Tutees indicated that the tutors were able to create a fun and positive learning environment and were able to convey the content in a professional and competent manner. Responses in the evaluation forms also indicated that the ratio of tutee: tutor: faculty member (1: 3-4 :1) was a good fit for the exercise. Overall, the same level PAL activity proved to be a promising and effective learning strategy for both tutors and tutees (7) and has since become a compulsory component of the emergency module. We believe that the combination of thorough tutor training before the activity and availability of a faculty member to fall back on during the activity is essential to creating a supportive and motivating environment for both tutors and tutees. In order to fully comprehend the effects of the peer-assisted-learning activity, future PAL activities should include objective skill assessment of both tutors and tutees. Keywords: veterinary education, simulation, peer assisted learning, reproduction medicine References 1. Hansen BD. An alternative model for teaching emergency procedures. J Vet Med Educ 2003; 30(3): 270–3 2. Cate O ten, Durning S. Peer teaching in medical education: twelve reasons to move from theory to practice. Med Teach 2007; 29(6): 591–9 3. Rees EL, Quinn PJ, Davies B, Fotheringham V. How does peer teaching compare to faculty teaching? A systematic review and meta-analysis (.). Med Teach 2016; 38(8): 829–37 4. Yu T-C, Wilson NC, Singh PP, Lemanu DP, Hawken SJ, Hill AG. Medical students-as-teachers: a systematic review of peer-assisted teaching during medical school. Adv Med Educ Pract 2011; 2: 157–72 5. Burgess A, McGregor D, Mellis C. Medical students as peer tutors: a systematic review. BMC Med Educ 2014; 14: 115 6. Brierley C, Ellis L, Reid ER. Peer-assisted learning in medical education: A systematic review and meta-analysis. Med Educ 2021 7. Schlesinger SL, Losansky VA. Teaching Tip: Integrating Same-Level Peer-Assisted Learning in a Simulation-Based Emergency Dystocia Module for Final-Year Veterinary Students. J Vet Med Educ 2022; Oct 14:e20220038. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 203

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Interprofessional education in veterinary medicine Sarah Baillie1, Gemma Irwin-Porter1, Mark McCorry2, Renagh Kelly2 1University of Bristol (UK); 2University College Dublin (Ireland) Introduction Interprofessional education (IPE) has been defined “as occasions when members or students of two or more professions learn with, from and about each other to improve collaboration and the quality of care and services” (1). Much of the work on IPE has been in human medical education and healthcare environments. The importance has been highlighted by the World Health Organization (2). In veterinary practices, interprofessional teams are working together on a daily basis. Therefore, IPE should be included in veterinary and veterinary nursing curricula to allow students to better understand each profession’s roles, to enable students and graduates to work together more effectively, and to support interprofessional practice (IPP). Veterinary IPE Initiatives Research studies have provided insights into veterinary IPE and information about how best to design and implement educational interventions. One of the initial steps has been to utilise resources from medical education. A validated scale has been developed for healthcare students to determine their readiness for interprofessional learning (3), and this has been applied in a veterinary context (4). A bespoke veterinary version has been created and validated (5) and has been used to inform further veterinary IPE research (6). Studies have also identified both challenges and enablers of veterinary IPE and IPP (4,6,7), including perceptions about roles, established hierarchies and a willingness to learn and work together. Curricular challenges when introducing IPE initiatives include scheduling across already busy programs, equivalence of clinical knowledge at the time of an IPE intervention, and group size dynamics (cohorts of veterinary students being larger than veterinary nursing). There have been several initiatives to introduce IPE in veterinary education. ‘Talking Walls’, which was originally designed for healthcare students (6), has proved equally applicable and useful for veterinary and veterinary nursing students (7,8,9). Students are initially placed in their professional groups and are provided with a veterinary scenario in which to define the other profession’s roles. The groups swap over to comment on and correct any inaccuracies or misconceptions. All groups then come together for a facilitated discussion. Other examples involve several students from each professional group working together to solve a clinical problem, role play a clinical scenario or deal with an emergency situation, and joint cohort activities during induction week (4,6,9,10). Benefits have been identified as improved awareness of the other profession and knowledge of associated roles, and a better sense of the value of interprofessional teamwork. Conclusions The importance of IPE in a veterinary context is well established. However, there are challenges in implementing IPE and barriers to overcome. Several initiatives have been developed successfully but more work is needed to integrate IPE as a core component of veterinary and veterinary nursing curricula to ensure that graduates are prepared for interprofessional practice. References 1. Centre for the Advancement of Interprofessional Education (CAIPE). Defining IPE [Internet]. https://www.caipe.org/resource/CAIPE-Statement-of-Purpose-2016.pdf 2. World Health Organization (WHO). Framework for action on interprofessional education & collaborative practice. WHO/HRH/HPN/10.3. Available at: https://www.who.int/publications/i/item/framework-for-action-on-interprofessional- education-collaborative-practice 3. Parsell G, Bligh J. The development of a questionnaire to assess the readiness of health care students for interprofessional learning (RIPLS). Med Educ. 1999;33(2):95–100. 4. Kinnison T, Lumbis R, Orpet H, Welsh P, Gregory S, Baillie S. Piloting interprofessional education interventions with veterinary and veterinary nursing students. J Vet Med Educ. 2011;38(3):311-318. 206 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ 5. Kinnison T, Lumbis R, de Mestre AM, Cardwell JM. Preliminary testing of psychometric properties of the 'student 6. perceptions of veterinary interprofessional education and work scale' (SP-VIEWS). J Interprof Care. 2022;36(3):449-457. Irwin-Porter G. Veterinary and veterinary nursing students’ perceptions of interprofessional working and interprofessional education at the University of Bristol Veterinary School. [MEd Dissertation]. University of Bristol; 2023. 7. Kinnison T, Guile D, May S. The case of veterinary interprofessional practice: From one health to a world of its own. J Interprof Educ Pract. 2016;4:51-57. 8. Parsell G, Gibbs T, Bligh J. Three visual techniques to enhance interprofessional learning. Postgrad Med J. 1998;74:387– 390. 9. Kinnison T, Lumbis RH, Orpet H, Gregory S, Baillie S. How to run Talking Walls: an interprofessional education resource. Vet Nurse. 2011: 3(1):4-11. 10. McCorry M, Kelly R. Piloting an interprofessional skills and case-based project at University College Dublin’s School of Veterinary Medicine. Proceedings of InVeST Conference; 05.02.2023; St. George’s University, School of Veterinary Medicine, Grenada, W.I. Kontakt Prof. Dr. Sarah Baillie; University of Bristol (UK) 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 207

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Im Team lernen, um im Team zu arbeiten – Erfahrungen mit interprofessioneller Aus- und Fortbildung im medizinischen Bereich Jan P. Ehlers1 und Andrea Schlicker1,2 1Lehrstuhl für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen, Department Humanmedizin, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke; 2Studiendekanat, Department Humanmedizin, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke Interprofessioneller Ausbildung wurde 2016 vom Centre for the Advancement of Interprofessional Education (CAIPE) wie folgt definiert: „In unserer gemeinsamen Arbeit und Praxis erkennen wir die interprofessionelle Ausbildung als Gelegenheiten an, bei denen Angehörige oder Studierende von zwei oder mehr Berufen mit-, von- und übereinander lernen, um die Zusammenarbeit und die Qualität der Versorgung zu verbessern.“ (1) Im Bereich des Gesundheitswesens fallen hierunter z.B. die Berufsgruppen aus den Bereichen Medizin, Pflege, Physiotherapie, Logopädie, Hebammenkunde oder Ergotherapie. Diese gemeinsame Ausbildung ist essentiell, um im späteren Berufsleben eine gute Zusammenarbeit über die Berufsgrenzen hinweg zu gewährleisten (2). Wichtig sind neben den Kenntnissen um die jeweiligen Kompetenzen und Rollen vor allem das Erarbeiten gegenseitigen Vertrauens und das Einüben gemeinschaftlichen Handelns. Bei der Versorgung von Patient:innen ist ein gutes Zusammenarbeiten des ganzen Teams notwendig, um Fehler zu vermeiden oder auch aus Fehlern zu lernen. Die hierfür notwenige Kultur entsteht nicht von alleine, sondern muss frühestmöglich erlernt und etabliert werden. Während international bereits seit den 1960er über „Interprofessional Education“ (IPE) diskutiert wird (3), hat dieses wichtige Feld der Ausbildung im Gesundheitswesen im deutschsprachigen Raum erst in den 2010er Jahren Beachtung gefunden (4). Einen wichtigen Anteil hatte hier die große Förderinitiative der Robert-Bosch- Stiftung. Bemerkenswert ist sicherlich, dass in diesen Initiativen immer die Medizin mitgedacht und integriert wurde, während in internationalen Projekten die Interprofessionalität oft auch nur zwischen den anderen Gesundheitsberufen gelernt und eingeübt wird. Die Akademisierung der Gesundheitsberufe in Deutschland ermöglicht, dass Curricula miteinander verzahnt werden und interprofessionelle Ausbildung durchgeführt werden kann (5). Die Universität Witten/Herdecke fokussiert in ihrem aktuellen Modellstudiengang Medizin sehr explizit auf interprofessionelle Ausbildung (6). In den ersten vier Semester finden parallel zum Problemorientierten Lernen interprofessionelle Falltage in Kooperation mit den Fakultäten für Physiotherapie, Pflegewissenschaft und Ergotherapie der Hochschule für Gesundheit Bochum statt. Studierende der verschiedenen Studiengänge lernen hier miteinander, übereinander und voneinander und bilden bereits im Studium Gemeinschaften. Die interprofessionelle Ausbildung zieht sich longitudinal durch das gesamte Studium. IPE-Tage mit den Hebammenwissenschaften der Hochschule für Gesundheit Bochum statt. Darüber hinaus führen die Studierenden zudem interprofessionelle Shadowings und interprofessionelle Visiten mit nachfolgender Reflexion durch. In den klinischen Phasen finden Zusätzlich hat das Helios Universitätsklinikum Wuppertal der Uni Witten/Herdecke im Bereich Urologie eine interprofessionelle Ausbildungsstation entwickelt, auf die Medizinstudierende und Auszubildende aus dem Pflegebereich gemeinsam selbständig unter ärztlicher Aufsicht die Versorgung übernehmen. Neben der klinischen Praxis wird hier auch die interprofessionelle Zusammenarbeit eingeübt (7). Die didaktischen Kompetenzen für die Durchführung interprofessioneller Lehr- und Lernveranstaltungen sind sehr unterschiedlich ausgeprägt (8), da für die Protagonist:innen in Deutschland bisher keine expliziten didaktischen Schulungen angeboten werden. Der Aufbau entsprechender Programme ist daher dringend angeraten. Planetary Health und damit die Begegnung der Klimakrise als größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist ein wichtiger, neu aufkommender Bereich in der Gesundheitsversorgung (9). Auch hier ist ein interprofessionelles Handeln essentiell, um Patient:innen zu einem klimafreundlichen Handeln zu bewegen (10). Bisher findet sich dieser Bereich allerdings erst selten in den interprofessionellen Curricula (11). 208 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Interprofessionelle Ausbildung erfährt in der humanmedizinischen Ausbildung eine starke Berücksichtigung, die sich auch in den Entwürfen der neuen Approbationsordnung niederschlägt. Diese kann damit ein gutes Vorbild für tiermedizinische Bestrebungen sein. Literatur 1. CAIPE (2016): Collaborative practice through learning together to work together. https://www.caipe.org/resource/CAIPE- Statement-of-Purpose-2016.pdf (zuletzt geöffnet 30.09.2023) 2. KAAP-FRÖHLICH S, ULRICH G, WERSHOFEN B, AHLES J, BEHREND R, HANDGRAAF M, HERINEK D, MITZKAT A, OBERHAUSER H, SCHERER T, SCHLICKER A, STRAUB C, EICHLER RW, WESSELBORG B, WITTL M, HUBER M, BODE SFN (2022): Positionspapier GMA-Ausschuss Interprofessionelle Ausbildung in den Gesundheitsberufen – aktueller Stand und Zukunftsperspektiven. GMS J Med Educ 39/2, Doc17, doi: 10.3205/zma001538 THISTLETHWAIT J (2011): Interprofessional education: a review of context, learning and the research agenda. Medical Education 46/1, 58-70. https://doi.org/10.1111/j.1365-2923.2011.04143.x 3. 4. WALKENHORST U, MAHLER C, AISTLEITHNER R, HAHN EG, KAAP-FRÖHLICH S, KARSTENS S, REIBER K, STOCK- SCHRÖER B, SOTTAS B (2015): Positionspapier GMA-Ausschuss – „Interprofessionelle Ausbildung in den Gesundheitsberufen“. GMS Z Med Ausbild. 32/2, Doc22. doi:10.3205/zma000964 5. WALKENHORST U (2016): The meaning of interprofessional education and collaborative practice for the academisation of 6. health professions. International Journal of Health Professions, 3/1, 21-28. FROST K, EDELHÄUSER F, HOFMANN M, TAUSCHEL D, LUTZ G (2019): History and development of medical studies at the University of Witten/Herdecke–an example of “continuous reform”. GMS Journal for Medical Education, 36/5, Doc61, doi: 10.3205/zma001269 7. HILIENHOF A (2023): Urologie: Neue Ausbildungsstation in Wuppertal. Dtsch Arztebl 120/19, A-875 / B-747 8. SCHLICKER A und EHLERS JP (2023): The role of lecturers in interprofessional education – a survey of lecturers in Germany. IJHP 10/1, 37-45, DOI: 10.2478/ijhp-2023-0005 9. HORTON R, BEAGLEHOLE R, BONITA R, RAEBURN J, MCKEE M, WALL S (2014): From public to planetary health: a manifesto. The Lancet, 383/9920, 847 10. REISMANN L, WERBER A, LEITZMANN M, JOCHEM C (2021): Climate-specific health literacy and medical advice: The potential for health co-benefits and climate change mitigation. An exploratory study. The Journal of Climate Change and Health, 4, 100072. 11. MCKINNON S, BREAKEY S, FANUELE JR, KELLY DE, ZEMAN EDDY E, TARBET A, NICHOLS PK, VIAMONTE ROS E (2022). Roles of health professionals in addressing health consequences of climate change in interprofessional education: a scoping review. The Journal of Climate Change and Health, 5, 100086. Kontakt Prof. Dr. Jan P. Ehlers; Lehrstuhl für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen, Department Humanmedizin - Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke jan.ehlers@uni-wh.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 209

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Lebenslanges Lernen – von Fehlern lernen im tierärztlichen Team Holger A. Volk Klinik für Kleintiere, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Fehlermachen ist menschlich. Dennoch wird von (Tier)Ärzt:innen erwartet, dass sie bei der Patientenversorgung keine Fehler passieren. Deshalb werden, auch wegen der möglichen strafrechtlichen Konsequenzen, keine offene Fehlerkultur in der (Tier)Medizin gelebt. Das Ziel dieses Vortrages ist es, eine objektive gesellschaftliche Debatte über eine effektivere Fehlerkultur in der (Tier-)Medizin anzustoßen. Wir werden zusammen Fehlerkulturen anderer Industrien mit hoher Verantwortung eruieren, z. Bsp. die Just-Kultur der Luftfahrt. Die Luftfahrt gilt oft als Paradebeispiel für eine offene, zielführende Fehlerkultur, welche nachweislich zu einer eindrucksvollen Verbesserung der Flugsicherheit geführt hat und diese kontinuierlich weiter verbessert. Der Umgang mit Fehlern in der Luftfahrt ist nicht auf Strafe ausgerichtet, sondern zielt auf die kontinuierliche Verbesserung der Gesamtorganisation ab. Wenn medizinische Fehler passieren, können neben Frustrationen und Vorwürfen strafrechtliche Konsequenzen die Folgen sein. Die Bringschuld liegt hier bei Tierbesitzer:innen, die auf einen möglichen Fehler hinweisen müssen, bevor dieser näher untersucht wird. Der administrative und juristische Apparat in Kliniken dagegen rät eher zu einem passiven, verteidigenden Verhalten. Ein emotionales Ringen um Schuld und Recht zwischen Tierbesitzer:innen und dem tiermedizinischen Team beginnt und ist oft losgelöst von dem gemeinsamen Ziel, einem geliebten Weggefährten zu helfen. Das Problem: Medizin ist komplex und es ist oft nicht klar, ob eine tragische Entwicklung des Krankheitsverlaufs oder eine Verkettung von Fehlern für das vermehrte Leid oder gar den Tod eines Patienten verantwortlich ist. Dadurch werden die Bestrebungen für eine gerechte, systematische und gegebenenfalls sanktionsfreie Fehlerkultur erschwert, die jedoch unabdingbar ist für die Entwicklung der modernen Medizin - für Systeme, die eine bessere Patientenversorgung und -sicherheit bieten. Eine offenere Fehlerkultur ist nicht nur wichtig für die Zurückgewinnung des Vertrauens der Gesellschaft in die (Tier-)Medizin, sondern auch für die (Tier)Mediziner:innen selbst. (Tier)Mediziner:innen sind auch nur Menschen, mit guten und schlechten Tagen. Sie machen Fehler und diese Fehler können in der Konsequenz zu vermehrten Schmerzen und Leiden, im schlimmsten Fall sogar zum Tod eines Patienten führen. Jedoch haben (Tier)Mediziner:innen den Beruf gewählt, weil sie helfen wollen und verpflichten sich, Schmerzen und Leid zu lindern. Tiermedizin ist ein schweres Studium und die Aufnahme ins Studium stark selektiert. Ausgewählt wird eine Menschengruppe, die stets Perfektion anstrebt, meist gepaart mit einem ausgeprägten Helfergen, also dem starken Wunsch anderen zu helfen. Treten die jungen Tierärzt:innen nun hoch motiviert, aber relativ unerfahren in den Beruf, werden sie früher oder später zwangsläufig mit Fehlern konfrontiert, ihren eigenen und denen von Kollegen. Fehler, die gesellschaftlich verurteilt werden und ihren eigenen Grundwerten und ihrem Streben nach Perfektion zutiefst entgegenstehen. Der Umgang mit diesen Fehlern ist die nächste Herausforderung. Werden sie verpönt, verschwiegen, vor Kollegen als schlechtes Beispiel dargestellt oder werden sie besprochen und als Gelegenheit für weiteres Lernen und eine Verbesserung der medizinischen Versorgung genutzt? Leider ist oft ersteres der Fall. Die so entstehenden moralischen und psychischen Verletzungen können ein Faktor sein, der für das bei Tiermediziner:innen so deutlich erhöhte Depressions- und Suizidrisiko mitverantwortlich ist. Jeder Dritte in der Tiermedizin ist Suizid-gefährdet. Im Vergleich dazu liegt es bei der Allgemeinbevölkerung bei ca. 5%. Die starke psychische Belastung und das beschriebene emotionale Spannungsfeld führt dazu, dass mehr und mehr Tiermediziner:innen die kurative Praxis verlassen. Es kommt hierdurch schon jetzt zu einer medizinischen Unterversorgung, vor allem im Notdienst. Wie können wir diesen Konflikt gemeinsam als Tierärzteschaft bewältigen? Was können wir von anderen Industriezweigen lernen? Welche Fehlerkulturen gibt es und wie werden diese gelebt und erlebt? Themenkomplexe, die hierfür wichtig seien könnten: - Mensch-Tier Beziehung bei Haustieren und deren Einfluss auf die Erwartungshaltung an die Tiermedizin 210 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ - Förderung der Kommunikation auf Augenhöhe und Vertrauensbildung zwischen Medizinern und Patienten(besitzern) - Entwicklung eines nachhaltigen Qualitätsmanagements mit positiver Fehlerkultur (ähnlich der Just- Kultur der Luftfahrtindustrie) - Offener und transparenter Umgang mit kritischen Ereignissen und Beinahe-Fehlern - Effektive Kommunikation innerhalb der (Tier-)Medizin zur Patientensicherheit und “best praxis” zur Vermeidung häufiger Fehler - Resilienztraining des (Tier-)medizinischen Teams Eine umfassende Statistik über Tier- aber auch medizinische Behandlungsfehler existiert nicht in Deutschland. Es wird geschätzt, dass jeder tausendste Klinikpatient an einem Behandlungsfehler verstirbt. Eine offene Fehlerlerkultur setzt voraus, Prozesse zu entwickeln, die systematisch und Barriere-arm risikobehaftete Situationen und beinahe-Fehler erfasst und nach ihren Abwendungs- bzw. Vermeidungstechniken fragt. Im internationalen medizinischen Bereich wird hierfür ein Critical Incident Reporting System (CIRS) genutzt. Auch wir an der Klinik für Kleintiere der TiHo setzen so ein System für die Qualitätssicherung ein. Im deutschsprachigen Raum sind wir damit (leider noch) Vorreiter. Ein CIRS erlaubt das Registrieren von Fehlern ebenso wie das Melden von Beinahe-Fehlern, positiven Erfahrungen und Lösungsvorschlägen. Wichtiges Merkmal dieser Systeme ist, dass die Berichte keine Daten enthalten, die Rückschlüsse auf Personen oder Institutionen erlauben. Grundsätzlich geht man davon aus, dass sich im Schnitt 300 Beinahe-Fehler ereignen, bevor tatsächlich ein Fehler passiert. Katastrophale medizinische Ereignisse werden in der Regel nicht durch ein einziges Ereignis verursacht. Sie sind meist das Resultat einer ganzen Fehlerkette. Man nennt dies auch das Swiss-Cheese-Modell - nur wenn viele Löcher aufgereiht sind, kann man durch den Käse blicken. Die Frage ist, wie man den menschlichen Faktor reduziert und mehr Resilienz in medizinischen Systemen etabliert, damit katastrophale Ereignisse für den Patienten unwahrscheinlicher werden. Bisher werden Patienten bzw. Patientenbesitzer:innen nicht an der Aufarbeitung dieser kritischen Ereignisse beteiligt. Fehler spielen auch in anderen Industriebereichen eine große Rolle. Pilot:innen tragen wie (Tier)Ärzt:innen ein hohes Maß an Verantwortung. Die Luftfahrt gilt oft als Paradebeispiel für eine offene, zielführende Fehlerkultur, welche nachweislich zu einer eindrucksvollen Verbesserung der Flugsicherheit geführt hat und diese kontinuierlich weiter verbessert. Der Umgang mit Fehlern in der Luftfahrt ist nicht auf Strafe ausgerichtet, sondern zielt auf die kontinuierliche Verbesserung der Gesamtorganisation ab. Was können die Gesellschaft und die (Tier-)Medizin von der Luftfahrt lernen? Wie bei dem oben genannten CIRS sammeln die Luftfahrtverbände alle Vorfälle, einschließlich Beinaheunfälle, auf der Grundlage eines straffreien Meldesystems: 36 % der Fehler sind auf Menschen zurückzuführen; 26 % auf die Umwelt; 25 % sind organisatorischer Natur; und 13 % technisch bedingt. Vom Menschen verursachte Fehler/Beinaheunfälle werden basierend auf aktivem Versagen (37 %), mangelndem Fachwissen (34 %) und passivem Versagen (29 %) berechnet. Die Gesamtunfallrate in der Luftfahrt betrug laut Statista im Jahr 2020 weltweit 2,1 Flugzeugunfälle pro einer Million Flüge. Das entspricht 0,00021 %. Die Luftfahrtverbände verwenden eine standardisierte Klassifizierung von Unfällen in Hauptkategorien und Unterkategorien. Eines der Schlüsselelemente ist die Unfallbewertung, die sich auf die Ursache und nicht auf die Schuld konzentriert. In der Medizin und vor allem in der Chirurgie gibt es immer noch die Tendenz zu fragen, wer den Fehler begangen hat und nicht, warum er passiert ist. Wenn die Gesellschaft realistische Zahlen über das Auftreten von Beinahefehlern oder Unfällen erhalten will, um Präventionsmaßnahmen zu entwickeln, müsste, wie in der Luftfahrt, ein anonymes Meldesystem konzipiert werden. Interessant für Mediziner:innen ist zum Beispiel die Charakterisierung der Persönlichkeit. So wurden bei Pilot:innen fünf gefährliche Denkmuster identifiziert, die mit einem erhöhten Fehlerrisiko in Verbindung stehen: dem Unverwundbaren („Es wird immer funktionieren“), dem Macho („Ich bin der Einzige, der es kann“), dem Impulsiven („Wir müssen etwas tun – jetzt“), dem Autoritätsfeindlichen („Ich bin keiner, der sich so reglementieren lässt“) und dem Resignationstyp („Wir können die Situation sowieso nicht ändern“). Es wurde ein Fragebogen entwickelt, der spezifische Szenarien beschreibt, damit die Pilot:innen das Risikoprofil basierend auf ihrer Persönlichkeit besser verstehen können. Ein solches System könnte auch für (Tier)Mediziner:innen sehr hilfreich sein. Tierärzt:innen müssen sich ihrer Persönlichkeitsstruktur bewusst 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 211

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ werden, vor allem in Notfallsituationen. Die Teamarbeit unter dem medizinischen Personal und mit den Patientenbesitzer:innen muss verbessert werden, indem wir die hierarchischen Strukturen abbauen und Konzepte für die schon oben erwähnte partizipative Kommunikation erarbeiten. In der Luftfahrt wird dies durch ein Crew-Resource-Management mit Hardware, Software und „Lifeware“ für einen sicheren und effizienten Betrieb erreicht. Ein weiteres zentrales Element in der Luftfahrt sind Checklisten. Der Einsatz von Checklisten und ‚Standard Operation Procedures‘ (SOPs) hat in der Medizin im letzten Jahrzehnt stark zugenommen und wird in der TiHo bereits aktiv praktiziert. In den meisten Operationssälen ist heute das Time-out-Verfahren vor der Operation und die Überprüfung der Namen der Akteure, der Identität des Patienten sowie der Art und Lokalisation der Krankheit zu einer SOP geworden. Dies hat positive Auswirkungen auf die Patientensicherheit, aber es ist noch nicht klar, ob diese Systeme auch das Vertrauen der Menschen in die Medizin fördern und helfen eine offene Fehlerkultur zu etablieren. Des Weiteren hat die Luftfahrt Methoden etabliert, wie die Resilienz und die Entscheidungsfindung im Team verbessern werden kann, um den psychischen Druck auf den Einzelnen zu reduzieren. Der Austausch mit der Luftfahrt ist daher auch für (Tier)Mediziner:innen von Bedeutung, nicht nur um besser aus Fehlern zu lernen, sondern auch um zu lernen, effektiv zu kommunizieren, Entscheidungen zu verifizieren und besser mit psychischem Druck umzugehen. Wir wissen, dass allen Ärzt:innen Fehler unterlaufen – entscheidend ist aber, wie wir, als Gesellschaft und als Einzelperson, damit umgehen. Kontakt Prof. Dr. Holger A. Volk; Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Klinik für Kleintiere, Hannover Holger.Volk@tiho-hannover.de 212 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Vermittlung kommunikativer Kompetenzen in der Veterinärmedizin – Was? Wann? Wie? Mahtab Bahramsoltani Institut für Veterinär-Anatomie, Fachbereich Veterinärmedizin, Freie Universität Berlin, Berlin Was? Kommunikative Kompetenzen sind in allen tierärztlichen Berufsfeldern von signifikanter Bedeutung. So wird von Tierärzt:innen eine effektive Kommunikation mit Tierhalter:innen, Mitarbeitenden, Kolleg:innen und der Öffentlichkeit gefordert (1). Um mit diesen sehr unterschiedlichen Personengruppen zielführend kommunizieren zu können, sind die Fähigkeiten zur Empathie und zur Perspektivübernahme von zentraler Bedeutung. Sie ermöglichen, die Signale und Reaktionen des Gegenübers zu antizipieren und zu verstehen, und so das eigene Verhalten zur beidseitigen Zufriedenheit auszurichten (2). Das Ziel der Kommunikationslehre sollte dabei vor allem darin bestehen, die Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich der eigenen kommunikativen Kompetenzen durch eine Professionalisierung der Kommunikation zu stärken, da sich gezeigt hat, dass eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung nicht nur die Motivation zur effektiven Kommunikation, sondern auch die Qualität der Kommunikation steigert (3). Verschiedene Kommunikations-Modelle, wie beispielsweise das 4-Seiten- Modell von Schulz von Thun, das Sender-Empfänger-Modell nach Shannon & Weaver oder die Transaktionsanalyse nach Berne, adressieren diese Kompetenzen und werden daher zur Vermittlung kommunikativer Kompetenzen in der Veterinärmedizin eingesetzt (4). Zudem sind Modelle aus der Humanmedizin zur strukturierten Gesprächsführung bei der ärztlichen Konsultation (Calgary-Cambridge Observation Guide) und zur Überbringung schlechter Nachrichten (P-SPIKES-Modell) an die Bedingungen in der Veterinärmedizin adaptiert worden (4,5,6). Neben der persönlichen Professionalisierung hat sich gezeigt, dass kommunikative Kompetenzen bei Tierärzt:innen auch mit einer stärkeren Arbeitszufriedenheit und höherem beruflichen Erfolg assoziiert sind (7). Wann? Als übergreifende Schlüsselkompetenz sollte die Kommunikationslehre in allen Phasen des Veterinärmedizinstudiums in Form von Pflichtveranstaltungen für alle Studierende integriert sein. Im Fokus der ersten Semester sollten aufeinander folgend die Sensibilisierung für den Effekt kommunikativer Kompetenzen, die Vermittlung der theoretischen Grundlagen der Kommunikation sowie das Training von Standardgesprächssituationen stehen (8). Eine Sensibilisierung ist insofern von Bedeutung, als dass davon ausgegangen werden muss, dass die Bedeutung der Kommunikation im tierärztlichen Berufsleben den meisten Studierenden zu Beginn des Studiums nicht unbedingt bewusst ist (2). Mit der stärkeren Ausrichtung des Studiums auf den tierärztlichen Berufsalltag und damit auf komplexere Interaktionen in den höheren Semestern, kann die Kommunikationslehre auch herausfordernde und anspruchsvolle Gesprächssituationen, wie beispielsweise Konfliktgespräche und das Überbringen schlechter Nachrichten, fokussieren (8). Wie? Prinzipiell sind alle Lehrformate wie Vorlesungen, Seminare, praktische Übungen sowie E-Learning und Blended Learning für die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen geeignet und werden in unterschiedlicher Konstellation dafür eingesetzt. Dabei dienen, wie auch in anderen Fachdisziplinen, Vorlesungen und E-Learning vor allem für die Lehre in den theoretischen Grundlagen der Kommunikation, während Seminare und praktische Übungen, in denen Gesprächssituationen untereinander oder mit Simulationspersonen (Schauspieler:innen) simuliert werden, stärker auf die Anwendung und das Training der praktischen kommunikativen Kompetenzen fokussieren (4). Allerdings zeigen sich bei den verschiedenen Lehrinhalten und -formaten Unterschiede in der Sensibilisierung der Studierenden für die Relevanz kommunikativer Kompetenzen für den tierärztlichen Berufsalltag und der Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich ihrer eigenen kommunikativen Kompetenzen. So hat sich bei dem Vergleich eines E-Learning-Kurses zur Vermittlung der theoretischen Grundlagen der 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 213

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Kommunikation und einem praktischen Kurs mit Simulationspersonen gezeigt, dass zwar auch der E-Learning- Kurs zu einer stärkeren Wahrnehmung der Relevanz kommunikativer Fertigkeiten für den beruflichen Erfolg und einer Steigerung der Selbsteinschätzung der Kommunikationskompetenzen geführt hat. Ein signifikanter Effekt war jedoch erst nach dem praktischen Kurs zu beobachten. Da beide Kurse allerdings nacheinander und aufeinander aufbauend erfolgten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die vorherige Vermittlung der theoretischen Grundlagen der Kommunikation zum signifikanten Effekt des praktischen Kurses beigetragen hat (2). Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. EAEVE. List of Subjects and Day One Competences. Available online: https://www.eaeve.org/fileadmin/downloads/eccvt/List_of_subjects_and_Day_One_Competences_approved_on_17_J anuary_2019.pdf Bahramsoltani M, Bröer S, Langforth S, Eule C, Prior A, Vogt L, Li T-T, Schirone R, Pohl A, Jensen KC. Outcome of Communication Training in Veterinary Studies: Influence on the Perception of the Relevance of Veterinary Competencies and Self-Assessment of Communication Skills. Animals 2023;13(9):1516. Khodadi E, Ebrahimi H, Moghaddasian S, Babapour J. The Effect of Communication Skills Training on Quality of Care, Self-Efficacy, Job Satisfaction and Communication Skills Rate of Nurses in Hospitals of Tabriz, Iran. Journal of Caring Sciences 2013;2(1):27-37. Pohl A, Klass LG, Kleinsorgen C, Bernigau D, Pfeiffer-Morhenn B, Arnhold S, Dilly M, Beitz-Radzio C, Vogt L, Bahramsoltani M. Integration and potential of teaching communication skills in the study of veterinary medicine in Germany. GMS Journal of Medical Education 2021;38(3):Doc 53. Gray C, Moffett JA: Guide to the Veterinary Consultation Based on the Calgary-Cambridge Observation Guide. In: Gray C, Moffett J, Herausgeber. Handbook of Veterinary Communication Skills. Oxford: Wiley; 2013. S. 27-36. Baile WF, Buckman R, Lenzi R, Glober G, Beale EA, Kudelka AP. SPIKES - A six-step protocol for delivering bad news: Application to the patient with cancer. Oncologist 2000;5:302-311. Gruber C, Dilly M, Bahramsoltani M, Kleinsorgen C, Engelskirchen S, Ramspott S, Ehlers JP. Communication as teaching content in veterinary studies – a joint position paper from the DVG specialist group “communication and didactics” and the GMA veterinary medicine commitee. GMS Journal of Medical Education 2021;38(4):Doc 84. Kleinsorgen C, Ramspott S, Ehlers JP, Gruber C, Dilly M, Engelskirchen S, Bernigau D, Bahramsoltani M. Die Vermittlung von kommunikativen Kompetenzen im Studium der Veterinärmedizin in Deutschland – Vorschlag eines Mustercurriculums. Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift 2020;133(1/2):12-21. Kontakt Prof. Dr. Mahtab Bahramsoltani, Institut für Veterinär-Anatomie, Fachbereich Veterinärmedizin, Freie Universität Berlin mahtab.bahramsoltani@fu-berlin.de 214 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Kommunikation, ethische Aspekte und psychische Belastung im VPH-Bereich – Einblicke in Lehrformate an der VMF Leipzig Philipp Rolzhäuser Institut für Lebensmittelhygiene, Professur Fleischhygiene, Universität Leipzig Kommunikationsfähigkeit zählt zu den Ersttagskompetenzen von Veterinärmedizinern (1). Dennoch fehlt Kommunikation als Lehrinhalt in der Tierärztlichen Approbationsverordnung (2), weshalb das Erlernen kommunikativer Kompetenzen an den deutschen veterinärmedizinischen Bildungsstätten zumeist noch eher implizit erfolgt (3). Kommunikationsskills wiederum sind erforderlich, um ethische Verantwortung übernehmen zu können (4). Auch ein „Verständnis der ethischen Verantwortung von Tierärzten gegenüber Patienten, Patientenbesitzern, der Gesellschaft und der Umwelt“ zählt zu den Ersttagskompetenzen von Veterinärmedizinern (1). Die Vermittlung „geistiger und ethischer Grundlagen“ sowie einer „dem Wohle von Mensch, Tier und Umwelt verpflichteten beruflichen Einstellung“ ist zudem auch Inhalt der Tierärztlichen Approbationsverordnung (2). Trotzdem erfolgt auch hier die Vermittlung im deutschsprachigen Raum bisher zumeist eher implizit, begleitend oder in Wahlpflichtveranstaltungen und das, trotz zunehmender Bedeutung aufgrund veränderter Mensch-Tier- Beziehungen, gesellschaftlicher Erwartungen an das Tierwohl, moralischer Ansprüche an Tierärzte sowie alltägliches Vorkommen ethischer Dilemmata im tierärztlichen Berufsalltag (5). So ist in den deutschen und schweizerischen Curricula und den entsprechenden Prüfungsordnungen Ethik bisher nicht verankert und lediglich in Hannover und Wien erfolgte eine Institutionalisierung dieser (5). Eine weitere Ersttagskompetenz von Veterinärmedizinstudierenden stellt das Verständnis des emotionalen Kontextes dar, in dem Tierärzte agieren (1). Ethische Dilemmata und moralischer Stress der Tierärzte sind in diesen emotionalen Kontext einzuordnen. Die ethischen Dilemmata stellen zudem, neben den Arbeitsstunden, einen Hauptrisikofaktor für psychische Belastungen bzw. Depressionen, Burnout und Suizid unter Tierärzten dar, wofür auch bereits Veterinärmedizinstudierende sensibilisiert werden sollten (6). Eine entsprechende Sensibilisierung für solche Themen erfolgt bisher vermutlich eher durch außeruniversitäre Institutionen, beispielsweise durch die AG Mental Health des bvvd e. V. (Bundesverband der Veterinärmedizinstudierenden Deutschland) (7) oder gemeinnützige Organisationen wie Vetivolution (8). In der Lehrveranstaltung „Entwicklung kommunikativer Kompetenzen in einem VPH-Fall“ im 9. bzw. 10. Fachsemester im Track „Veterinary Public Health“ lernen Studierende zunächst in einer Selbstlernphase (Flipped Classroom) die Bedeutung von Kommunikation, Kommunikationsarten, zwei Kommunikationstheorien sowie Feedbackregeln kennen. Dies erfolgt anhand studentischer Reflexion in Mindmaps eines Conceptboards sowie mittels frei verfügbarer Lehrvideos. Für die Lehrveranstaltung relevantes Fachwissen wird zudem in einem kurzen Lehrvideo wiederholt. In der Präsenzphase der Veranstaltung wird das in der Selbstlernphase Erarbeitete aufgegriffen. Darüber hinaus führen die Studierenden einen Kommunikationstest (4 Ohren-Modell nach Schulz von Thun) durch und reflektieren persönliche Gesprächssituationen (Think-Pair-Share mit kollegialer Beratung). So zum Beispiel die Kommunikation zwischen Tierarzt und Tierhalter, Chef und Angestelltem, Tierarzt und ihnen als Praktikant sowie ihre eigene Kommunikationskompetenz innerhalb ihres Praktischen Jahres. Des Weiteren lernen die Studierenden Methoden zum Umgang mit Widerstand bzw. Killerphrasen wie „Das haben wir schon immer so gemacht.“ kennen. Den Kern der Präsenzphase bilden ein bis zwei Rollenspiele zu Notschlachtungen mit drei bis fünf beteiligten Studierenden und anschließender videogestützter kollegialer Beratung. Notschlachtungen können aufgrund bestehender Interessenskonflikte häufig mit ethischen Dilemmata und moralischem Stress für die Tierärzte assoziiert sein, weshalb bei Notschlachtungen Kommunikationskompetenz im Besonderen erforderlich ist. Im Rahmen des Fleischhygienekurses „Entscheidungen am lebenden Tier“ im 8. Fachsemester in Kooperation mit der Klinik für Klauentiere untersuchen die Studierenden in Kleingruppen unterschiedliche Rinder und beurteilen anschließend deren Transport- und Schlachtfähigkeit sowie, ob weitere 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 215

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Kommunikation und Didaktik ___________________________________________________________________________________________________________ Schlachtverfahren wie Schlachtungen im Herkunftsbetrieb oder Notschlachtungen möglich wären. In einer abschließenden Gruppendiskussion werden damit einhergehende ethische Dilemmata erörtert. So beispielsweise die Euthanasie von transportunfähigen, jedoch potenziell schlachtfähigen Tieren, wenn der Landwirt zum Beispiel keine Behandlung einer Lahmheit wünscht. Auch die Abgabe von Tieren zum Zwecke der Schlachtung, die sich im ersten oder zweiten Trächtigkeitsdrittel befinden – rechtlich nicht verboten, im Unterschied zum 3. Trächtigkeitsdrittel – wird diskutiert. In dem Seminar „Was macht das mit den Menschen? – Belastungen im Veterinäramt“ im 9. bzw. 10. Fachsemester im Track „Veterinary Public Health“ bringt ein leitender Veterinärdirektor Fälle aus seinem Berufsalltag aus dem Veterinäramt mit. So beispielsweise eine Tierfortnahme mit Todesfolge für den Tierhalter, eine Rinderbestandsräumung im Tuberkulosefall mit erkrankter Tierhalterin oder ein vernachlässigter Rinderbestand mit depressivem Tierhalter. Dabei rückt das Fachliche der Fälle in den Hintergrund. Vielmehr wird gemeinsam mit den Studierenden die Frage gestellt „Was macht das mit den Menschen?“ bzw., welche psychischen Konsequenzen sich aus den veterinärbehördlichen Maßnahmen für die Tierhalter, ggf. involvierte praktizierende Tierärzte sowie die amtlichen Tierärzte selbst ergeben können. Zum Ende der Veranstaltung werden Interventionsmaßnahmen bzw. Möglichkeiten der Superversion aufgezeigt und diskutiert. Kommunikation, ethische Aspekte und psychische Belastungen werden in unterschiedlichen Lehrformaten der VMF Leipzig thematisiert. Es erfolgt mindestens eine Sensibilisierung der Studierenden für diese Themen bis hin zur Vermittlung der entsprechenden Ersttagskompetenzen. Ein Ausbau entsprechender Lehrformate bzw. -inhalte im Tiermedizinstudium wäre wünschenswert. Literatur 1. European Association of Establishments for Veterinary Education. European system of evaluation of veterinary training: Manual of Standard operating procedures. Uppsala: EAEVE (2016): European system of evaluation of veterinary training: Manual of Standard operating procedures. Uppsala: EAEVE;. Online verfügbar unter https://www.eaeve.org/fileadmin/downloads/SOP/ESEVT__Uppsala__SOP_May_2016.pdf. 2. Bernigau, Dora; Ehlers, Jan P.; Gruber, Christian; Dilly, Marc; Bahramsoltani, Mahtab (2015): Status quo - Vermittlung von Veterinärmedizinischen Kommunikationskompetenzen an den deutschsprachigen Standorten. DVG-Vet-Congress (Proceedings Tagung des Arbeitskreises Didaktik & Kommunikationskompetenz). 3. Anonym (2006): Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen und Tierärzten vom 27. Juli 2006 (BGBl. I S. 1827), die zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1307) geändert worden ist vom 27.07.2006 (BGBl. I S. 1827). In: BGBl I, S. 1–29. Online verfügbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/tappv/TAppV.pdf, zuletzt geprüft am 28.04.2023. 4. Hernandez, Elein; Fawcett, Anne; Brouwer, Emily; Rau, Jeff; Turner, Patricia V. (2018): Speaking Up: Veterinary Ethical Responsibilities and Animal Welfare Issues in Everyday Practice. In: Animals: 8,15 S.1-22 (1). DOI: 10.3390/ani8010015. Thöne-Reineke, Christa; Hartnack, Sonja; Kunzmann, Peter; Grimm, Herwig; Weich, Kerstin (2020): Veterinärmedizinische Ethik in der universitären Lehre im deutschsprachigen Raum. In: Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift 2020, S. 1–5. DOI: 10.2376/0005-9366-19064. 5. 6. Pohl, Robert; Botscharow, Julia; Böckelmann, Irina; Thielmann, Beatrice (2022): Stress and strain among veterinarians: a scoping review. In: Ir Vet J 75 (1), S. 1-24. DOI: 10.1186/s13620-022-00220-x. 7. Konrad, Joshua-Noah; Friedrich, Anna (2022): Positionspapier Mental Health der Kooperation AG Mental Health des bvvd e. V. (Bundesverband der Veterinärmedizinstudierenden Deutschland) und des IVSA Germany e. V. (International Veterinary Students´ Association Germany). Online verfügbar unter http://www.bvvd.de/wp- content/uploads/2022/07/PositionspapierMentalHealth.pdf, zuletzt geprüft am 25.09.2023. 8. Anonym (2023): Vet-News: Mental Health - Vetivolution für die Tiermedizin! Thieme Vet. Online verfügbar unter https://vet.thieme.de/aktuelles/vet-news/detail/mental-health-vetivolution-fuer-die-tiermedizin-644, zuletzt aktualisiert am 21.06.2023, zuletzt geprüft am 25.09.2023. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichberechtigung grundsätzlich für alle Geschlechter. Dies hat lediglich redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Kontakt Dr. Philipp Rolzhäuser; Institut für Lebensmittelhygiene, Professur Fleischhygiene, Universität Leipzig philipp.rolzhaeuser@vetmed.uni-leipzig.de 216 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Übersicht und Update zu ECVM (Equinecomplex vertebral malformation) und ECRM (Equine cranial ribmalformations) Katharina Ros1, Christoph Mülling2 1Pferde Zahn Zentrum Döhle; 2Veterinär-Anatomsiches Institut, Universität Leipzig Im Pferdehals des modernen Reitpferdes finden sich häufig krankhafte, schmerzhafte Veränderungen (1). Gründe für die klinische Untersuchung des Halses und das Anfertigen von Ultraschall- und Röntgenbildern sind zumeist Schmerz der Halswirbelsäule (HWS), verminderte Beweglichkeit, neurologische Auffälligkeiten und Lahmheiten (2). Häufige Befunde sind Facettengelenksarthrosen, Gelenkknorpelveränderungen wie Osteochondrosis dissecans (OCD), Verkippungen der Wirbel gegeneinander (Divergenzen) und Cervical Vertebral Myeolpathy (CVM). CVM ist zu unterscheiden von ECVM (Equinecomplex vertebral malformation) (3). CVM ist ein Symptomkomplex, der anatomische Veränderungen der HWS zusammenfasst, die zu Druck auf das Rückenmark führen. Dadurch können Bewegungs-, Koordinationsstörungen, Ataxien und das Wobblersyndrom entstehen (4). Dazu kommen Veränderungen der Bänder, Muskeln und Weichteile, die zumeist mit Sonographie dargestellt werden. Die HWS des Pferdes besteht aus sieben Halswirbeln, wobei der 3.-5. Halswirbel sich in der Form und Größe ähneln. Die ersten zwei Halswirbel gehören zu den Kopfgelenken, der 6. und 7. Halswirbel sind unterschiedlich geformt und weisen besondere anatomische Merkmale auf. Der 6. Halswirbel (C6) besitzt zwei nach ventrokaudal verlängerte Knochenflügel (Laminae ventrales) der hinteren Seitenfortsätze (Proc. transversi) (5). Die Laminae ventrales haben die Größe einer halben Handfläche, präsentieren sich mit rauen Knochenoberflächen, die dem Ansatz eines starken autochtonen Muskels dienen, dem Musculus longus colli, Pars cervicis und Pars thoracis. Der M. longus colli, Pars thoracis inseriert im Sinne einer Elongationsinsertion (3). Eine Elongationsinsertion beschreibt eine Anheftung eines meist stark belasteten Muskels auf einer langen Fläche. Sind die Laminae verkürzt oder fehlen sie vollständig, kann der Muskel nur eingeschränkt ansetzen, und damit seine stabilisierende Funktion für den cervico- thoracalen Übergang nur eingeschränkt erfüllen. Normalerweise ist der 7. Halswirbel (C7) deutlich kürzer als der 6. Halswirbel, im unteren Bereich ist er „glatt“, dort findet sich normalerweise keine Muskelansatzfläche. Abb. 1: Skelett eines Pferdes. C6, C7 und 1. BW (T1) weiß umrandet. Nur C6 hat ventrale Laminae. Quelle: Christie Dreessen, Aldo Doveren. 218 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Was ist ECVM? Eine weitere häufige Veränderung der Halswirbelsäule wurde in Deutschland bisher wenig diagnostiziert, obwohl sie häufig vorkommt: ECVM (Equinecomplex vertebral malformation), zuerst publiziert von Sharon May- Davis 2014 (3). Diese Anomalie wird später auch als AVL C6: Abnormalities of the ventral laminae of C6 genannt (5) und ECCMV: Equine caudal cervical morphological variation (6) bezeichnet. Im Deutschen könnte man das vollständige Syndrom benennen als „fehlgeformte untere Halswirbelsäule“. ECRM (Equine cranial ribmalformation) beschreibt die Malformation, Reduktion oder das Fehlen der ersten Rippen und die Malformation der zweiten Rippen inclusive resultierende Veränderungen der ansetzenden Muskulatur (M. longus colli, pars cervicis, pars thoracis und Mm. scaleni) sowie verschiedener Nerven (N. phrenicus, Plexus brachialis)(3,6,7,8).Fast alle bisher veröffentlichten Studien waren retrospektiv organisiert und fokussierten sich entweder ausschließlich auf die Veränderungen des unteren Wirbelbereiches von C6 oder zum Teil auch C7, nicht jedoch auf die Veränderungen der ersten und zweiten Rippen und der Weichteilveränderungen. Eine einzige in 2017 publizierte Studie von May-Davis (8) beschreibt den Zusammenhang von ECVM und der Malformation bis hin zum Fehlen der ersten Rippen und der Malformation der zweiten Rippen und Veränderungen aller umgebenden Strukturen. ECVM und ECRM sind angeboren (kongenital) und werden voraussichtlich vererbt. Der Malformationskomplex ECVM kann sich unterschiedlich ausprägen. Einige Tiere zeigen 1. nur das ein- oder beidseitige teilweise bis vollständige Fehlen der unteren Laminae von C6 mit Asymmetrie des Wirbels 2. andere zeigen zusätzlich ein- oder beidseitige teilweise Transposition von Knochensubstanz bis zur vollständigen Präsentation beider Laminae am unteren C7, teilweise mit Deformation des ganzen Wirbels, wobei die Facettengelenke C6-C7 ungleich groß ausgebildet sein können 3. wenige präsentieren sich zusätzlich mit Veränderungen oder auch dem Fehlen der 1. Rippen oder der Deformation der 1. und 2. Rippen (ECRM). Zudem kann es sein, dass die ersten und zweiten Rippen nicht fest mit dem Brustbein verbunden sind (8). Abb. 2: Von links nach rechts: C6, C7, T1. Im weißen Kreis: ventrale Lamina von C6 fehlt einseitig. C7 ist normal. Quelle.: eigenes Röntgenbild Abb. 3: Von links nach rechts: C7, T1. Im großen, weißen Kreis: Transposition an C7. Im kleinen weißen Kreis: rudimentäre 1. Rippe. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 219

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Wenn die fehlende Lamina des relativ langen C6 durch eine „Ersatzlamina“ am C7 Halswirbel ersetzt wird, kann dort der Muskel longus colli auf einer kürzeren schmaleren Fläche nur eingeschränkt ansetzen. Wenn an C6 beide Laminae vollständig fehlen und am C7 vollständig ansetzen, erscheint der Pferdehals funktionell um einen Halswirbel verlängert. Abb 4: Pferd in der Sektion. Darstellung des Brusteinganges mit m. longus colli, Pars thoracis mit Ansatz seiner Sehne an die Lamina von C6: weißer Pfeil. Blaue Pfeile: M. longus colli. Foto: Christie Dreessen Der Musculus longus colli, Pars thoracis liegt der Halswirbelsäule und vorderen Brustwirbelsäule von unten an. Er ist im Durchmesser der größte Muskel an der unteren HWS, verbindet diese mit dem den vorderen Brustkorb und stabilisiert diesen Bereich. Der thorakale Anteil setzt an den ventralen Laminae von C6 an und zieht zum 5./6. Brustwirbel (9). Das umgebende Bindegewebe, Muskelansätze und der Verlauf von Nerven und Gefäßen sind bei ECVM verändert. Die Auswirkungen können beträchtlich sein, da auch der Nervus phrenicus verändert sein kann, woraus sich eine eingeschränkte Zwerchfellfunktion ergeben kann. Atemprobleme sind mögliche Folgen (3). Folgende Veröffentlichungen zu ECVM sind bisher erschienen: May-Davis (3,7,8), DeRouen (5), Veraa (10), Sanitelli (11), Beccati (4), Gee (6), Spoormakers (12), Kernot (13). Beccati et al. (4) ordnen ECVM als klinisch signifikant ein. 116 Pferde wurden untersucht. 24 Pferde waren von ECVM betroffen. Die Pferde mit ECVM sind bei gleicher Klasse an Facettengelenksarthrosen schmerzhafter im Hals und stärker in der Hals-Beweglichkeit eingeschränkt als Pferde ohne ECVM. ECVM im Zusammenhang mit mittlerer bis hochgradiger Vergrößerung der Facettengelenke der unteren Halswirbelsäule erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Pferde Schmerzen der HWS und Bewegungsstörungen bis hin zu Ataxie zeigen. Pferde mit ECVM hatten eine 4,7 mal höhere Wahrscheinlichkeit Schmerz der HWS zu zeigen als Pferde ohne ECVM und eine 8,2fach höhere Wahrscheinlichkeit spinale Ataxie zu zeigen als Pferde ohne ECVM. Die Kriterien für Schmerz im Halsbereich waren: Unfähigkeit vom Boden zu fressen, bodenweiter Stand der Vordergliedmaßen, Halsfixationen oder Vorhandlahmheiten, die nach Anästhesien der Facettengelenke verschwanden. In diese Studie war die Anzahl der Pferde mit Dysplasie der Facettengelenke mit ECVM signifikant höher als die von Pferden ohne ECVM. Der Musculus longus colli ist ein autochtoner Muskel mit starker propriozeptiver Innervation, der ventral der unteren Halswirbelsäule und vorderen Brustwirbelsäule anliegt (14). Asymmetrien entwickeln sich in der Muskulatur der Pferde, wenn sie nicht korrekt benutzt werden oder defizitär propriozeptiv innerviert werden (15). Der Grund für Halsschmerz könnte zusammenhängen mit posturalen oder lokomotiven Dysfunktionen durch den Einfluss des veränderten Muskeltonus über neuronale Wege bei Pferden mit ECVM (7). Aus diesen Gründen ist es möglich, dass Pferde mit ECVM und moderaten bis schweren Veränderungen der Facettengelenke arthrotische Veränderungen schlechter tolerieren können, weshalb sie schwerwiegendere Symptome entwickeln als Pferde ohne ECVM. 220 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Dies steht im Kontrast zu einer kürzlich erschienenen Studie (10), die berichtet, dass ECVM bei Warmblutpferden ohne klinische Relevanz ist. Allerdings wurde nur das Fehlen oder die Präsenz von degenerativen Veränderungen der Facettengelenke untersucht, nicht jedoch der Schweregrad der Veränderungen – wie in der vorliegenden Studie von Beccati et al. (4). Zudem wurde demonstriert, dass sich einige der Pferde mit ECVM und Transpositionen an C7 mit kongenitalen Malformationen der ersten Rippen präsentieren, wie Hypoplasien der ersten Rippen oder Verwachsung der ersten mit den zweiten Rippen (8). Das Vorkommen eines thoracicinletsyndromes, das beim Menschen beschrieben wird, kann bei diesen Pferden nicht ausgeschlossen werden als Ursache für Schmerzen der HWS. Insbesondere bei Pferden, die sich mit Vorhandlahmheiten ausgehend von der Halswirbelsäule präsentieren (8,15,17,18,19). Beccati et al. (4) schreiben: „Es wurde demonstriert, dass der an der Lamina von C6 ansetzende Muskel longus colli bei Pferden mit ECVM verändert ist. Daher ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ECVM zu biomechanischen Überlastungsverletzungen führt, extrem hoch.“ Gee et al.(6) schreiben: Die Malformation oder Variation C6 ist verbunden mit schlechter Leistungsfähigkeit, schmerzbedingten Verhaltensweisen und Lahmheiten. Wohlbefinden und Pferde-Reiter-Sicherheit sind eingeschränkt. De Rouen et al.(5) fanden bei 19 aus 55 Warmblutpferden ECVM. Pferde mit ECVM hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit Halsschmerz zu zeigen. Signifikant mehr Pferde mit ECVM zeigen eine intravertebral sagittal ratio von 0.5 an C6. Dies bedeutet der Rückenmarkskanal ist verengt und somit der Raum für das Rückenmark deutlich reduziert. Die Autoren vermuten, dass ECVM zudem zur dynamischen Verengung des Rückenmarkskanals beiträgt, da das Fehlen der ventralen Laminae die regionale Biomechanik beeinflusst. Sie vermuten, dass diese Pferde einen dynamischen Schmerz erfahren, den man mit Röntgendiagnostik nicht abbilden kann. Weiterhin veranschaulichen sie, wie der veränderte Muskelansatz stabilisierender Muskulatur zu veränderten biomechanischen Kräften, weiterhin zu Schmerzerfahrungen und einer verminderten Beweglichkeit des Halses führt. Sie empfehlen, die Malformation C6 etc. als klinisch relevant einzustufen (5). Sanitelli et al.(11) untersuchten 270 Pferde. Bei 13,3 % wurde die Transposition der Laminae von C6 auf C7 festgestellt. Der Fokus der Studie liegt in der Beschreibung der Form der Dornfortsätze (DSP) auf C7 und T1. Sie stellen den Zusammenhang zwischen ECVM und Formveränderungen bis zum Fehlen der DSP der „Übergangswirbel“ C7 und Formveränderungen der DSP von T1 fest. Transpositionen der ventralen Laminae verändert Muskelansätze der unteren Halsregion, dies führt möglicherweise zu Instabilitäten des cervico- thoracalen Übergangs (11). Abb 5: linke seitliche Ansicht von C7-T3. C7 mit vollständigen Transpositionen, 1. rechte Rippe rudimentär, 1. und 2. linke Rippe verwachsen. Quelle: eigenes Röntgenbild Kernot et al. (13) führten eine Metastudie durch über alle bisher publizierten Studien zu Veränderungen der unteren HWS (C5-7) und stellt über die Gesamtzahl der Fälle fest: ECCMV war assoziiert mit Schmerz der 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 221

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ HWS, Ataxie, propriozeptiver Dysfunktion, Lahmheiten der Vor- und Hinterhand und einem bodenweiten Stand der Vorderbeine. Literatur 1. MUNROE, G. A. (2009) The clinical examination In: Equine Back pathology, Diagnosis and Treatment Edited by Frances 2. M.D Henson; Wiley- Blackwell/ A John Wiley & Sons, Ltd., Publication. Levine JM, Ngheim PP, Levine GJ, et al. Associations of sex, breed, and age with cervical vertebral compressive myelopathy in horses: 811 cases (1974-2007). J Am VetMedAssoc 2008;233:1453–8. 3. May-Davis, S. The Occurrence of a Congenital Malformation in the Sixth and Seventh Cervical Vertebrae Predominantly Observed in Thoroughbred Horses. J. Equine Vet. Sci. 2014, 34, 1313–1317. 4. Beccati F, Pepe M, Sanitelli I, Gialletti R, Di Meo A, Romero JM. (2020). Radiographic findings and anatomical variations of the caudal cervical area in horses with neck pain and ataxia: case-control study on 116 horses. VetRecord 2020; 0: 1-11. doi: 19.1136/vr.105756. 5. DeRouen, A.; Spriet, M.; Aleman, M. Prevalence of anatomical variation of the sixth cervical vertebra and association with vertebral canal stenosis and articular process osteoarthritis in the horse. Vet. Radiol. Ultrasound 2016, 57, 253–258. 6. Gee et al. A radiographic technique for assessment of morphologic variations of the equine caudal cervical spine. Animals 2020, 10, 667. 7. May-Davis, S.; Walker, C. Variations and Implications of the Gross Morphology in the Longus colli Muscle in Thoroughbred and Thoroughbred Derivative Horses PresentingWith a Congenital Malformation of the Sixth and Seventh Cervical Vertebrae. J. Equine Vet. Sci. 2015, 35, 560–568. 8. May-Davis, S. Congenital Malformations of the First Sternal Rib. J. Equine Vet. Sci. 2017, 49, 92–100. 9. Rombach N, Stubbs NC, Clayton HM. Gross anatomy of the deep perivertebral musculature in horses. Am J Vet Res 2014;75:433–40. 10. Veraa, S.; de Graaf, K.;Wijnberg, I.D.; Back,W.; Vernooij, H.; Nielen, M.; Belt, A.J.M. Caudal cervical vertebral morphological variation is not associated with clinical signs in Warmblood horses. Equine Vet. J. 2020 52, 219–224. 11. Santinelli, I.; Beccati, F.; Arcelli, R.; Pepe, M. Anatomical variation of the spinous and transverse processes in the caudal cervical vertebrae and the first thoracic vertebra in horses. Equine Vet. J. 2015, 48, 45–49. 12. Spoormakers, JP, Veraa S, Graat EA, van Weeren PR, Brommer H. (2021) a comparative study of breed differences in the anatomical configuration of the equine vertebral column. J.ofAnatomy. 2021:239:829-838. DOI: 10.1111/joa.13456 13. Kernot, N.; Butler, R.; Randle, H.; Charles Sturt University, Wagga Wagga, New South Wales, Australia. A systematic review of clinical signs associated with degenerative conditions ans morphological variations of the equine caudal neck. J ofEqu.Vet Sc.2022, 116, 104054. 14. DENOIX, J.-M., DYSON, S. (2003) Thoracolumbar spine In: Diagnosis and Management of Lameness in the Horse 1st edn. Eds: M.W. Ross and S.J. Dyson W.B. Saunders, Philadelphia, Ch. 54, S. 509-521 15. Ridgway KJ. Upper thoracic fixation and hypomobility – more important than you think. in: North American veterinary conference 2007. Orlando, Florida, USA, 2007: 174–6. 16. Von Elm, E; Altman, DG; Egger, M; Pocock, SJ; Gøtzsche, PC; Vandenbroucke, JP. The strengthening the reporting of observational studies in epidemiology (STROBE) statement. Epidemiology 20 07;18:80 0–4 . 17. Withers, J.M.; Voute, L.C.; Hammond, G.; Lischer, C.J. Radiographic anatomy of the articular process joints of the caudal cervical vertebrae in the horse on lateral and oblique projections. Equine Vet. J.2009, 41(9), 895-902.doi: 10.2746/042516409x434107. 18. DENOIX, J.-M. (1999) Lesions of the vertebral column in poor performance horses In: Proceedings of the World Equine Veterinary Association Symposium, Paris, S. 99-107 Kontakt Dr. Katharina Ros; Pferde Zahn Zentrum Döhle, Egestorf-Döhle info@pzz-doehle.de 222 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Yes- or No-Motion... das ist hier die Frage: Die equine obere Halswirbelsäule in Bewegung Franziska C. Wagner1, Lisa M. Borchard1, Nadine Blum2, Christoph K. W. Mülling1, Jenny Hagen1 1Veterinär-Anatomisches Institut, Veterinärmedizinische Fakultät, Universität Leipzig, Leipzig; 2Tierklinik Lüsche, Bakum Einleitung Im klinischen (1, 2) als auch reiterlichen Kontext (3) kommt der oberen Halswirbelsäule des Pferdes eine besondere Relevanz zu. Die Biomechanik der Kopfgelenke steht im engen Zusammenhang mit sportlicher Leistungsfähigkeit, Pathologien und Tierwohl. Bisherige Bewegungsdaten dieser Region wurden bisher ex vivo (4), statisch (5–9) oder indirekt (10–12) erhoben. Die vollständige, dreidimensionale Bewegung des equinen Atlantookzipital- und Atlantoaxialgelenkes in vivo wurde mittels biplanarer Hochfrequenz-Fluoreszenz- Kinematografie (FluoKin) während der Fortbewegung im Schritt und Trab untersucht (Borchard et al. unveröff. Daten). FluoKin ist der aktuelle Goldstandard für nicht-invasive Kinematikanalysen bei Mensch und Tier (13, 14). Funktionelle Anatomie und Biomechanik Das Kopf-Hals-Segment übernimmt während der Fortbewegung des Pferdes eine Funktion als Balancierstange (15). Dabei zeichnet sich die Halswirbelsäule durch vielseitige und komplexe Bewegungsmuster aus, was sie zum beweglichsten Abschnitt der Wirbelsäule macht (16). Die Hauptbewegungen der Halswirbelgelenke sind die dorsoventrale Flexion und Extension (FE), die axiale Rotation (AR) und laterale Biegung (LB) (4, 17) (Tab. 1). Stark limitiert sind auch vertikale und transversale Scherbewegungen sowie longitudinale Kompression und Extension (4, 18). Tabelle 1: Ex-vivo-Bewegungsumfang Laterale Biegung Axiale Rotation Dorsoventrale Flexion und Extension 86,4° 16° 27° 107,5° 44° 3,9° Atlantookzipitalgelenk (4) Atlantoaxialgelenk (4, 39) Im Schritt, einer symmetrischen Viertaktgangart (19), schwingen Kopf und Widerrist vertikal in einem sinusoidalen Bewegungsmuster (20). Loscher et al. (21) zeigten, dass diese Bewegungen innerhalb des Schrittzyklus phasenversetzt auftreten und von energetischem Vorteil sind. Von besonderer Relevanz für diesen Effekt ist dabei das Nackenband (22, 23). Elektromyografische Studien zeigten, dass der M. splenius den Kopf anhebt und streckt (24) und beidseits während der Hauptstützphase jeder Vordergliedmaße kontrahiert (25, 26). Beim gerittenen Pferd wurde zusätzlich eine dazu entgegengesetzte Aktivität des M. sternomandibularis vor und während der ersten Hälfte der Stützbeinphase jeder Vordergliedmaße gemessen (24, 26). Die Bewegungsumfänge der oberen Halswirbelgelenke sind in Tab. 2 dargestellt. Tabelle 2: Errechnete Bewegungsumfänge im Schritt (10) Laterale Biegung Axiale Rotation Dorsoventrale Flexion und Extension 4,1° ± 2,4° 10,1° ± 8,7° 1,3° ± 0,4° 6,9° ± 2,4° 2,6° ± 0,7° 2,9° ± 1,1° Atlantookzipitalgelenk Atlantoaxialgelenk 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 223

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Auch im Trab, einer diagonal koordinierte Zweitaktgangart (27), vollführen Kopf und Hals eine sinusoidale Bewegung mit zwei vertikalen Schwingungen pro Schrittzyklus (20, 28–30, Borchard et al. unveröff. Daten). Mit steigender Geschwindigkeit nimmt die Amplitude ab und der Kopf wird in einer höheren Position getragen (30, 31). Der M. splenius kontrahiert im Trab früher als im Schritt: jeweils vor dem Auffußen der Vordergliedmaße bis zur Mitte der Stützbeinphase (25, 26, 28, 30). Durch seine Funktion als Antischwerkraftmuskel stabilisiert er das Halssegment (24, 28) und streckt ihn (25). Eine In-vivo-Studie zeigte, dass im Trab der Bewegungsumfang der dorsoventralen Flexion und Extension im Atlantookzipitalgelenk um 61 % und im Atlantoaxialgelenk um 34 % geringer waren als diese im Schritt (Borchard et al. unveröff. Daten). Klinischer Kontext Funktionelle Anatomie und Biomechanik bilden die Grundlage, um den Einfluss von pathologischen Veränderungen zu verstehen. Zu Pathologien, welche den Bewegungsumfang beeinträchtigen, zählen Frakturen, (Sub-) Luxationen, Genickbeule, Insertionsdesmopathie des Nackenbandes, Infektion des Atlantookzipitalgelenkes und okzipitoatlantoaxiale Malformationen. Aber auch Lahmheiten verändern das Bewegungsmuster des Kopf-Hals-Segmentes (20, 29, 32). Während der reiterlichen Nutzung wird über den Zügel erheblichen Einfluss auf die Kopf-Hals-Position genommen (16). Dies wiederum beeinflusst die Kinematik der Halswirbelsäule, des Rückens und der Gliedmaßen (3, 26, 33–38). Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. Brehm W, Nowak M, Rijkenhuizen A, Tietje S. Krankheiten des Schädels, des Genicks, des Halses, des Widerrists, der Wirbelsäule und des Beckens. In: Brehm W, Gehlen H, Ohnesorge B, Wehrend A, Hrsg. 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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. van Weeren R. Kinematics. In: Henson FMD, Hrsg. Equine neck and back pathology: diagnosis and treatment. Second edition. Hoboken, NJ: Wiley Blackwell; 2018. S. 49–71. Barrey E. Gaits and interlimb coordination. In: Back W, Clayton HM, Hrsg. Equine locomotion. Second edition. Edinburgh: Saunders Elsevier; 2013. S. 85–97. Buchner HH, Savelberg HH, Schamhardt HC, Barneveld A. Head and trunk movement adaptations in horses with experimentally induced fore- or hindlimb lameness. Equine Vet J 1996; 28(1):71–6. doi: 10.1111/j.2042- 3306.1996.tb01592.x. Loscher DM, Meyer F, Kracht K, Nyakatura JA. Timing of head movements is consistent with energy minimization in walking ungulates. Proc. R. Soc. B. 2016; 283(1843):20161908. doi: 10.1098/rspb.2016.1908. Gellman KS, Bertram JEA. The equine nuchal ligament 2: passive dynamic energy exchange in locomotion. Vet Comp Orthop Traumatol 2002b; 15(01):7–14. doi: 10.1055/s-0038-1632706. Gellman KS, Bertram JEA. The equine nuchal ligament 1: structural and material properties. Vet Comp Orthop Traumatol 2002a; 15(01):1–6. doi: 10.1055/s-0038-1632705. Wolschrijn C, Audigé F, Wijnberg ID, Johnston C, Denoix J-M, Back W. The neck and back. In: Back W, Clayton HM, Hrsg. Equine locomotion. Second edition. Edinburgh: Saunders Elsevier; 2013. S. 199–227. Zsoldos RR, Kotschwar AB, Kotschwar A, Groesel M, Licka T, Peham C. Electromyography activity of the equine splenius muscle and neck kinematics during walk and trot on the treadmill. Equine Vet J Suppl 2010; (38):455–61. doi: 10.1111/j.2042-3306.2010.00263.x. Tokuriki M, Aoki O. Neck muscle activity in horses during locomotion with and without a rider. Equine Exercise Phyiology 1991; (3):146–50. Back W, Clayton HM, Hrsg. Equine locomotion. Second edition. Edinburgh: Saunders Elsevier; 2013. Verfügbar unter: https://katalog.ub.uni-leipzig.de/Record/0-1603453695. Robert C, Valette JP, Denoix JM. The effects of treadmill inclination and speed on the activity of three trunk muscles in the trotting horse. Equine Vet J 2001b; 33(5):466–72. doi: 10.2746/042516401776254745. Vorstenbosch MA, Buchner HH, Savelberg HH, Schamhardt HC, Barneveld A. Modeling study of compensatory head movements in lame horses 1997; 58(7):713–8. Robert C, Valette JP, Pourcelot P, Audigié F, Denoix JM. Effects of trotting speed on muscle activity and kinematics in saddlehorses. Equine Vet J Suppl 2002; (34):295–301. doi: 10.1111/j.2042-3306.2002.tb05436.x. Peham C, Licka T, Mayr A, Scheidl M. Individual speed dependency of forelimb lameness in trotting horses. Vet J 2000; 160(2):135–8. doi: 10.1053/tvjl.2000.0483. Bragança FM Serra, Hernlund E, Thomsen MH, Waldern NM, Rhodin M, Byström A et al. Adaptation strategies of horses with induced forelimb lameness walking on a treadmill. Equine Vet J 2021; 53(3):600–11. doi: 10.1111/evj.13344. Egenvall A, Byström A, Roepstorff L, Rhodin M, Weishaupt MA, van Weeren R et al. Withers vertical movement asymmetry in dressage horses walking in different head-neck positions with and without riders. Journal of Veterinary Behavior 2020; 36:72–83. doi: 10.1016/j.jveb.2019.10.010. Rhodin M, Byström A, Roepstorff L, Hernlund E, van Weeren PR, Weishaupt MA et al. Effect of different head and neck positions on kinematics of elite dressage horses ridden at walk on treadmill. Comparative Exercise Physiology 2018; 14(2):69–78. doi: 10.3920/CEP180002. Kattelans A, Lange C, Rohn K, Stadler P. Kinetic and kinematic analysis of the influence of different head and neck position on biomechanics of the warmblood. PHK 2013; 29(1):6–13. doi: 10.21836/PEM20130102. Rhodin M, Gómez Alvarez CB, Byström A, Johnston C, van Weeren PR, Roepstorff L et al. The effect of different head and neck positions on the caudal back and hindlimb kinematics in the elite dressage horse at trot. Equine Vet J 2009; 41(3):274–9. doi: 10.2746/042516409x394436. Weishaupt MA, Wiestner T, Hogg HP, Jordan P, Auer JA. Compensatory load redistribution of horses with induced weight-bearing forelimb lameness trotting on a treadmill. Vet J 2006; 171(1):135–46. doi: 10.1016/j.tvjl.2004.09.004. Gómez Alvarez CB, Rhodin M, Bobber MF, Meyer H, Weishaupt MA, Johnston C et al. The effect of head and neck position on the thoracolumbar kinematics in the unridden horse. Equine Vet J Suppl 2006; (36):445–51. doi: 10.1111/j.2042-3306.2006.tb05585.x. Plassmann J. Evaluation des Behandlungserfolges von Injektionen in die Facettengelenke der Halswirbelsäule bei Pferden mit Halwirbelsäulenarthrose; 2007 [Stand: 21.04.2021]. Kontakt Dr. Franziska Wagner; Veterinär-Anatomisches Institut, An den Tierkliniken 43, 04103 Leipzig franziska.wagner@vetmed.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 225

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Myofaszial bedingte Rückenschmerzen beim Pferd Alice Manders Pferdepraxis Dr. Manders, Fuchshain Vorkommen von Rückenschmerzen beim Pferd Rückenschmerzen sind bei Sportpferden einer der Hauptgründe für eine Leistungsminderung (1, 2). Dabei sind Pferde aller Rassen und Altersklassen betroffen (1). Weichteilläsionen sind bei einem großen Anteil der betroffenen Pferde ursächlich (1, 3). Diese treten vor allem im Bereich des Widerrists und der hinteren Sattellage auf (1). Eine häufige Ursache ist eine fehlerhafte Sattelpassform (1, 4). Auch ein zu schwerer oder nicht balanciert sitzender Reiter verursacht eine verstärkte Belastung des Pferderückens (5). Wird das Pferd nicht biomechanisch korrekt gearbeitet, kann dies ebenfalls Rückenschmerzen verursachen. Physiologie des Schmerzes Muskel- und Faszienschmerzen werden durch die Erregung von Nozizeptoren ausgelöst und im ZNS verarbeitet (6). Als Reaktion darauf werden Schutzreflexe, eine Änderung der Aktivität des vegetativen Nervensystems, eine veränderte Motorik und veränderte affektive Reaktionen ausgelöst (7). Neben einer veränderten Tätigkeit der Rückenmuskulatur kommt es lokal zu einer reduzierten Durchblutung. Das Pferd begibt sich in eine Schonhaltung, die nicht nur die Konformation und Kinematik des Pferderückens, sondern über deren myofasziale Verbindungen auch die Funktion der Gliedmaßen betrifft (8). Manche Pferde zeigen eine „Gehunlust“, andere „rennen unter dem Reiter weg“. Biomechanische Folgen von myofaszial bedingten Rückenschmerzen Die Stabilität der Wirbelsäule wird durch die Körperstammmuskulatur (Mm. multifidi, Mm. intertransversarii) gewährleistet. Dabei handelt es sich um kurze, tief liegende Muskeln, die zwischen wenigen benachbarten Wirbelsegmenten verlaufen und die Bewegungen der Wirbelkörper gegeneinander stabilisieren. Durch ihren hohen Gehalt an Propriozeptoren sorgen sie für eine ständige Anpassung der Wirbelsäule an statische oder dynamische Gegebenheiten. Die oberflächlich gelegenen Brust- und Bauchmuskeln auf der ventralen sowie die Rückenmuskeln auf der dorsalen Seite des Rumpfes und verlaufen über lange Strecken. Sie wirken daher global auf die Brust- und Lendenwirbelsäule bei Beugung, Streckung und Seitwärtsbiegung. Eine lokal begrenzte Wirkung auf einzelne Wirbelkörper können sie nicht vermitteln (8-10). Eine unzureichende Spannung der ventralen Muskelkette führt zu einer vermehrten Streckung der Brustwirbelsäule, da die Baucheingeweide einen starken Zug auf die Wirbelsäule ausüben. Bei einer unzureichenden Stabilisierung der Wirbelsäule durch die in den Facettengelenken, welche zur Entstehung entzündlicher Veränderungen beitragen können. Die Mm. multifidi atrophieren bei Rückenschmerzen oder Inaktivität sehr schnell, ein Aufbau dieser Muskulatur im Rahmen der Rehabilitation ist sehr langwierig (10). Um eine Inaktivität der Mm. multifidi zu kompensieren, nimmt die Spannung des tiefe Muskelschicht kommt es während der Bewegung zu kleinsten Verschiebungen M. longissimus dorsi zu (11). Dies führt zu einer globalen Versteifung, d.h. einem Feststellen der gesamten Wirbelsäule (10). Der M. longissimus dorsi hat einen hohen Gehalt an Typ II Fasern, d.h. er ist ein Bewegungsmuskel, der große Kräfte entwickeln kann, aber schnell ermüdet (12). Dabei entstehen im Muskel vermehrt Protonen (H+). Diese wirken neben anderen Entzündungsmediatoren (Bradykinin, Serotonin, Prostaglandine) und Neuropeptiden auf die Nozizeptoren im Muskel (6). Bei einer schmerzhaften Muskelreizung kommt es im Rahmen eines polysynaptischen Reflexes zu einer Hemmung des schmerzenden Muskels und zur Aktivierung des Antagonisten (6). Daraus folgt eine Abnahme der Kraft und Geschwindigkeit der Bewegung. Die Wirbelsäule kann nicht mehr in ihrem vollen Bewegungsausmaß zwischen flexorischer und extensorischer Einstellung schwingen. Wenn der Rücken nicht mehr biomechanisch korrekt arbeitet, kann die ihn bewegende Muskulatur atrophieren (8). Ist der M. longissimus aufgrund von Inaktivität oder Verspannungen verkürzt, hat dies auch einen Einfluss auf die Beckenposition und die Gliedmaßenbewegung. Nach kaudal ist der M. longissimus lumborum aponeurotisch mit dem M. glutaeus medius verbunden. Durch seinen Ansatz am 226 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Trochanter major ossis femoris ist der M. glutaues medius der stärkste Strecker des Hüftgelenks. Während der Vorführphase der Beckengliedmaße wird er gedehnt. Ist die Dehnfähigkeit der oberflächlichen dorsalen Muskelkette eingeschränkt, verkürzt sich der Raumgriff der Hinterhand (8). Tritt dies nur einseitig auf, zeigen die Pferde Taktstörungen („Kurz-Lang“), Einschränkungen in der Längsbiegung und Schwierigkeiten in den Seitengängen. Da die Flexion des lumbosakralen Überganges ebenfalls eingeschränkt ist, zeigen die betroffenen Pferde oft einen hasenartigen Galopp, der durch ein unzureichendes Unterspringen der Hintergliedmaße unter den Rumpf gekennzeichnet ist. Über die Verbindung des M. longissimus cervicis mit der unteren Halswirbelsäule trägt dieser zur Stabilisierung des zervikothorakalen Überganges (CTÜ) bei. Ist die Oberlinie verkürzt, kann dies auch zu einer verstärkten Extension der unteren Halswirbelsäule führen. Dadurch wird die Beweglichkeit des CTÜ bei Flexion und Seitneigung eingeschränkt. Der Brustkorb sackt zwischen den Schulterblättern ab und wird nicht mehr elastisch abgefedert (8). Der Pferde stützen sich vermehrt über die Vorhand ab. Dies führt zu einer Überlastung des M. brachiocephalicus, des wichtigsten Vorführers der Schultergliedmaße. Ist er verkürzt oder verspannt, ist die Stützbeinphase verkürzt. Über eine Funktionsstörung des M. latissimus dorsi, dem wichtigsten Rückführer der Schultergliedmaße, wird die Vorführphase eingeschränkt. Da der M. latissimus dorsi aus der Fascia thoracolumbalis entspringt, nehmen myofaszial bedingte Rückenschmerzen unmittelbar Einfluss auf das Bewegungsausmaß der Schultergliedmaße. Umbauprozesse der Fascia thoracolumbalis infolge chronischer Überlastung, z.B. durch schlechte Körperhaltung oder skelettale Dysbalancen, sind bei Menschen beschrieben (13). Für das Pferd fehlt diese Forschung bislang. Klinische Diagnostik Zur Diagnostik myofaszial bedingter Rückenschmerzen eignet sich vor allem die Palpation (11). Neben Schmerzanzeichen können Kontrakturen wahrgenommen oder Triggerpunkte untersucht werden. Globale und segmentale manuelle Funktionstests sind hilfreich für die spezifische Schmerzlokalisation. Die Beurteilung der Ausrüstung, der Einwirkung des Reiters sowie der Methodik des Trainings sind häufig zielführend. Darüber hinaus können Lokalanästhesien oder bildgebende Verfahren (Röntgen, Sonographie, Thermographie) sowie eine dynamische Satteldruckmessung aussagekräftig sein. Therapie In vielen Fällen kann eine symptomatische Therapie mit lokal applizierten schmerzlindernden und entzündungshemmenden Medikamenten (Kortikosteroide, Lokalanästhetika) helfen, den Reflexbogen des Schmerzes zu durchbrechen und eine gezielte Rehabilitation erst zu ermöglichen. Der Einsatz von ist aus arzneimittelrechtlicher Sicht gut abzuwägen. Um die Muskelrelaxantien und Steroiden Geweberegeneration zu unterstützen, eignen sich durchblutungsfördernde Anwendungen (z.B. Wärmeapplikation). Manuelle Therapien wie Physiotherapie, Osteopathie oder Chiropraxis helfen ebenfalls, die Durchblutung des Gewebes anzuregen und die Dehnbarkeit der Muskulatur wiederherzustellen. Zahlreiche apparative Methoden (z.B. Magnetfeldtherapie, lokale Vibrationstherapie) stehen unterstützend zur Verfügung. Akkupunktur, Taping oder Schröpftherapie kommen ebenfalls zum Einsatz. Für einen langfristigen Therapieerfolg ist eine Kausaltherapie erforderlich. Die Ursachen wie eine fehlerhafte Reitweise oder ein unpassender Sattel müssen abgestellt werden. Mit spezifischen Trainingsprogrammen wie z.B. dynamischen Mobilisationsübungen können die Muskelketten korrekt aktiviert und aufgebaut werden (14, 15). Bei richtiger Ausführung eignen sich Schritt- und Galopparbeit aufgrund kinematischer Zusammenhänge gut dazu, die Rückenmuskulatur zu stärken. Da sich ein hoher Sympathikotonus negativ auf die Durchblutung auswirkt, ist eine Stressreduktion insbesondere beim Training wichtig für einen effektiven Muskelaufbau. Durch eine gezielte Fütterung kann man den Muskelaufbau positiv unterstützen. Take Home Message Myofaszial bedingte Rückenschmerzen treten häufig bei Reitpferden auf und haben umfassende Auswirkungen auf den gesamten Bewegungsapparat. Ihre Therapie stellt den Tierarzt vor die Herausforderung, die Ursachen zu erkennen und multimodale Behandlungsansätze zielgerichtet zu kombinieren. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 227

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Literatur 1. Mayaki AM, Intan-Shameha AR, Noraniza MA et al. Clinical investigation of back disorders in horses: a retrospective study (2002-2017) Vet World. 2019;12(3):377–381. 2. Sardari K. Back pain: a significant cause of poor performance in show jumping horses (diagnostic challenge and treatment). Iran J Vet Surg. 2008;5(2):163–169. Jeffcott LB. Disorders of the thoracolumbar spine of the horse--a survey of 443 cases. Equine Vet J. 1980;12(4):197–210. 3. 4. Greve L, Dyson S. Saddle fit and management: An investigation of the association with equine thoracolumbar asymmetries, horse and rider health. Equine Vet. J. 2015;47(4):415–421. 5. Dyson S, Ellis AD, Mackechnie-Guire R et al. The influence of rider: horse bodyweight ratio and rider-horse-saddle fit on equine gait and behaviour: A pilot study. Equine et Educ. 2020;32(10):527-539. 6. Mense, S: Muskeln, Faszien und Schmerz. Stuttgart: Thieme Verlag; 2021. S. 25-77. 7. Breves, G, Diener, M, Gäbel, G: Physiologie der Haustiere, 6. Aufl. Stuttgart: Thieme Verlag; 2022. S. 74-79. 8. Schultz RM, Due T, Elbrønd VS: Equine Myofascial Kinetic Lines for Professionals. Dänemakr: Fascialines.com Aps; 2021. S. 43-53. 9. Denoix JM. Spinal biomechanics and functional anatomy. Vet Clin N Am. 1999;15:27–60. 10. Clayton HM. Core Training and Rehabilitation in Horses. Vet. Clin. North Am. Equine Pract. 2016;32(1):49–71. 11. Munroe GA. The investigation of back pathology: the clinical examination. In: Henson MD, editor. Equine back pathology: diagnosis and treatment. Blackwell publishing; 2009. S. 63-73. 12. Hyytiäinen HK, Mykkänen AK, Hielm-Björkman AK et al. Muscle fibre type distribution of the thoracolumbar and hindlimb regions of horses: relating fibre type and functional role. Acta Vet Scand. 2014;56(1):8: 13. Langevin HM, Fox JR, Koptiuch C et al. Reduced thoracolumbar facia shear strain in human chronic low back pain. BMC Musculoskeletat. Disord. 2011;12:203. 14. de Oliveira K, Soutello RVG, da Fonseca R et al. Gymnastic training and dynamic mobilization exercises improve stride quality and epaxial muscle size in therapy horses. J Equine Vet Sci. 2015;35:888-93. 15. Stubbs NC, Kaiser LJ, Hauptman J et al. Dynamic mobilization exercises increase cross sectional area of musculus multifidus. Equine Vet J. 2011;43:522-9. Kontakt Dr. Alice Manders; Pferdepraxis Dr. Manders, Fuchshain info@pferdepraxis-manders.de 228 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Apikale Zementhypoplasie - klinische Relevanz Frank Schellenberger Waldkirch Das Pferd als Herbivor hat einen Zahnaufbau, der dieser Ernährungsweise bestmöglich gerecht wird. Das Zerkleinern der Zellulosestruktur mit dem häufig aufgelagerten Staub und dem zusätzlich enthaltenen Kiesel bedingt eine sehr starke Abrasion des Zahnmaterials. Die brachydonten Zähne der Omni- und Carnivoren würden bei dieser Belastung in sehr kurzer Zeit verschlissen sein. Der hypsodonte Zahnaufbau der Herbivoren mit seiner Reservekrone ist diesen Anforderungen wesentlich besser gewachsen. Die Oberkiefer-Molaren weisen eine weitere morphologische Besonderheit auf. Im Zentrum des Zahnes gibt es eine mesiale und eine distale Schmelzeinstülpung, die mit einer weicheren Substanz, dem Zahnzement, verfüllt ist. Diese Struktur wird Infundibulum genannt. Das funktionale Ergebnis dieser Morphologie ist eine Kaufläche, auf der harte und weiche Substanzen nebeneinander liegen und durch ihre unterschiedliche Abnutzung eine sich selbst nachschärfende, raue Kaufläche bilden, die trotz fortwährender Abnutzung eine gleichbleibende funktionale Struktur aufweist. Die Verfüllung des Infundibulumtrichters mit Zahnzement erfolgt im Zuge der Zahnbildung von okklusal. Damit ist der Zeitraum, in dem dieser Prozess erfolgt, zeitlich sehr eng limitiert. Wenn der Zahn in die Maulhöhle durchbricht und in Reibung kommt, ist dieser Prozess abgeschlossen und eine Korrektur von Störungen in der Entwicklungsphase ist nicht mehr möglich. Die Zeitfenster sind für jeden Zahn der Zahnreihe, je nachdem wann der einzelne Zahn durchbricht, etwas verschieden. Der erste permanente Zahn, der diese Entwicklung abgeschlossen hat, ist der M1 des Oberkiefers (09 entsprechend der modifizierten Triadan Numerierung). Dieser Zahn erscheint mit reichlich einem Jahr in der Maulhöhle, und die äußere Zahnbildung (komplette Reservekrone mit Infundibulum) ist zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Die Wurzel- und Sekundärdentinbildung setzt sich dagegen im weiteren Verlauf des Lebens fort und ist für Störungen weniger anfällig. Die anderen Oberkiefer-Molaren folgen bis zum Alter von ca 4,5Jahren. Abb. 2: Histologische Darstellung eines Infundibulums (M1 eines 2jährigen Pferdes) mit apikaler Schmelz- und Zementhypoplasie, Zoller (1) Abb. 1: CT- Querschnitt eines 209 mit apikaler Zementhypoplasie Der M1 als erster permanenter Zahn in diesem Prozess, hat die kürzeste Zeit der Zahnbildung, die gleichzeitig noch in die sensible Phase des Absetzens des Fohlen von der Mutter fällt, welche eine Umstellung der Ernährung zur Folge hat. Dies hat ähnlich wie beim Menschen zur Folge, dass gerade dieser Zahn (M1) 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 229

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ am häufigsten Störungen in der Zahnbildung aufweist und aus diesem Grund besonders anfällig für spätere Folgeschäden ist (Abb. 1, Abb. 2) Die häufigste auftretende Bildungsstörung ist eine apikale Zement- und Schmelzhypo-/aplasie. Das Charakteristische dieser Störung ist eine mangelhafte Qualität bis hin zu Nichtexistenz der entsprechenden funktionalen Strukturen in der Tiefe des Infundibulumtrichters. Da diese Strukturen die Grenzschicht zwischen Maulhöhle und der sensiblen Pulpa darstellen, bedingt eine mangelhafte Qualität derselben gleichzeitig ein erhöhtes Risiko einer Infektion der Pulpa mit einem nachfolgenden Absterben dieser. Dieser Prozess ist besonders in jungen Jahren (4-12Jahre) eine häufige Ursache von Zahnschmerzen bis hin zu kompletten Vereiterungen. Die Diagnose der Pathogenese ist zu diesem Zeitpunkt in der Regel nicht möglich, da auf der Kaufläche in dieser Phase der Entwicklung nur sehr geringgradige Veränderungen zu sehen sind (Größe des Blutgefäßkanales im Zentrum des Infundibulumtrichters). Das Ausmaß der Störung in der Tiefe des Trichters ist lediglich im CT zu erahnen oder beim Aufsägen des Zahnes nach der Extraktion zu sehen. Der Großteil dieser Zahnbildungsstörungen wird vom Organismus mehr oder weniger gut durch spätere intensive Sekundärdentinbildung kompensiert, so dass man auf dem CT bei einer großen Anzahl von Pferden diese Störung diagnostizieren kann, diese aber keine signifikante klinische Relevanz hat. Es existieren noch keine Zahlen darüber, wie hoch der Anteil der Fälle mit apikaler Zement- und Schmelzhypoplasie mit manifesten klinischen Folgen ist (Zahnschmerzen bis hin zu Zahntod). Eine vorläufige empirische Schätzung liegt bei ca. 5-10 %. In späterem Alter (ab ca. 12 J) eröffnet sich der im Zuge der Entwicklungsstörung entstandene Hohlraum infolge des kontinuierlichen Zahnabriebs zur Maulhöhle hin und füllt sich mit Futter. In dieser Phase der Entwicklung wird dieser Befund in der Regel als Infundibularkaries bezeichnet. Auch wenn die schlechte Qualität des mangelhaft gebildetes Zahnmaterials anfällig ist für zusätzliche, den Zahn schädigende kariöse Prozesse (Säureeinwirkung), und die Strukturen in dieser Zeit rein äußerlich wie eine primäre Karies erscheinen, kann es bei dieser Sichtweise zu einem Fehlurteil hinsichtlich der Progredienz führen. Das Problem ist sehr alt und schreitet nur sehr langsam fort. Es besteht in der Regel kein akuter Handlungsbedarf. Eine die Pulpa betreffende Infektion ist in diesem Stadium der Entwicklung vergleichsweise sehr selten. Dagegen ist jedoch eine sagittale Fraktur des Zahnes in dieser Phase möglich (Abb. 3, Abb. 4). Eine Extraktion wird so ebenso nötig, wie nach einer Infektion. Die Ursachen für die Fraktur sind zum einen die reduzierte mechanische Stabilität und zum anderen der Druck, der durch das Einpressen des Futters zustande kommt. Abb. 3: 109 mit hgr. AZH/ Infundibular- karies (fraktur- gefährdet) Abb. 4: 109 mit sagitaler Fraktur infolge einer AZH/ Infundibular- karies Wie kann man mit einfachen Mitteln feststellen, wann eine Intervention medizinisch sinnvoll ist? Das Entfernen des Futters aus den Hohlräumen bis zum Infundibulumtrichtergrund und eine Tiefenbestimmung mit einer einfachen Sonde sind sehr aufschlussreich. Trichter mit einer Tiefe ab 15 mm sind signifikant gefährdet für eine Fraktur. Dieser Wert wurde aus der Untersuchung einer Reihe von frakturierten Zähnen ermittelt. Gemessen an der Häufigkeit des Auftretens der "Infundibularkaries" ist die Anzahl der wirklich gefährdeten Zähne wieder eher gering - empirisch geschätzt maximal ca. 5-10 %. Was kann man mit den gefährdeten Zähnen tun, um sie vor einer Fraktur zu schützen? Eine Zahnfüllung ist hier eine angemessene Methode. Dabei ist jedoch darauf zu achten, maximal substanzschonend zu arbeiten, 230 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ da es sich am Ende primär um einen mechanischen Schutz handelt. Eine Gefahr des Fortschreitens der Karies wie in der Humanmedizin stellt aus der Sicht des Autors keine relevante Gefahr für den equinen Zahn dar und ein übermäßig intensives Ausbohren der "kariösen" Substanz hat leicht zahnschädigende Folgen und sollte daher nur mit sehr viel Bedacht durchgeführt werden. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Aufzucht der Fohlen den Grundstein für die Probleme im späteren Lebensalter legt. Unter Umständen ist ein späteres Absetzen der Fohlen eine sinnvolle Option, die auf ihren Wert geprüft werden sollte. Eine Verbesserung der Qualität der Aufzucht wird sich wahrscheinlich ebenso positiv auf die Entwicklung von Knochen und Gelenken auswirken und erscheint aus diesem Grund eine wirklich nachhaltige Investition. Die Schwierigkeit bei der Beurteilung des Wertes ist jedoch, dass zum Zeitpunkt des Kaufes/Verkaufes des Pferdes die Qualität/der Mangel in aller Regel verdeckt ist und so eine objektive Risiko-Beurteilung zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht möglich ist. Literatur 1. Zoller E, Mikroskopische Untersuchung der Pferdezähne und ihrer Umgebung [Dissertation]. Vetsuisse Fakultät Universität Zürich; 2020 Kontakt Dr. Frank Schellenberger, Waldkirch frank@pegasos4d.eu 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 231

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Praxisrelevante anatomische Besonderheiten des Alpakas - von Kopf bis Fuß Sarah Grund Tierarztpraxis Dr. Sarah Grund, Pockau-Lengefeld Einleitung Alpakas sind Säugetiere – klar! Demnach entsprechen auch der Körperbau und die inneren Organe dem von Säugetieren. Dennoch weisen diese Klein- bzw. Neuweltkamele einige anatomische Besonderheiten auf, die sie von unseren üblichen europäischen Haustieren unterscheiden. Die Kenntnis über diese Besonderheiten hat oft weitreichende Relevanz für die medizinische Versorgung dieser Tiere. Nachfolgend sollen einige für den Praxis- oder Klinikalltag wichtige anatomische Merkmale näher beschrieben werden. Es wird im Folgenden erkennbar, dass sich verschiedene, uns von europäischen Haus- und Nutztieren bekannte Merkmale bei den südamerikanischen Kamelen vereinen. Kopf Kleinkamele sind obligate Nasenatmer. Das knöcherne Nasenbein ist vergleichsweise kurz und geht in einen knorpeligen Anteil über. Von dorsal auf den Nasenrücken ausgeübter Druck kann leicht zur Verengung oder einem Verschluss der Atemwege führen. Bei der Durchführung von Untersuchungen im Kopfbereich, bei der Fixierung oder Halfterung ist daher stets darauf zu achten, dass die Nasenatmung nicht beeinträchtigt wird. Im Bereich der Zähne kommt es bei Hengsten zur Ausbildung von sogenannten Kampfzähnen. Im Alter von zwei bis drei Jahren schieben sich die Canini (C) des Ober- und Unterkiefers sowie der dritte Schneidezahn (I3) des Oberkiefers durch das Zahnfleisch und bilden scharfe Spitzen, die bei Auseinandersetzungen mit Artgenossen zu Verletzungen (teilweise sogar tödlich) führen, wenn sie nicht fachgerecht gekürzt werden. Hals Über weite Bereiche des Halses verlaufen die Vena jugularis und die Arteria carotis eng beieinander. Einzig unterhalb des Kieferwinkels werden diese Gefäße einige Zentimeter durch den M. omohyoideus voneinander getrennt. Diese anatomische Besonderheit sollte bei der intravenösen Verabreichung von Medikamenten und der Venenpunktion im Halsbereich (proximales oder distales drittel geeignet) beachtet werden. Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass der Ösophagus auf der linken Halsseite verläuft und aufgrund der geringen lateroventralen Bemuskelung relativ oberflächlich liegt. Wenn möglich sollte die Blutentnahme an der V. jugularis externa daher rechtsseitig erfolgen. Haut Die Haut von Alpakas ist im Vergleich zu den meisten europäischen Nutz- und Haustieren vergleichsweise dick. Die Dicke variiert in den unterschiedlichen Körperregionen. Im ventralen Halsbereich und im Bereich des Scrotums ist die Haut besonders dick – diese Stellen sind die typischen Bissstellen rivalisierender Hengste, so dass die erhöhte Hautdicke ein Schutzmechanismus darstellt und beispielsweise beim Blutabnehmen oder Legen eines Venenzuganges an der V. jugularis besonders zu berücksichtigen ist. Im Bereich des Metatarsus besitzen Alpakas medial und lateral Glandulae metatarsales (Metatarsaldrüsen). Diese Bereiche sind von Tier zu Tier unterschiedlich groß, haarlos und zum Teil mit nahezu weißen oder gelblichen Ablagerungen überzogen. Da die Metatarsaldrüsen zuweilen jedoch auch ein leicht gerötetes Erscheinungsbild aufweisen können und vor allem zum Zeitpunkt der Schur zur vollen Sichtbarkeit kommen, wird immer wieder irrtümlich vermutet, dass Verletzungen zu Hautveränderungen in diesem Bereich geführt haben. Derzeit ist die Funktion dieser Drüsenregion noch unklar. Magen Alpakas besitzen ein dreiteiliges Vormagensystem, das in Kompartimente (C1, C2, C3) unterteilt wird. Funktionell und anatomisch bestehen Ähnlichkeiten mit den vier Vormägen der Wiederkäuer. Das erste Kompartiment (C1) ist dem Pansen ähnlich. Über 80 % des Mageninhaltes befindet sich in diesem Anteil und 232 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ wird von Mikroorganismen verdaut. Glanduläre Sacculi (ca. 1 x 1 x 1,5 cm große Säckchen, die Wasser und Bikarbonat sezernieren) erstrecken sich über die Bodenfläche sowie die Seitenwände des C1. Sie sind einzigartig und kommen in dieser Form nur bei Kamelen vor. Das sekretorische Epithel und der spezifische Kontraktionszyklus der Mägen (Dauer ca. 2 Minuten mit ca. 40 Sekunden Pause), der zu einer intensiven Durchmengung des Nahrungsbreis für eine sehr effiziente Nahrungsverwertung im Vergleich zu Wiederkäuern. führt, sind vermutlich die Gründe Das dritte Kompartiment ist tubulär geformt. Nur im distalen Fünftel des C3 werden Magensäure und Verdauungsenzyme produziert. Immer wieder werden Ulzera in diesem Bereich beobachtet. Bei jeglicher Art von Stress (Rangordnung, Änderung des Herdenverbandes, Erkrankungen, Geburt, Laktation, Trächtigkeit, Zuchtschauen …) und ersten klinischen Anzeichen (aufgezogener Rücken, Schmerzäußerungen, vermehrtes Liegen) sind Magengeschwüre differentialdiagnostisch in Betracht zu ziehen. Männliche Geschlechtsorgane Die Anatomie der männlichen Geschlechtsorgane insgesamt ist mit keinem unserer europäischen Nutztiere direkt vergleichbar. Die Hoden der Hengste sind vergleichsweise eher klein in Relation zur Körpergröße (ca. 3,5 x 2,5cm) und liegen dem Körper eng an. Somit ist auch kein deutlicher Unterschied zwischen Körper- und Hodentemperatur gegeben. Die dem Hoden aufliegenden Nebenhoden können bei gezielter Untersuchung ertastet werden. Der Penis vom fibroelastischen Typ ist ca. 40cm lang und liegt in einer sigmoiden Flexur. An der Penisspitze befindet sich der Processus cartilaginosus, der im Falle einer Urolithiasis jedoch nicht abgesetzt werden sollte, da die Urethra bereits an der Penisspitze endet. Da Kleinkamelhengste Uterusbesamer sind, wird dem Processus cartilaginosus eine Funktion beim Durchdringen der Cervix zugeschrieben. Vor der Geschlechtsreife liegt eine Verwachsung des Präputiums mit dem Penis vor. Ein vollständiges Ausschachten ist zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Die Präputialöffnung ist nach caudal gerichtet, so dass der Harnabsatz auch nach caudal erfolgt. Beim Deckakt wird die Präputialöffnung nach cranial gezogen. Weibliche Geschlechtsorgane Alpakastuten besitzen einen Uterus bicornualis, wobei das linke Horn bei multiparen Stuten aufgrund der überwiegend im linken Horn ausgetragenen Trächtigkeiten meist etwas größer ist. Die Cervix weißt spiralige Erhöhungen der Schleimhaut auf und geht in die vergleichsweise lange Vagina (ca. 20-25 cm) über. Bei der vaginalen Untersuchung sind demnach entsprechend lange Spekula zu nutzen. Ein Passieren der Cervix ist nur mit dünnen Instrumenten (Durchmesser 3 mm) möglich. Die Ovarien sind mit einer Größe von 7 bis 12 mm eher klein. Die Ovulation wird durch den Deckakt induziert, wobei sprungreife Follikel eine Größe von über 5 bis 6 mm aufweisen. Das Euter besitzt vier Zitzen mit je zwei Strichkanälen, liegt relativ körpernah an und das Abmelken von Milch ist nur in sehr geringen Mengen möglich. Bewegungsapparat Alpakas sind Schwielensohler. Die Sohlen sind derb elastisch und auch das Horn der Nägel lässt sich mit einer Handschere im Vergleich zu Hufen und Klauen in der Regel einfach korrigieren. Trotz, dass das Ballenkissen aus Fett- und Bindegewebe nur mit einer weich verhornten Schutzschicht (Epidermis) überzogen ist, haben südamerikanische Kamele kaum Probleme im Bereich der distalen Gliedmaßen bzw. Sohlen. Im Bereich der Hintergliedmaßen ist keine Kniefalte ausgebildet. Dies ermöglicht den Tieren einen relativ großen Bewegungsradius der Hinterbeine in craniale, caudale und laterale Richtung. Die Person, die das Tier hält bzw. Untersucher sollten sich der Bewegungsmöglichkeiten der Hintergliedmaßen bewusst sein. Soll ein erkranktes Tier oder ein Alpaka, dass sich aufgrund des Schutzreflexes niedergesetzt hat, aufgestellt werden, ist zu beachten, dass Kamele sich immer zuerst mit den Hintergliedmaßen aufstellen und nachfolgend mit den Vordergliedmaßen. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 233

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Literaturempfehlungen: 1. Wittek T, Franz S. Praxishandbuch Neuweltkamele – Ein Leitfaden zur Diagnostik, Therapie und Prophylaxe bei Lamas und Alpakas, 2023, 2. Auflage, Schlütersche (Verlag) 2. Cebra C, Anderson DE, Tibary A, Van Saun RJ, Johnson LW. Llama and Alpaca Care – Medicine, Surgery, Reproduction, Nutrition and Herd Health, 2014, 1. Auflage, Elsevier 3. Gauly M, Vaughan J, Cebra C. Neuweltkameliden, 2018, 4. Auflage, Thieme Verlag Kontakt Dr. Sarah Grund, Tierarztpraxis Dr. Sara Grund, Pockau-Lengefeld post@tierarzt-grund.de 234 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Myofascial expansions and their impact in dogs Vibeke S. Elbrønd Vet. Faculty, University of Copenhagen (Denmark) Myofascia What is myofascia? Myos (Greek) muscle. Fascia (Latin) sheet of connective tissue surrounding muscles or organs. Myofascia is an Anatomical description of the functional and structural connections and collaborations between the muscle and fascia tissue. Research has provided unexpected and groundbreaking results about the collaboration between the two and questions the traditional perception of their function and interaction in the locomotion system. The results direct the focus towards a full body approach as well as a 3-D perspective with the fascia tissue as the central component. The new knowledge questions the traditional veterinary approach in understanding balance and imbalance in the locomotion system. It asks for a new approach to understand and treat the animals. Fig. 1: Dissection of myofascial expansions in the hindlimb. The biceps femoris and the semitendinosus muscle are dissected and lifted and the epimysial connections (myofascial expansions) in proximal and cranial direction is visualized. Why are myofascial expansions of veterinary interest? The new terminology Fascia includes all types of connective tissue ranging from the dense regular to the soft irregular types. The fascia tissue origins and develops from the mesoderm as the primitive mesenchyme, which from the very start outlines the embryo (1). Other cell types (e.g. muscle and parenchymatous) and structures (e.g. blood and lymph vessels and nerves) merge into the mesenchyme and establish the base for the 3-D interconnected fascial body skeleton in the developed animal. Locally the muscle fascia arranges as the endo-, peri- and epimysium, which fuse at the muscle poles and establish the tendons. In this system a muscle contraction is transferred directly into the tendons and the force transmitted onto the bones, which move 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 235

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ in relation to one or more joints. (2, 3) have measured an additional type of force transmission in the muscles, a parallel force transfer. In this model the force is transmitted parallel via the endo- and perimysium into the epimysium and from here to neighboring structures such as fascia sheets, muscle epimysium, aponeuroses etc. These connections, now expressed as myofascial expansions (fig. 1), can direct up to 30% of the muscle force into other/neighboring structures. This concept changes the general knowledge of force direction and transmission and muscle collaborations as the muscles now are able to collaborate parallel through the myofascial expansions, and not only in relation to a direct effect on one or more joints. The myofascial expansions can establish shorter regional or longer lines in the body. The long lines: The Myofascial Kinetic Lines (MFKL), collaborate in motion as well as in standing posture (4). Eleven myofascial kinetic lines have been isolated and dissected in the dogs and in the horses (5-7) and they establish a macroscopic and dissectible 3-D network from top to toe in the animals. Tension lines (the direction of the collagen fibres) are aligned and pass on along in the direction of the lines and each line is involved in a set of movements. A tension of the Superficial Dorsal Line (SDL, fig. 2) extends the head, the neck, the trunk, the hip and the hock and flexes the stifle and the toe. All together the motion from top to toe represent a push off from the animal. The antagonistic line, the Superficial Ventral Line (SVL, fig. 2), includes flexion of the head, neck, trunk and hip and extension of the stifle, the tarsus, and the toes, which act antagonistic to the SDL. The SDL and SVL balance each other as well as the other nine lines. If a permanent tension is present in one of the lines, the rest of the lines adjust to this and compensations in the body starts to wind up. Compensations can be observed e.g., as stiffness in trunk, neck and back, uneven footfall and gate, unbalanced posture, trunk rotations, reduced ROM, dropped or crooked tail and/or pain. This is often the time where the veterinarians meet the animal. Fig. 2: Myofascial Kinetic Lines painted on a dog. The superficial dorsal line (green) and the superficial ventral line (blue). The lines are antagonistic and balance each other in body extension and flexion. How can the lines tense up? Due to the key role of the fascia tissue as the basic skeleton of the body, it shows up in numerous constitutions spanning from dense regular (tendons, aponeuroses, ligaments), dense irregular (epimysia, joint capsules) to soft irregular (situated between structures to ensure flexibility). The fascia is exposed to numerous in- and external stimuli and possesses a high capacity to reflect on them (plasticity) e.g., download of collagen fibres in relation to and in the direction of tensions, contraction for protection, and production of Hyaluronan by 236 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ fasciacytes to ensure flexibility between structures and layers (8-10). Additionally other stimulations such as hormonal and temperature changes, pain, nerve receptor stimulations etc. influence the physiological conditions of the fascia tissue. With respect to the myofascial expansions, locally or in the MFKL, the connective tissue can tense up as a normal reflection to a stimulation, but it can also tense up as a reflection to pathological conditions e.g., overuse, trauma, surgery, scarring, internal imbalances, cold and stress (11). Temporary tensions under normal conditions can regain normal tension on their own, whereas permanent tensions as seen in pathological conditions transforms into compensations, in which the body imbalance is reflected e.g., in the body posture, the locomotion, and the gaits (4-7). Practical/clinical outreach Clinically, the practicing veterinarian meets the imbalanced animals in the clinic after an acute trauma or surgery, in which the imbalances are obvious, but additionally in cases of permanent character, in which the animals after months or years of compensations, now suffer from pain and structural damages due to long-term misuse of the body. Do we as vets now have the tools and knowledge to identify, localize, analyze and understand these compensatory mechanisms to be able to provide the best possible treatments for the animals? References 1. Hyttel P, Sinowatz F, Vejlsted M. In: Betterridge K, editor. Essentials of domestic embryology. First ed. Toronto: Saunders, Elsevier; 2010. p. 69-79. 2. Yucesoy CA, Koopman BH, Baan GC, Grootenboer HJ, Huijing PA. Extramuscular myofascial force transmission: experiments and finite element modeling. Arch Physiol Biochem. 2003;111(4):377-88. 4. Huijing PA, Baan GC. Myofascial force transmission via extramuscular pathways occurs between antagonistic muscles. Cells Tissues Organs. 2008;188(4):400-14. 5. Myers TW. Anatomy Trains. Myofascial meridians for Manual Therapists and Movement Professionals. Fourth ed. China: Elsevier; 2021. 365 p. 6. Elbrønd VS, Schultz RM. Myofascia - the unexplored tissue: Myofascial kinetic lines in horses, a model for describing locomotion using comparative dissection studies derived from human lines. Medical Research Archives. 2015(3). 7. Elbrønd V, Schultz R. Deep Myofascial Kinetic Lines in Horses, Comparative Dissection Studies Derived from Humans. Open Journal of Veterinary Medicine. 2021;11:14-40. 8. Schultz R, Due T, Elbrønd VS. Equine Myofascial Kinetic Lines - for professional treatment. Sweden, Leanders Grafiska AB, Kalmar: Fascialines.com; 2021. 9. Van den Berg F. The physiology of the fascia. In: Schleip R, Findley T, Chaitow L, Huijing PA, editors. The tensional network of the human body: Elsevier; 2012. 10. Thomas J, Klingler W. The influence of pH and other metaboolic factors on fascial properties. In: Schleip R, Findley TW, Chaitow L, Huijing PA, editors. The tensional network of the human body: Elsevier Ltd.; 2012. 11. Stecco C, Fede C, Macchi V, Porzionato A, Petrelli L, Biz C, et al. The fasciacytes: A new cell devoted to fascial gliding regulation. Clin Anat. 2018;31(5):667-76. 12. Schleip R, Jäeger H, Klingler W. Fascia is alive. In: Schleip R, Findley T, Chaitow L, Huijing PA, editors. The tensional network of the human body: Elsevier; 2012. Contact adress Ass. Prof. Vibeke S. Elbrønd; Vet. Faculty, University of Copenhagen (Denmark) vse@sund.ku.dk 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 237

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Biomechanische Aspekte des Sakroiliakalgelenks des Hundes Nicole Röhrmann, Franziska C. Wagner Veterinär-Anatomisches Institut, Universität Leipzig Hintergrund Das Kreuzdarmbeingelenk (Articulatio sacroiliaca, Sakroiliakalgelenk, SIG) ist ein biomechanisch bedeutendes und wichtiges Bindeglied zwischen der Wirbelsäule und den Hintergliedmaßen. Es überträgt die Vorschubkraft der Beckengliedmaße auf den Rumpf und ist dadurch biomechanisch stark beansprucht, was zu Dysfunktionen im SIG führen kann. Diese Dysfunktionen können zu Beschwerden in anderen Körperregionen im Sinne des übertragenen Schmerzes und zu Bewegungseinschränkungen führen (u. a. Muskelhartspann, Lahmheit und Hautirritationen). Bei Arbeits- und Sporthunden zeigt sich die als „Sacroiliac Joint Disease/Disorder“ bezeichnete Funktionseinschränkung häufig. Diese äußern sich unter anderem durch eine verminderte Beweglichkeit im Becken und einen steifen Gang in der Hinterhand. Es zeigen sich Muskelverspannungen sowie eine Schmerzhaftigkeit bis hin zur Muskelatrophie der Gesäß- und Oberschenkelmuskulatur (1). Biomechanische und anatomische Grundlagen Die Kreuz-Darmbeingelenke übertragen einerseits den von den Hintergliedmaßen erzeugten Vorschub auf den Rumpf und nehmen andererseits die Last des Rumpfes bei der Übertragung auf die Gliedmaße auf. Dadurch wirkt das SIG als wesentlicher Stoßdämpfer während des Bewegungsablaufes (2,3). Weiterhin trägt es den Hauptteil des hinteren Körpergewichtes im Stand und unterliegt dadurch wachstums- und rassespezifischen Veränderungen (2). Das Kreuzbein unternimmt während des normalen Gangbildes eine „forward torsion“ (Nutation). Dies ist eine physiologische, gegenläufige Bewegung des Kreuzbeines (Torsion) und des Beckens (Rotation) (4). Über das Ausmaß des Bewegungsumfanges während der Nutation (Flexion) und Kontranutation (Extension) des Kreuzbeins gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Die Studie von Gregory et al. beschreibt einen mittleren Range of Motion (ROM) von 7°, wobei die Flexion 3° und die Extension 4° im Mittel betrugen (5). Weitere bildgebende Untersuchungen des SIG konnten einen ROM von 4° bei Hunden im Allgemeinen und eine Torsionsbewegung in zwei Achsen von 1,5 - 2,0° bei Schäferhunden und Greyhounds nachweisen (6,7). Das SIG ist ein zusammengesetztes Gelenk mit einem synovialen sowie einem faserknorpeligen Anteil (Art. cartilaginea) und ist damit eine Kombination eines echten und unechten Gelenks. Es verbindet die Flügel des Darm- und Kreuzbeines (Ala ossis sacri et ilii). Die dorsale Gelenkfläche besitzt eine große unebene Oberfläche (Tuberositas sacralis et iliaca), deren Erhebungen und Vertiefungen sich entsprechen und ineinandergreifen (3,8,9). Die dazwischenliegenden Hohlräume werden von Faserknorpel ausgefüllt. Dieser bildet damit eine feste bandhafte Verbindung (Ligg. sacroiliaca interossea) zwischen dem Kreuz- und Darmbein (3). Die ventrale halbmondförmige Gelenkfläche (Facies auricularis) ist mit Knorpel überzogen und besitzt eine enge, dünne Gelenkkapsel (3,8). Diese wird ventral von eingelagerten Ligg. sacroiliaca ventralia gestützt. Dorsal wird das SIG von den Ligg. sacroiliaca dorsalia überspannt (10,11). Durch eine erhöhte bzw. unphysiologische Belastung kann es zu Störungen im Gelenk kommen, in deren Folge die raue und unregelmäßige Oberfläche verschoben wird und die Erhebungen dadurch aufeinander zu liegen kommen (Gelenkblockade) (9). Dies ist vermutlich ursächlich für eine Reizung nervaler Afferenzen des Bandapparates und der Muskulatur. Dadurch induzierte Schmerzen strahlen im Sinne des übertragenen Schmerzes in weitere Körperregionen, wie die Haut im Lumbalbereich, aus und rufen dort Irritationszonen hervor (12). Für eine bessere Einordnung dieser Zusammenhänge sind Kenntnisse über die Innervation dieser Bereiche grundlegend. Jedoch sind zur Innervation des caninen SIG bisher kaum Angaben zu finden. Es gibt auch nur wenige Untersuchungen zum humanen SIG mit sehr heterogenen Ergebnissen. Grob et al. wiesen beispielsweise eine Innervation der Kapsel und des Bandapparates durch die lumbalen und sakralen Dorsaläste der Spinalnerven beim Menschen nach (12). Untersuchungen am SIG von Ratten zeigten eine Innervation 238 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ ebenfalls durch Dorsaläste, aber auch durch Ventraläste der lumbosakralen Spinalnerven sowie eine Beteiligung von sympathischen Fasern des Grenzstranges (13). Projektdesign In dieser Studie sollen neben der Ermittlung des Bewegungsumfanges (ROM) auch die nervale Versorgung sowie der Gelenkaufbau des SIG beim Hund genauer untersucht werden. Dafür wird basierend auf dem Versuchsaufbau von Gregory et. al (5) ein Bewegungsapparat in Kooperation mit der Otto-von-Guericke- Universität Magdeburg entwickelt, um an isolierten caninen Becken den ROM des SIG zu messen. Dabei wird das Kreuzbein fixiert und die Beckenknochen mithilfe des Bewegungsgerätes in Flexion und Extension sowie in Torsion bewegt. Weiterhin werden die versorgenden Nerven makroskopisch sowie immunhistochemisch untersucht um ein besseres Verständnis über die Innervation des Gelenkes zu erhalten. Erste Ergebnisse lassen dabei Rückschlüsse auf eine ähnliche Innervation wie bei der Ratte zu. Acknowledgement Diese Arbeit wird durch ein Stipendium des Leipziger Veterinärmedizinischen Nachwuchsförderprogramms finanziert, das vom Freundeskreis Tiermedizin, der Veterinärmedizinischen Fakultät und von Ceva Santé Animale getragen wird sowie durch eine Förderung der Dr. Heidi und Karl-Heinz Kübler Stiftung. Literatur 1. Reinhardt J. Chiropraktik beim Sporthund. Zeitschrift für Ganzheitliche Tiermedizin 2015; 29(01): 24–27 2. Fischer M, Lilje KE. Hunde in Bewegung. Stuttgart, Dortmund: Kosmos; VDH Service; 2014 3. Salomon F-V, Geyer H, Gille U. Anatomie für die Tiermedizin. 4., aktualisierte Auflage; 2020 4. Gräff C, Meermann S. Osteopathie bei Hunden: 58 Tabellen. Stuttgart (Hohenheim): Ulmer; 2009 5. Gregory CR, Cullen JM, Pool R, Vasseur PB. The canine sacroiliac joint: Preliminary Study of Anatomy, Histopathology, and Biomechanic. Spine 1986; 11(10): 1044–1048 6. Saunders FS, Cave NJ, Hartmann KM, Gee EK, Worth AJ, Bridges JP, Hartman AC. Computed tomographic method for measurements of inclination angles and motion of the sacroiliac joints in german Sheperd Dogs and Greyhounds. AJVR 2013; 74(9): 1172–1182 7. Schmid V, Lang J. Measurements on the lumbosacral junction in normal dogs and those with cauda equine compression. J Small Animal Practice 1993; 34(9): 437–442 8. Hermanson JW, DeLahunta A, Evans HE. Miller and Evans' anatomy of the dog. Fifth edition; 2020 9. Vleeming A, Volkers AC, Snijders CJ, Stoeckart R. Relation between form and function in the sacroiliac joint. Part II: Biomechanical aspects. Spine 1990; 15(2): 133–136 10. Frewein J, Amselgruber W, Hrsg. Anatomie von Hund und Katze: Mit 6 Tabellen. Berlin: Blackwell-Wiss.-Verl.; 1994 11. Nickel R, Schummer A, Seiferle E, Frewein J, Augsburger H, Hrsg. Bewegungsapparat. 8., unveränd. Aufl. Stuttgart: Parey; 2004 13. Grob KR, Neuhuber WL, Kissling RO. Die Innervation des Sacroiliacalgelenkes beim Menschen. Z Rheumatol 1995; 54(2): 117–122 14. Murata Y, Takahashi K, Masatsune, Yamagata, Takahashi Y, Shimada Y, Moriya H. Origin and pathway of sensory nerve fibers to the ventral and dorsal sides of the sacroiliac joint in rats. Journal of Orthopaedic Research 2001; 19: 379–383 Kontakt Dr. Nicole Röhrmann; Veterinär-Anatomisches Institut, Universität Leipzig nicole.roehrmann@vetmed.uni-leipzig.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 239

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Aus Stammzellen werden EV's - Perspektiven der Therapie mit extrazellulären Vesikeln beim Hund Michele C. Klymiuk, Stefan Arnhold Institut für Veterinär-Anatomie, -Histologie und -Embryologie des Fachbereichs Veterinärmedizin der Justus- Liebig-Universität Gießen Der Klassiker – Behandlung mit Stammzellen Inzwischen werden bereits seit vielen Jahren verschiedene Formen der Behandlung mit Stammzellen durchgeführt. Dabei stehen in erster Linie Erkrankungen des muskuloskelettalen Apparates im Vordergrund. Dabei sind die Osteoarthrose und Sehnenerkrankungen die bedeutendsten Einsatzgebiete. Aber auch bei anderen Erkrankungen wie der IBD (entzündliche Darmerkrankung) des Hundes bedient man sich der Stammzelltherapie. Mit Stammzellen sind hier immer mesenchymale Stammzellen (MSC – mesenchymal stem cells) gemeint, also Stammzellen, die aus dem Bindegewebe stammen. Gewonnen werden diese Stammzellen von den Patienten in der Regel aus Fettgewebe. Dabei spielt bei Hunden abdominales Fettgewebe die größte Rolle, darunter auch welches aus der Regio umbilicalis. Hierbei wird das Fettgewebe bei ohnehin anstehenden Operationen aus dem Bereich des OP-Feldes gewonnen. Darüber hinaus ist auch die Entnahme aus dem Knochenmark möglich, was durch eine Punktion mit einer Jamshidi Knochenmarks-Biopsienadel durchgeführt werden kann. Geeignete Orte hierfür sind beim Hund aus den Stylopodien (Humerus, Femur) bzw. das Becken. Im Idealfall findet anschließend eine Aufreinigung der MSC im Labor statt, mit anschließender Kontrolle der Stammzelleigenschaften mittels Analyse der Oberflächenmarker (unter anderem CD90, CD44 positiv; CD45, MHCII negativ) und der Untersuchung der Differenzierungsfähigkeit in die drei mesenchymalen Gewebe Fett, Knochen und Knorpel. Funktionsweise der Stammzellen Sicherlich mag die Vorstellung nahe liegen, dass diese Stammzellen nach ihrer Applikation an ihrem Wirkort, nennen wir zum Beispiel ein osteoarthrotisch verändertes Gelenk, direkt in die benötigten Zellen differenzieren und so geschädigte Knorpelzellen im Gelenk ersetzen. So wünscht man sich eine Reparatur des defekten Gewebes, anstelle einer nicht reversiblen Arthrose. Mittlerweile ist man aber von der Vorstellung des Ersatzes von geschädigtem Gewebe durch geeignete Zelldifferenzierung abgerückt. Vielmehr werden die Zellen jetzt als Bioreaktoren betrachtet, die lokal mittels einer Vielzahl verschiedener sezernierten Faktoren eine Regeneration herbeiführen. Aus diesem Grund hat man inzwischen begonnen den Begriff „mesenchymale Stammzellen“ durch „Medizinale Signalisierungszellen“ zu ersetzen, konkret wurde so aus „mesenchymal stem cells“ – „medicinal signalling cells“. Diese Namensänderung unterstreicht deutlich besser die eigentliche Wirkung der MSCs. Extrazelluläre Vesikel – besser als die Stammzelle? Zu diesen vielen Faktoren, welche MSC freisetzen, um ihre therapeutische Wirkung entfalten zu können, gehören neben diversen Botenstoffen auch extrazelluläre Vesikel. Diese sind sehr kleine, ca. 10 bis 200 nm große Partikel, welche mit einer Doppellipidmembran versehen sind. Gefüllt sind sie wiederum mit einer Vielzahl an Faktoren, darunter Peptiden, Lipiden und auch Ribonukleinsäuren. MSC können diese Vesikel nach Bedarf mit den benötigten Informationen bestücken und sezernieren. Haben die Vesikel schließlich ihren Bestimmungsort gefunden fusionieren sie mit den Zielzellen und können somit darin eine entsprechende Wirkung auslösen. Besonders interessant sind hierbei auch die enthaltenen mikro RNA (miRNA), das sind nicht codierende Ribonukleinsäuren mit einer Länge von maximal 23 Nukleotiden. Diese können am Wirkort unter anderem mit mRNA interferieren und somit gezielt die Translation von Genen modulieren. 240 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Warum soll nun der Einsatz der extrazellulären Vesikel einen Vorteil darstellen? Wie bereits erwähnt basiert die Therapie mit MSC auf lebenden Zellen. Diese sind im Idealfall vom gleichen Patienten (autolog), können aber auch, wenn z.B. aus dem Patienten keine oder nicht genügend Zellen gewonnen werden können, von einem anderen Spender (allogen) verwendet werden. Und eben genau dieser Einsatz von Zellen, umso mehr, wenn sie nicht vom gleichen Spender sind, können unerwünschte Nebenwirkungen auslösen. Zu diesen unerwünschten Nebenwirkungen gehören entweder eine Abstoßungsreaktion (massive Entzündung, Schock), oder aber auch die Entstehung von tumorartigen Wucherungen. Auch ist nicht unbedingt gewährleistet, dass die applizierten MSC zu der gewünschten therapeutischen Reaktion führen. Genau an diesen Umständen kann die Behandlung mit von MSC sezernierten extrazellulären Vesikeln ihre Vorteile ausspielen: Sie können keine unerwünschten Wirkungen in Richtung unkontrolliertem Wachstum dieser Zellen auslösen, da gar keine lebensfähigen Zellen übertragen werden. Der Inhalt der Vesikel kann ebenfalls durch gezielte Stimulation der herstellenden MSC beeinflusst werden, indem bestimmte therapeutisch wirksame Substanzen in den Vesikeln angereichert werden. Auf dieser Basis könnte nicht nur eine viel gezieltere, sondern auch eine vereinheitlichte Therapie ermöglicht werden, welche sogar die Notwendigkeit einer vorherigen Entnahme der Stammzellen überflüssig machen würde. Aktuelle Forschungsarbeiten Zur Erforschung der Möglichkeiten der Behandlung mit extrazellulären Vesikeln des Hundes wurden im ersten Schritt verschiedene Methoden der Gewinnung und eine Charakterisierung der EVs erfolgreich durchgeführt. Die Charakterisierung erfolgte durch den Nachweis von Tetraspaninen (CD9, CD63, CD81), das sind Vesikel-spezifische Oberflächenproteine, die mittels Western-Blot, Immunhistochemie sowie Immuno- Gold-Markierung von Schnitten in der Transmissionselektronenmikroskopie nachgewiesen werden können. Die Größe und Anzahl der gewonnenen Vesikel wurden mittels sogenannter Nano Tracking Analyse (NTA) durchgeführt. Die Ergebnisse der NTA Messungen belegen auch, dass eine Aufkonzentration mittels Ultrazentrifugation und Ultrafiltration die vesikuläre Beschaffenheit am besten konserviert, was den Schluss nahelegt, dass diese Methoden die Funktionalität der EVs am wenigsten beeinträchtigen. Ausblick Der nächste Schritt ist nun die Analyse des Inhalts der Vesikel, insbesondere sollen die beinhaltenden miRNAs bestimmt werden. Dazu soll eine Gesamtanalyse aller beinhaltenden miRNAs erfolgen (next generation sequenzing). Anschließend sollen geeignete und therapeutisch besonders wirksame miRNAs ausgewählt werden, um deren konkreten Einfluss in einem Schädigungsmodell des Knorpels zu untersuchen. Damit soll der Grundstein für eine neue, zellfreie und dennoch stammzellbasierte Therapie gelegt werden, die je nach Modifikation der EVs für verschiedene Einsatzzwecke genutzt werden kann. Kontakt Dr. Michele C. Klymiuk; Institut für Veterinär-Anatomie, -Histologie und -Embryologie des Fachbereichs Veterinärmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen Michele.Klymiuk@vetmed.uni-giessen.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 241

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Die Anatomie der Perinealregion des Hundes Kirsti Witter1, Anne Kühn2 1Institut für Morphologie, Department für Pathobiologie, Veterinärmedizinische Universität, Wien, Österreich; 2Tierärztliche Klinik für Kleintiere, Panitzsch, Deutschland Die Perinealregion des Hundes in der Veterinärmedizin Behandlungen und Operationen in der Perinealregion des Hundes gehören zum täglichen Brot in der tierärztlichen Praxis. Verstopfung und Entzündung der Analbeutel (1-2), Tumore der Analbeutel- und der Zirkumanaldrüsen (3-5), Probleme bei Deckakt und Geburt und Perinealhernien (6) sind häufige Gründe für Interventionen. Anatomisch handelt es sich um eine sehr komplexe Region. Die Kenntnis ihres Baus sollte Grundlage jedes veterinärmedizinischen Handelns sein. Abgrenzung und Orientierungspunkte Das Perineum (Damm) ist der Teil der Körperwand, der die Apertura pelvis caud. (caudalis) verschließt und den Anal- und Urogenitaltrakt umgreift. Die Projektion des Perineums auf die Haut wird als Perinealregion bezeichnet. Die Vulva der Hündin wird zur Perinealregion gezählt, obwohl sie ventrokaudal der Beckensymphyse liegt. Der Bindegewebsbereich zwischen Anus und Vulva, in dem sich auch mehrere Muskeln verankern, heißt Centrum tendineum perinei (früher Corpus perineale). Häufig wird nur dieser verkürzt als „Damm“ bezeichnet. Orientierungspunkte sind Tuber ischiadicum, Trochanter major femoris und Schwanzwurzel. Die kraniale Begrenzung wird vom Lig. (Ligamentum) sacrotuberale bzw. dem oberflächlich davon liegenden M. gluteus supf. gebildet. Ein großer Fettkörper füllt kaudal davon die Fossa ischiorectalis aus. Diese wird von Diaphragma pelvis, Lig. sacrotuberale und Fascia obturatoria sowie kaudal von der äußeren Haut begrenzt. Hier liegen auch die großen Leitungsbahnen der Region. Muskulatur und wichtige Faszien Die Muskeln der Region bilden das Diaphragma pelvis und das Diaphragma urogenitale. Das Diaphragma pelvis ist im Gegensatz zum Menschen eine fast sagittal gestellte, paarige Muskelplatte aus dem oberflächlichen M. coccygeus und dem tieferen M. levator ani, die am Becken entspringen und beim Hund bis zu den Schwanzwirbeln ziehen. Sie sind innen und außen von Faszien bedeckt und umfassen den Canalis analis. Die Faszie des M. coccygeus ist dünn, die äußere Faszie des M. levator ani etwas kräftiger. Ergänzt wird das Diaphragma pelvis durch den sehr dünnen M. sphincter ani ext. (externus), in dessen oberflächlicher Faszie kranial der M. levator ani ansetzt und auf der kaudal die Zirkumanaldrüsen unverschieblich aufsitzen. Der M. sphincter ani ext. umgibt auch die Analbeutel, von denen er ebenfalls schwer zu trennen ist. Einen engen Bezug zum M. sphincter ani ext. hat der M. retractor penis/clitoridis. Er entspringt ventral an den ersten Schwanzwirbeln. Sein Hauptteil zieht beim Hund zum M. sphincter ani ext., wo er sich fest verankert. Die zu Penis bzw. Klitoris ziehenden Faserbündel sind dünn. Das Diaphragma urogenitale setzt sich beim Rüden zusammen aus M. ischiourethralis und M. ischiocavernosus, die vom Tuber ischiadicum entspringen und zur Urethra ziehen bzw. die Crura penis umhüllen, sowie aus dem M. bulbospongiosus. Bei der Hündin liegt der kurze M. ischiocavernosus oberflächlich auf einer sehr kräftigen und zähen Faszie, die die Vagina und das Vestibulum vaginae auch während der Geburt in Position halten. Dem M. bulbospongiosus entsprechen beim weiblichen Tier M. constrictor vestibuli und M. constrictor vulvae, die von der erwähnten Faszie teilweise bedeckt werden. Vom lateralen Winkel des Tuber ischiadicum entspringt bei der Hündin ein kräftiges, halbmondförmiges Faszienblatt, welches das Perineum in ein dorsales und ein ventrales Kompartment unterteilt und von den terminalen Ästen der A. und V. pudenda int. (interna/-us) und des N. pudendus unterquert wird. Zu den unmittelbar umgebenden Muskeln gehört v.a. der M. obturatorius int., der dorsal am knöchernen Beckenboden entspringt und dessen Sehne sich über die Incisura ischiadica minor schlägt. Von seiner dorsalen 242 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Faszie entspringen eine oder mehrere halbmondförmige Bindegewebsspangen, die den Fettkörper der Fossa ischiorectalis durchziehen und befestigen. Die kraniale Begrenzung der Region bildet der Kaudalrand des M. gluteus supf. (superficialis) und das von diesem bedeckte Lig. sacrotuberale. Äußere und innere Faszie des M. gluteus supf. verschmelzen an dessen Kaudalrand und setzen sich noch einige Millimeter nach kaudal fort. Abb. 1: Perineum der Hündin, Ansicht von kaudolateral, Fettkörper der Fossa ischiorectalis entfernt. (1) M. gluteus supf. (aufgeklappt), (2) M. coccygeus, (3) M. levator ani, (4) M. retractor clitoridis, (5) M. sphincter ani ext., darunter Analbeutel, (6) M. obturatorius int., (7) M. constrictor vulvae; (a) laterale Schwanzgefäße, (b) A.+V. perinealis dors. und Ast des N. perinealis supf., (c) A.+V. perinealis ventr. und N. perinealis supf., (d) A.+V. pudenda int. und N. pudendus, (e) N. ischiadicus, (f) N. cutaneus femoris caud. Gestrichelte Linie: Lig. sacrotuberale. (b) und (c) ziehen durch den Fettkörper der Fossa ischiorectalis. Topographie der Perinealregion und Leitungsbahnen Verschiebliches Unterhautfettgewebe kommt nur über der Gluteal- und Gliedmaßenmuskulatur vor. Es geht ohne deutliche Grenze in den Fettkörper der Fossa ischiorectalis und das Fettgewebe in der Vulva-Umgebung bzw. der Peniswurzel über. Diese Fettkörper sind, wie vorher beschrieben, von kräftigen Faszienblättern durchzogen und nicht verschieblich. Die Haut ist in der Umgebung von Anus und Vulva ebenfalls fest mit den Fettkörpern verbunden. Die Gll. circumanales liegen unverschieblich direkt unter der Haut rund um den Anus, können aber bis zur Schwanzwurzel und zur Vulvafalte bzw. der beim Rüden entsprechenden Stelle reichen. Die Gll. circumanales im Bereich des Anus sitzen dem M. sphincter ani ext. unverschieblich auf. Organe des Perineums sind der Endabschnitt des Rektums und Canalis analis sowie die Urethra. Bei der Hündin schiebt sich die Vagina zwischen diese Organe. Das Vestibulum vaginae knickt im Gegensatz zu den anderen Haussäugetieren kaudal des Arcus ischiadicus steil nach ventral ab. Die Analbeutel sind vom M. sphincter ani ext. bedeckte Hautsäcke, in deren Wand die Analbeuteldrüsen liegen. Die Ausführungsgänge der Analbeutel liegen in der Zona cutanea des Analkanals. Die vom medialen Winkel des Tuber ischiadicum entspringenden, gut tastbaren Crura penis/ clitoridis liegen tief der Tiefe der Faszie des Urogenitalkanals (s.o.). Die Leitungsbahnen des Perineums verlaufen meist in 4 Etagen, wobei das Verzweigungsmuster der Gefäße und Nerven sich individuell unterscheiden kann (7), Arterien sich nicht notwendig parallel zu den Venen verzweigen und Nervenäste nicht notwendig eine Gefäßbegleitung haben. A. und V. caud. lat. (lateralis) durchstoßen im Winkel zwischen M. gluteus supf. und Schwanzwurzel die Faszie des Muskels oder kommen unter dieser hervor und verlaufen weiter seitlich am Schwanz. A. und V. perinealis dors. (dorsalis) verlaufen durch die Mitte des Fettkörpers der Fossa ischiorectalis zum Dorsalrand des Anus. Die Vene ist oberflächlicher und kommt immer im kaudodorsalen Winkel zwischen M. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 243

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ coccygeus und Lig. sacrotuberale hervor. Die Gefäße werden vom N. perinealis supf. oder einem Ast aus diesem begleitet. Die V. perinealis ventr. (ventralis) wird an der gleichen Stelle oberflächlich wie die V. perinealis dors. Die gleichnamige Arterie verläuft parallel oder stammt aus der tiefer liegenden A. pudenda int. Die Gefäße ziehen ebenfalls durch den Fettkörper nach kaudal zum Ventralrand des Anus, geben dort A. und V. rectalis caud. ab und biegen nach ventral, um sich oberflächlich zwischen Anus und Vulva bzw. Skrotum zu verzweigen. Dieses Gebiet wird aber manchmal auch von einer verlängerten A. perinealis dors. oder einem aus beiden Perinealarterien gespeisten Gefäßstamm versorgt (7). Parallel zur A. und V. perinealis ventr. verläuft der N. perinealis supf. oder ein Ast von diesem, der ebenfalls oberflächlich der Faszie des Urogenitalkanals nach ventral umschlägt. A. und V. pudenda int. liegen der Faszie des M. obturatorius int. unmittelbar auf und treten im Winkel zwischen Lig. sacrotuberale und Tuber ischiadicum in die Fossa ischiorectalis. Der N. pudendus bzw. seine Fortsetzung, der N. perinealis profundus, verläuft parallel. Diese Leitungsbahnen verzweigen sich in den Faszien der Organwände. Der N. rectalis caud. ist beim Hund ein Ast des N. pudendus. Er entspringt auf Höhe des Kaudalrandes des M. levator ani und verläuft ein kurzes Stück kaudodorsal zum Rektum. Die terminalen Äste von A. und V. pudenda int. und N. pudendus unterqueren die Faszie des Urogenitalkanals und versorgen Penis bzw. Klitoris und deren Umgebung. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Lundberg A, Koch SN, Torres SMF. Local treatment for canine anal sacculitis: A retrospective study of 33 dogs. Vet Dermatol. 2022;33(5):426–34. Corbee RJ, Woldring HH, van den Eijnde LM, Wouters EGH. A cross-sectional study on canine and feline anal sac disease. Animals. 2022;12(1):95. Griffin M, Culp WTN: Anal Sac Disease. In: Monnet E, Herausgeber. Small Animal Soft Tissue Surgery. 2. Aufl. Hoboken: Wiley; 2023. S. 123-31. Wasques DG, Guerra JM, Fernandes NCCA et al. Interobserver variability in the diagnosis of canine hepatoid gland tumors. Brazil J Vet Pathol. 2022;15(2):73–82. Sabattini S, Renzi A, Rigillo A et al. Cytological differentiation between benign and malignant perianal gland proliferative lesions in dogs: a preliminary study. J Small Animal Pract. 2019;60(10):616–22. Gill SS, Barstad RD. A review of the surgical management of perineal hernias in dogs. J Am Animal Hosp Assoc. 2018;54(4):179–87 Martín-Alguacil N, Avedillo L. Anatomic variations of the perineal arteries and nerves in the male and female dog and its clinical implications. Animals. 2023;13(12):1912 Kontakt PD Dr. Kirsti Witter, Institut für Morphologie, Veterinärmedizinische Universität, Wien, Österreich kirsti.witter@vetmeduni.ac.at 244 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Rechts vor Links: chirurgisches Fallbeispiel eines persistierenden rechten Aortenbogens (PRAA) beim Hund Jule Kristin Michler1, Anne Kühn2 1Veterinär-Anatomisches Institut, Veterinärmedizinische Fakultät der Universität Leipzig; 2Tierärztliche Klinik für Kleintiere, Panitzsch, Deutschland Einleitung Der persistierende rechte Aortenbogen (persistent right aortic arch, PRAA) ist eine kongenitale Blutgefäßanomalie. Sie gehört zu den vaskulären Ringanomalien und ist definiert als eine angeborene Fehlbildung im Bereich der Aorta bzw. der embryonal paarigen dorsalen und ventralen Aorten. Beim PRAA entwickelt sich die Aorta fehlerhaft rechts statt korrekterweise auf der linken Körperseite, so dass das Ligamentum (Lig.) arteriosum linksseitig den Ösophagus komprimiert. Infolge weiterer begleitender Anomalien resultieren Einengungen des Ösophagus unterschiedlichen Schweregrades [1,2,6]. Embryologie Während der Organogenese des Herzens und des Gefäßsystems kommt es beidseits der Mittelinie zu Zellclustern aus Angioblasten, die sich in endothelausgekleidete Schläuche entwickeln, die die zwei Aortae dorsales bilden. Anschließend kommt es zu einer anterio-posterioren Abfaltung um 180° am cephalen Teil der Embryonalscheibe. Der Herzschlauch selbst im kardiogenen Feld ist zu diesem Zeitpunkt bereits dreischichtig und in Epi-, Myo- und Endokard unterscheidbar. Vom Herzschlauch ausgehend bilden sich Ausbuchtungen, die sich zu den zwei Aortae ventrales entwickeln und so dem sich bildenden Ausflusstrakt des Herzens, dem Truncus arteriosus angeschlossen sind. Die durch die Abfaltung bedingte nun räumliche Beziehung der ventralen und dorsalen Aorten begründet die Ausbildung von Verbindungen, den Kiemenbogenarterien (auch Schlundbogenarterien; insgesamt sechs pro Seite). Einige der Kiemenbogenarterien sind beim Säuger rudimentär oder werden zurückgebildet, wichtig sind der dritte, vierte und sechste Aortenbogen, die sich zu Anteilen des Blutkreislaufs entwickeln. Aus den ventralen Aorten entwickeln sich zusammen mit dem Truncus arteriosus die Arteriae (Aa.) carotides comm. aus denen die Aa. carotides extt. hervorgehen. Die Aa. carotides intt. linke Kiemenbogenarterie bildet den späteren Arcus aortae, die vierte rechte Kiemenbogenarterie wird zum Truncus brachiocephalicus mit dem Anfangsabschnitt der Arteria (A.) subclavia dextra. leiten sich hingegen aus den Anfangsabschnitten der dorsalen Aorten ab. Die vierte Die sechste Kiemenbogenarterie bildet rechts die A. pulmonalis dextra und links die A. pulmonalis sinistra, die linksseitig zum Truncus pulmonalis konvergieren. Dieser bleibt bis zur Geburt über den Ductus arteriosus (Botalli) mit dem Aortenbogen verbunden und obliteriert dann zum -nicht mehr patenten- Lig. arteriosum. Anatomie Die aufgeführten Vorgänge führen zum bekannten (nicht anormalen) Situs von links: Man blickt nach Eröffnung des Thorax im mittleren Mediastinum auf das Herz, den nach dorsal abgehenden Truncus pulmonalis und den nach dorsal aufsteigenden Aortenbogen. Präpariert man das Mediastinum, Fett- und Bindegewebe an, stellt sich der Arcus aortae, dessen Abgänge sowie das Lig. arteriosum dar. Nach kranial entspringt zuerst der Truncus brachiocephalicus und danach die A. subclavia sinistra. Als wichtige Lymphgefäßstruktur dieser Region tritt auf Höhe des 5.-6. Brustwirbels tritt der Ductus thoracicus dorsal von rechts nach links und zieht linksseitig am Ösophagus vorbei. Fehlbildungen und Klinik Die zuvor beschriebenen Gefäßentwicklungen können zu einer Reihe an Fehbildungen führen, wobei sich zu dem PRAA weitere Gefäßanomalien zeigen können. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 245

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Anatomie verlass mich nie ___________________________________________________________________________________________________________ Kardiale Defekte treten bei 1 % aller Hunde als kongenitale Erkrankung auf. [3] Dabei stellt der PRAA die häufigste vaskuläre Ringanomalie mit einer Prävalenz von 95 % dar. [2,3,4,5] In fast der Hälfte dieser Fälle ist er mit weiteren Gefäßanomalien assoziiert, die zu Kompressionen der Trachea und des Ösophagus führen [2]. Mit dem PRAA koexistente Malformationen sind eine persistente linke V. cava cranialis, ein linkes Lig. arteriosum und eine aberrante linke A. subclavia [1,2,5,6]. Alle genannten Defekte können auch gleichzeitig auftreten, wobei das linke Lig. arteriosum die am stärksten einengende Komponente darstellt [1,4,5]. Der PRAA mit linkem Lig. arteriosum und aberranter A. subclavia sinistra kommt in den untersuchten Populationen am häufigsten vor [6]. Am häufigsten betroffen sind laut Studienlage Deutsche Schäferhunde und Irish Setter [1,2,4,5]. Für Greyhounds wird eine genetische Prädisposition diskutiert [3]. Regurgitieren ist das dominante Symptom bei Patienten mit vaskulären Ringanomalien, das oft nach der Entwöhnung im Welpenalter beginnt, da dann die Aufnahme von festen Futterbestandteilen erfolgt. Betroffene Hunde sind mitunter schmächtiger als die Wurfgeschwister. In pathologischen Untersuchungen mit multiplen kombinierten Gefäßanomalien konnten keine myokardialen oder pulmonalen Veränderungen nachgewiesen werden [1]. Die untersuchten Hunde mit PRAA hatten eine normale kardiovaskuläre Funktionalität [2]. Die Diagnostik der Patienten erfolgt initial mittels Röntgenaufnahmen des Thorax. Dabei sind präkardiale Dilatationen des Ösophagus mit einer ventralen Deviation der Trachea bei jungen und sehr jungen Patienten hinweisend für mögliche Gefäßanomalien [1,3]. Führt der Ösophagus zum Zeitpunkt der Untersuchung keinen Inhalt wie Ingesta, Gas oder Flüssigkeit, kann eine Kontrastierung durch die Eingabe von Bariumsulfat erfolgen [5]. Die computertomographische Angiographie (CTA) ist das Mittel der Wahl für die Darstellung abnormer thorakaler vaskulärer Strukturen und dient der Planung nachfolgender Operationen [5,6]. Prä- oder perioperative Endoskopien ermöglichen die Detektion von extraluminalen ösophagealen Strikturen über der Herzbasis [1,4,5]. Intervention Die chirurgische ist die Therapie der Wahl. Neben der Thorakotomie sind auch thorakoskopische Eingriffe möglich um die vaskulären Strikturen zu beheben [4,5]. Die Prognose ist als gut bis sehr gut einzuschätzen. [4,5] Ziel ist die vollständige Regression des Regurgitierens und eine Fütterung in normaler Position. Literatur 1. Biasato et al: Unusual Combination of Multiple Vascular Anomalities in a German Sheperd Puppy with Megaesophagus. Anat. Histol Embryol. Apr 46(2) 2017. 2. Buchanan JW: Tracheal signs and associated vascular ring anomalies in dogs with persistent right aortic arch. J Vet Intern Med 18:510. 2004. 3. Gunby et al: Investigation of the potential heritability of persistent right aortic arch in Greyhounds. JAVMA. Vol 224. No 7 2004. 4. House AK et al: Unusual vascular ring anomaly associated with a persistent right aortic arch in two dogs. J Sm Anim Pract 46:585. 2005 5. Regier PJ, Case JB, Fox-Alvarez: Ligation of the ligamentum arteriosum and aberrant left subclavian artery in five dogs in which persistent right aortic arch had been diagnosed. WA.Vet Surg. 2021 Jul;50. 6. Schorn C, Hildebrandt N, Schneider M and Schaub S: Anomalies of the aortic arch in dogs: evaluation with the use of multidetector computed tomography angiography and proposal of an extended classification scheme. BMC Vet Res. 17(387) 2021. Kontakt Dr. Jule Kristin Michler; Veterinär-Anatomisches Institut jule.michler@vetmed.uni-leipzig.de Dr. Anne Kühn; Tierklinik Panitzsch info@tierklinik-panitzsch.de 246 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Wie entwickelt sich unser Berufsstand? Antworten anhand der Statistik Severine Tobias Tierärztekammer Niedersachsen, Hannover Mit Blick auf die Zukunft tierärztlichen Berufsstand fokussiert sich der Vortrag auf zwei aktuelle Problemstellungen: „Tierärzt:innenmangel – Gefühl oder Realität?“ und die Fragen „Haben wir genügend Zahlen, um der drohenden Versorgungskrise mit zielgerichteten Strategien zu begegnen? Haben wir die richtigen Daten und werten wir sie entsprechend aus?“. Hierfür werden u. a. die BTK-Tierärztestatistiken der letzten rund 20 Jahre ausgewertet, Entwicklungen aufgezeigt und Fakten von Mythen getrennt. Angefangen mit Informationen zum System der Studienzulassung, Zahlen von Studienbewerbern und Studierenden sowie zu bestandenen Staatsprüfungen beantworten wir die Frage: „Ist fehlender Nachwuchs unser Problem?“. Genauer betrachtet wird auch die Entwicklung der Zahlen der tätigen Kolleginnen und Kollegen sowie die Altersstruktur und die Chancen, aber auch Herausforderungen die sich für die gesamte Branche und jede/n Einzelne/n, ob Tierärzt:in oder Tierhalter:in und deren Tiere daraus ergeben. Denn zusammengenommen mit den Strukturdaten von Tierarztpraxen und Kliniken sowie dem Branchenumsatz im Vergleich zu den Tierzahlen in Deutschland könnte es in absehbarer Zeit nicht mehr vorrangig darum gehen, wie hoch der Preis für die Behandlung eines kranken Tieres ist, sondern wer noch eine Tierärztin/ einen Tierarzt findet, um eine Behandlung durchführen zu lassen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Ergebnisse einer kammerübergreifenden Umfrage aus dem Jahr 2022 zum Thema „Zukunft der Tiermedizin“ eingegangen, die einen kleinen Einblick in die aktuellen Arbeitsstrukturen gibt und deutlich macht, dass insbesondere in der Mitte des Berufslebens vielfältige Anforderungen an uns gestellt werden: erfolgreich arbeiten, Familie gründen, Karriere machen, Eigentum schaffen, Weiterbildung absolvieren. Dies führt zu Teilzeitarbeitsmodellen oder Überlastung; Im schlechtesten Fall zu beidem. Ein Teil der Lösung können Arbeitszeitflexibilisierung und –verlässlichkeit durch intelligente Arbeitszeitmodelle, Rekrutierung von Wiedeinsteiger:innen und die vermehrte Nutzung digitaler Technologien sein. Fazit: Anhand von Statistiken zeige ich Ihnen u. a. die Altersstruktur, die Wochenarbeitszeit, die Verteilung der Berufsgruppen von Tierärztinnen und Tierärztinnen in Deutschland und Strukturdaten von tiermedizinischen Praxen/Kliniken. Was beschäftigt Tierärzt:innen aktuell und welchen Herausforderungen müssen wir uns in der heutigen Zeit stellen? Was müssen wir ändern? Lassen Sie uns die Zukunft diskutieren! Literatur Tierärztestatistik der Bundestierärztekammer 1999 - 2022 1. 2. Destatis 2023, Statistisches Bundesamt Kontakt Dr. Severine Tobias; Tierärztekammer Niedersachsen, Hannover tobias@tknds.de 248 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Was ist eine Tierarztpraxis heute eigentlich Wert? Wie können junge Tierärzt*innen den Kauf einer Praxis finanzieren? Andreas Herzog Vet-Consulting GmbH Etwa 3.500 selbständige Tierärzte* der Baby-Boomer-Generation wollen in den nächsten fünf bis zehn Jahren aufgrund des demographischen Wandels in den Ruhestand gehen. Das bedeutet auch: Für min. 3.000 Tierarztpraxen muss eine Nachfolgelösung gefunden werden. Aktuell ist nicht zu erkennen, dass nachfolgende Generationen in diesem Umfang eine Selbständigkeit anstreben, obwohl die wirtschaftlichen Perspektiven dafür ausgezeichnet sind. Das führt zu einem gesellschaftlichen Problem: Sollten Branche und Politik jungen Tierärztinnen hier keine Perspektive bieten, wird es keine flächendeckende Präsenz tierärztlicher Praxen mehr geben. Dies birgt die Gefahr, dass sich die tierärztliche Versorgung der Nutz- und Haustiere deutlich verschlechtern wird, wenn nicht sogar regional gefährdet ist. Die Übernahme einer Tierarztpraxis muss man immer aus zwei Perspektiven betrachten: Der des Verkäufers und des Käufers. Inhaber-Perspektive: Finde ich einen Nachfolger? Ein Praxisinhaber, der seinen Ruhestand plant, stellt sich zunächst zwei Fragen. 1. Was ist meine Praxis überhaupt wert? 2. Finde ich für die Praxis einen Nachfolger/Käufer? Der Markteintritt von Investoren ab dem Jahr 2015 bedeutet eine Zäsur für die Tiermedizin in Deutschland. Rückblickend wird man sagen, dass sich seitdem die Praxislandschaft grundsätzlich verändert hat. Auch beim Thema Praxisbewertung und Struktur der Praxisabgabe gibt es seitdem eine Zweiteilung. Während für Investoren der Cash Flow, also das Geld welches sich aus einer Praxis ziehen lässt, die entscheidende Größe ist, verwenden übernehmende Tierärzte häufig noch einen umsatzbasierten Wertansatz. Investoren stellen zusätzlich (üblicherweise) noch einige Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Übernahme überhaupt in Frage kommt. • Sie erwarten eine gewisse Größe der Praxis. Anicura, Evidensia, Altano kaufen ab ca. 1 Million Euro Umsatz und vier tierärztlichen Vollzeitstellen; bei den kleineren Ketten sind es mindestens 600k Euro Umsatz, bzw. drei Tierärzte. • Eine Mitarbeit des Verkäufers für mindestens drei weitere Jahre wird vorausgesetzt. • Die Kaufpreiszahlung erfolgt gestaffelt. Meist sind 60 - 70 Prozent sofort fällig, der Rest folgt aufgeteilt auf drei Jahre und zwar abhängig vom weiteren Umsatz oder Gewinn der Praxis. Diese Kaufpreiskomponente wird häufig auch Earn Out genannt. Bei der Übernahme durch Tierärzte haben häufig andere Faktoren eine hohe Priorität. • Die Erfahrung in der Beratungspraxis der letzten Jahre zeigt: Für einen Großteil der Tierärztinnen spielt der Standort einer Praxis – möglichst im Umkreis des derzeitigen Wohnorts – eine zentrale Rolle. Eigentlich waren nur ausländische Tierärzte maximal flexibel was den Praxisstandort betrifft. Für diese Käufergruppe sind dann die wirtschaftlichen Kennzahlen wichtiger. • Anders als bei Investoren ist eine langjährige Mitarbeit des abgebenden Tierarztes meist unerwünscht, da ja der Käufer die Rolle des bisherigen Praxiseigentümers einnehmen möchte. • Der Praxiswert wird bei Übernahme durch Tierärzte häufig wie folgt ermittelt: Umsatz x Faktor = ideeller Wert. Dabei erfolgt eine Aufteilung nach Leistungs- und Medikamenten-Umsatz. Der Faktor liegt zwischen 0,2 und 0,5, abhängig auch von Tierart, Lage und Größe der Praxis. • Hierzu kommt dann noch der Verkehrswert des Praxisinventars und der Wert der Medikamente und Verbrauchsmaterialien. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 249

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Die beim Verkauf an einen Tierarzt zu erzielenden Praxispreise liegen deutlich unter dem, was bei einem Verkauf an einen Investor möglich wäre. Inhaber sollte jedoch bedenken, dass sie in der Praxis noch drei Jahre weiterarbeiten müssen – und der Gewinn in dieser Zeit dem Käufer zusteht. Es gab deshalb schon Fälle, bei denen der Abgeber sich nicht schlechter gestellt hätte, wenn er diese Zeit noch weitergearbeitet und dann das Praxisinventar verkauft hätte. Jedoch spielen für solche Entscheidungen auch nicht monetäre Faktoren eine Rolle. Käufer-Perspektive: Kann ich den Kauf finanzieren? Aus der Sicht der potenziellen Übernehmer ist die zentrale, oft mit Sorge betrachtete Frage: Kann ich mir eine Praxis überhaupt leisten? Kann ich sie finanzieren? Langjährige Erfahrungswerte aus der Begleitung von Praxisübernahmen können Interessenten beruhigen: Ab einer bestimmten Umsatzgröße ist der Kauf einer Praxis sogar vollfinanziert ohne Eigenkapital möglich. Trotzdem hat ein Käufer – verglichen mit dem Gehalt in einer Anstellung – am Ende des Jahres nach Zins und Tilgung immer noch deutlich mehr Geld zur freien Verfügung. Das werden zwei Rechenbeispiele im Vortrag zeigen. Hilfreich sind dabei vor allem die Förderprogramme der KFW für Existenzgründer und die Abschreibungsmöglichkeiten für den ideellen Kaufpreis bei der Übernahme. Hierdurch „bezahlt“ das Finanzamt ca. 20 Prozent der Übernahmekosten. Deutschlands Tierarztpraxen sind moderat bewertet Zusammenfassend lässt sich sagen: Wirtschaftlich ist die Übernahme einer Tierarztpraxis auf absehbare Zeit lukrativ. In Deutschland sind die Praxen derzeit immer noch sehr moderat bewertet. Deshalb ist sogar eine hundertprozentige Finanzierung des Kaufpreises möglich. Außerdem ist das Angebot an Praxen größer als die Nachfrage. Deshalb müssen Tierärztekammern und Berufsverbände deutlich größere Anstrengungen unternehmen, um junge Tierärztinnen für eine Selbständigkeit zu begeistern und sie auf dem Weg zu unterstützen. Sollte das der Branche nicht gelingen, wird es in Deutschland spätestens in zehn Jahren ein brisantes Problem mit der tierärztlichen Versorgung insbesondere in den ländlichen Räumen geben. *Mit dem generischen Maskulinum oder Femininimum – etwa „Tierärztin“ / „Praxisinhaber“ / „Käufer“ etc. – sind in diesem Text immer Tierärzte, Tierärztinnen und weitere Geschlechteridentitäten gleichberechtigt gemeint. Die Reduzierung dient der besseren Lesbarkeit. Kontakt Dr. Andreas Herzog; Vet-Consulting GmbH, Ravensburg 250 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Unabhängig und trotzdem kein Einzelkämpfer Monika Richter VetFamily GmbH, Kempen VetFamily unterstützt unabhängige Tierarztpraxen und -kliniken Das Führen einer Tierarztpraxis oder -klinik ist heutzutage weit mehr als die reine Medizin für Tiere: Zunehmend anspruchsvollere Tierbesitzer, eine Fülle von Regularien und der branchenübergreifende Fachkräftemangel sind nur einige der Herausforderungen, die ein(e) Praxisinhaber:in meistern muss. Obwohl Personalmanagement, Buchhaltung/ Controlling und Marketing nicht Teil des Tiermedizinstudiums sind, hat dieses Wissen große Relevanz für eine erfolgreiche Praxisführung und die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit auf dem dynamischen Veterinärmarkt. Wer unabhängig bleiben, aber trotzdem Entlastung erfahren will und seine Wettbewerbsfähigkeit auch für morgen sichern will, dem steht VetFamily als Partner zur Seite und bietet vielfältige Lösungsangebote wie verbesserte Einkaufskonditionen, relevante Weiterbildungen, Arbeitserleichterung durch Prozessoptimierung und vieles mehr, so dass es auch in der heutigen Zeit Spaß macht, seine eigene Praxis unabhängig und erfolgreich zu führen. Wer steckt hinter VetFamily? VetFamily wurde von Tierärzten in Dänemark im Jahr 2002 gegründet, um gemeinsam bessere Einkaufskonditionen bei Lieferanten verhandeln zu können. Durch den Erwerb von Anicura 2014 wurde das Konzept in Schweden, Norwegen und 2017 auch in Deutschland eingeführt. Doch der Grundgedanke, die unabhängigen Tierarztpraxen und -kliniken zu stärken und ihnen ihre Autonomie zu lassen, waren mit einem Corporate-Konzept nur schwer vereinbar. So wurde VetFamily 2018 unabhängig und ist seit 2021 Teil des Tiergesundheitsunternehmens Vimian Group AB. Inzwischen ist VetFamily mit über 5.000 Mitgliedern weltweit (in Deutschland sind es 1.300+) in 10 Ländern vertreten und ist damit das größte Veterinärnetzwerk in Europa. Wie läuft eine Mitgliedschaft bei VetFamily ab? Interessierte Praxen und Kliniken können VetFamily acht Monate unverbindlich testen und dabei bereits alle Vorteile einer Mitgliedschaft nutzen. Hierzu zählen Einkaufsverbesserungen bei vielen relevanten Lieferanten aus den Bereichen Pharmazie, Verbrauchsmaterialien/ Praxisausstattung, Labor und Dienstleistungen on top auf die bereits verhandelten Konditionen. Darüber hinaus gibt es ein breites Unterstützungsangebot bei Themen wie Mitarbeiterbindung und -rekrutierung, Arbeitserleichterung durch Prozessoptimierung, digitaler Kommunikation und vielen mehr. Alle Mitglieder bleiben weiterhin komplett unabhängig und selbstbestimmt und nutzen nur für sie relevante Angebote. Es besteht aber eine Mitwirkungsmöglichkeit im Rahmen des VetFamily- Beirats. Kontakt Dr. Monika Richter, VetFamily GmbH, Kempen monika.richter@vetfamily.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 251

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Erfolge bei der Kooperation von inhabergeführten tiermedizinischen Einheiten am Beispiel des Verbundes unabhängiger Kleintierkliniken (VUK e.V) Dirk Remien Tierklinik Lüneburg Ausgangssituation Die Tiermedizin in Deutschland unterliegt seit den letzten Jahren einem umfangreichen strukturellen Wandel. Dies zeigt sich besonders in den intensiven Veränderungen im Kleintierbereich. Nicht zuletzt durch die Corona Pandemie steigen die Heimtierzahlen in Deutschland stetig an. Kurz gesagt die Branche boomt. In den tiermedizinischen Einheiten schreiten die Spezialisierung und Professionalisierung in den einzelnen Fachbereichen unaufhaltsam fort. Die größeren Einheiten werden immer grösser und wachsen im Personalbereich oft mit zweistelligen Zuwachsraten. Der technische Fortschritt und die gerätegestützte Medizin erreichen immer weitere Stufen. Ein Großteil der heute tätigen Tierärztinnen ist im Angestelltenverhältnis tätig. Der Wunsch nach Selbständigkeit, wie er noch vor Jahren bestand, liegt heute oft brach. Die geregelte Arbeitszeit mit überschaubaren Wochenarbeitszeiten und geregelten Ausgleichszeiten ist heute ein zentrales Element des Arbeitnehmermanagements. Dieser wichtige Strukturwandel war in der Tiermedizin lange überfällig. Es ist wichtig und richtig, dass sich endlich etwas tut. Arbeitgebende haben erkannt, wie zielführend ein modernes Arbeitnehmermanagement ist. Wir leben in einem Arbeitnehmermarkt, der vermehrt auf soziale Kompetenzen, Wertschätzung, Sinnhaftigkeit und verlässliche kompatible Arbeitszeiten fußt. Mit der GOT-Erhöhung im November 2022 haben sich die wirtschaftlichen Rahmen-bedingungen der Praxisführung noch einmal deutlich verbessert. Bisher zeigte sich die Tiermedizinbranche weitgehend krisensicher. Nach den Boomjahren der Coronakrise 2021 und 22 mit hohen Einkünften bleibt die Einnahmesituation bisher trotz hoher Inflation, Energiekrise und allgemeiner Konsumzurückhaltung recht stabil. Zusätzlich werden die überdurchschnittlichen Renditen in der Tiermedizin von Investoren erkannt. Klinikketten und Praxisgruppen führen über gemeinsame Management- und Einkaufstätigkeiten zu einer Konzentrierung am Markt. Inhabergeführte Einheiten versuchen ebenfalls ihre Ressourcen zu bündeln. Doch wie gelingt es den „privaten“ Einheiten sich für die Zukunft zu positionieren. Wie verändert sich der tiermedizinische Markt? Welche Lösungswege können bestritten werden? Was bringt ein Zusammenschluss für den einzelnen niedergelassenen Tierarzt? Der VUK als Arbeitgeberverbund ist mittlerweile ein starkes bundesweites Netzwerk von über 50 tiermedizinischen Einheiten, der gemeinsame Strategien und Synergie etabliert. Geschichte und Zahlen: Gegründet wurde der noch junge Arbeitgeberverband am 20.01.2019 in Lüneburg als Verbund unabhängiger Kleintierkliniken e. V. (VUK e.V.) von fünf norddeutschen Einheiten (TGZ Grußendorf und Oerzen sowie den Tierkliniken Rostock, Posthausen und Lüneburg). In den ersten Jahren wurde der Verbund hauptsächlich im Ehrenamt von den beiden Präsidenten Dr. Tim Bonin und Dr. Dirk Remien aufgebaut und einem kompetenten Vorstandsteam geführt. Schnell fanden sich neue Mitstreiter und der Verbund wuchs innerhalb von 2 Jahren auf über 25 tiermedizinische Einheiten. Zum 01.03.2023 nahmen, mit dem weiteren Wachstum und einer angestrebten Professionalisierung, zwei hauptamtliche Geschäftsführer ihre Arbeit im Verbund auf. Der Verbund konnte im zweiten Halbjahr 2023 seine Mitgliederzahlen auf über 50 tiermedizinische Einheiten erweitern. Zum 01.10.2023 ergaben sich folgende Strukturdaten innerhalb des Verbundes: 252 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ In den VUK-Einheiten arbeiten… … insgesamt 2.758 engagierte Menschen, darunter … 816 TierärztInnen … 1.465 TFA (Auszubildende inkludiert) … 467 nicht als Tierarzt und nicht als TFA VUK-Ausbildungsleistung: 413 Auszubildende Wer sind wir? Selbstverständnis: Wir verstehen uns als Arbeitgeberverbund, der die Interessen von privaten und inhabergeführten Kleintierkliniken, Tiergesundheitszentren und auf Klinikniveau arbeitenden Kleintierpraxen in der Bundesrepublik Deutschland vertritt. Aufgrund der gewachsenen Anforderungen an unseren Berufsstand haben wir erkannt, dass wir nur gemeinsam Lösungen für die aktuellen Probleme erarbeiten können. Als Verbund können wir mehr erreichen ohne unsere Individualität aufzugeben. Unsere Mitglieder sind tiermedizinische UnternehmerInnen, die für innovative Medizin auf hohem Niveau stehen, sich einem modernen Umgang mit ihren Arbeitnehmern verpflichten, sich für die Teilung von Wissen, der Bündelung von Ressourcen sowie der Förderung von Studierenden der Tiermedizin und AssistenztierärztenInnen einsetzen. Gesellschaftsform sowie der durch die Tierärztekammern verliehene Klinikstatus sind für eine Mitgliedschaft irrelevant. Was wollen wir? 1. Bildung einer Interessenvertretung für Arbeitgeber Eine reine Interessenvertretung für tiermedizinische ArbeitgeberInnen gibt es bisher in Deutschland nicht. Der BpT vertritt in vollem Umfang und zu gleichen Anteilen sowohl ArbeitnehmerInnen als auch ArbeitgeberInnen. Daher erschien die Gründung eines Verbundes sinnvoll, der die Arbeitgeberinteressen vertritt und sich für die Belange von größeren und inhabergeführten tiermedizinischen Einheiten im Kleintierbereich einsetzt. 2. Bildung eines starken Netzwerkes Die Anforderungen an Unternehmensführungen von tiermedizinischen Einheiten haben sich in den letzten Jahren deutlich verkompliziert. Insbesondere größere Praxen und Kliniken setzen sich täglich mit denselben Problemfeldern auseinander. Hier bietet der VUK ein Netzwerk. Wir entwickeln gemeinsam Strategien, um Lösungen für die Probleme des Arbeitgeberalltags zu finden und sie allen Mitgliedern zur Verfügung zu stellen. So muss nicht jeder das Rad neu erfinden. Der VUK unterstützt seine Mitglieder bei der Bewältigung des wirtschaftlichen Wandels und bei notwendigen Strukturanpassungen, insbesondere in organisatorischen sowie personellen Angelegenheiten. 3. Berufspolitische Einﬂussnahme Wir sind der Auffassung, dass Arbeitgeberinteressen noch deutlicher und nachhaltiger in der Berufspolitik berücksichtigt und erläutert werden sollten. 4. Moderner Umgang mit ArbeitnehmernInnen Das Unternehmen ist die Summe der Einzelleistungen seiner Mitarbeiter. Daher setzen wir uns für ein modernes Mitarbeitermanagement ein. Arbeitszeitgesetz (AzG) und Politik stellen uns hierbei vor besondere Aufgaben. Das Arbeiten gegen die Zeit muss erst erlernt werden. Hier möchte der VUK als Interessenvertretung seiner Mitglieder gemeinsam mit der Politik und Arbeitnehmern nach Lösungen suchen (z.B. Schulungen zum AzG, Sammlung beispielhafter arbeitszeitgesetzkonformer Dienstpläne sowie die Begleitung betrieblicher Einzelgenehmigungsverfahren, etc.). Die Diskussion um Entlohnungsmodelle ist wichtig und richtig, jedoch halten wir eine Versachlichung der Debatte sowie die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungskraft von Arbeitgebern für erforderlich. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 253

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ 5. Verbesserung des Arbeitgeberimages Das Ansehen von Kleintierkliniken als Arbeitgeber hat aufgrund schlechter Mitarbeiterführung und durchgehender Missachtung des Arbeitszeitgesetzes gelitten. Viele Kliniken und Praxen haben jedoch längst ihre Dienstpläne auf Arbeitszeitkonformität getrimmt, angemessene Gehaltsmodelle entwickelt sowie modernes Mitarbeitermanagement in weiten Teilen umgesetzt. Dies gilt es nun mit Hilfe des VUK nach außen darzustellen. 6. Erarbeitung eines Tarifvertrages Da es in der Tiermedizin keinen Tarifvertrag für tierärztliche AssistentenInnen gibt, gilt für uns alle das Arbeitszeitgesetz in seiner härtesten Form. Daher erscheint es auf lange Sicht sinnvoll, einen Tarifvertrag für unsere ArbeitnehmerInnen zu entwickeln. Bis dahin ist es aber noch ein langer und steiniger Weg. Hierbei geht es auch um die finanzielle Aufrechterhaltung des Streikrechtes. Mit einer Mitgliedschaft im VUK unterwirft man sich nicht automatisch einer Tarifbindung. Wie in anderen modernen Arbeitgeberverbänden auch soll es künftig eine „oT-Mitgliedschaft“ - also Mitgliedschaft ohne Tarifbindung - geben. 7. Förderung innovativer Tiermedizin, Organisation von Fortbildungen Unsere Mitglieder arbeiten auf hohem ist weit vorangeschritten und muss sich hinter den Standards der Humanmedizin nicht verstecken. In regelmäßigen Fortbildungszyklen wollen wir unser Wissen bündeln und an unsere Mitglieder weitergeben. 8. Förderung von tierärztlichen Mitarbeiter:innen, TFA`s und Studierenden tiermedizinischen Niveau. Die Spezialisierung Der Kampf um Mitarbeiter:innen ist bei einem sich verschärfenden Fachkräftemangel im vollen Gange. Studierende und Arbeitnehmer sollen durch besondere Fortbildungen gezielt gefördert und gebunden werden. Praktikanten:innen sind die Arbeitnehmer von morgen. Für sie schafft der VUK eine Plattform. Rotationsprogramme durch spezialisierte VUK-Einheiten sollen schon Studierende im praktischen Jahr gezielt fördern. Das Praktikum wird dabei nach einem definierten Standard angeboten. Um dem gerecht zu werden, haben wir gemeinsam mit dem BVVD einen Praktikumsleitfaden entwickelt, der Qualitätsstandards sowie die Vermittlung der sog. First-Day-Skills sicherstellt. Ferner liegen uns Wertschätzung und Weiterbildung unserer Tiermedizinischen Fachangestellten besonders am Herzen. Gemeinsame Jobbörsen an den fünf tiermedizinischen Fakultäten sowie die Teilnahme an Fortbildungen und nationalen Kongressen sollen unterstützt werden. 9. Verbesserung von Einkaufskonditionen Dass der gemeinsame Einkauf von Medikamenten und Verbrauchsmaterialien erfolgreich organisiert werden kann wurde schon an anderer Stelle bewiesen. Dies sollte bei Vereinigungen von privat geführten tiermedizinischen Praxen und Kliniken ebenfalls gelingen. Hierzu ist eine VUK- Einkaufsgemeinschaft im aktiven Aufbau. 10. Schaffung eines Qualitätssiegels In der weiteren Entwicklung erachten wir es als vorteilhaft, wenn sich die Mitglieder des VUK durch gemeinsame Leitlinien und Standards und mit Hilfe eines eigenen Labels absetzen. So ließe sich eine durchgehende Qualität sichern, um sich dadurch gegenüber unseren Kunden, dem Arbeitsmarkt und Geschäftspartnern zu behaupten. 11. Zukunftsorientiertes sowie umwelt- und ressourcenschonendes Handeln Die Welt, in der wir leben, geht uns alle an. Wir setzen uns für ein umwelt- und ressourcenschonendes Handeln ein. Dem gezielten und verantwortungsvollem Einsatz von Medikamenten kommt eine besondere Bedeutung zu. 12. Verbandsübergreifende Zusammenarbeit Wir setzen unsere Kräfte zum Wohle des tierärztlichen Berufsstandes ein. Damit dies gelingt streben wir eine verbandsübergreifende Zusammenarbeit mit Arbeitnehmer- und Fachschaftsvertretungen an. Unser 254 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Wirken steht ausdrücklich nicht in Konkurrenz zur Arbeit des BpT. Gleichzeitig reichen wir den anderen Berufsverbänden zur Gestaltung der tierärztlichen Zukunft vertrauensvoll die Hand. Weitere Infos auf der Homepage: www.vuk-vet.de Kontakt Dr. Dirk Remien; Präsident VUK e.V., Tierklinik Lüneburg D.Remien@gmx.net 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 255

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Telemedizin in der Rinderpraxis – moderne Telemedizin entlastet Landwirt und Tierarzt Michael Schmaußer Tierärztliche Gemeinschaftspraxis und Hausapothekengesellschaft GbR, Freising Positionspapier der FVE: Die Föderation der Tierärztlichen Europäischen Vereinigungen unterstützt die Telemedizin in der Tiermedizin. In Deutschland ist Telemedizin in den Heilberufsgesetzen der Länder nicht verboten und wird teilweise sogar explizit erwähnt, wie im Heilberufsgesetz Niedersachsen (HKG Nds). Die Muster-Berufsordnung der BTK (Bundestierärztekammer) enthält ebenfalls einen Abschnitt (§ 12 VI), der Tierärzten die Nutzung von Kommunikationsmedien zur Unterstützung bei der Behandlung erlaubt. Tierärztliche Sorgfaltspflicht: Die tierärztliche Sorgfaltspflicht ist ein zentraler Aspekt der Telemedizin. Gemäß § 14 II der Berufsordnung der Tierärztekammer Niedersachsen ist eine tierärztliche Tätigkeit über digitale Kommunikationsmedien erlaubt, wenn sie tierärztlich vertretbar ist. Dabei müssen die erforderliche tierärztliche Sorgfalt, die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung und Dokumentation gewahrt werden. Patientenbesitzer müssen über die Besonderheiten der ausschließlichen tierärztlichen Tätigkeit über Kommunikationsmedien aufgeklärt werden. Digitale Tierarztpraxis: Die digitale Tierarztpraxis umfasst verschiedene Aspekte wie Praxisdaten (Diagnostik, Krankengeschichten, Laborbefunde), Tiergesundheitsüberwachung (HiTier, Mlp, ProGesund), Umweltdaten (Haltung, Klima, Wasser), Tiersensordaten (Physiologische Parameter, Ortung, Futteraufnahme) und Telemedizin. Durch die Vernetzung dieser Daten können automatische Alarmsysteme bei Abweichungen eingesetzt werden. ITB und Telemedizin zur Früherkennung: ITB und Telemedizin tragen zur Früherkennung von Tiergesundheitsproblemen bei. Risikoorientiertes Management, die Beobachtung von Kuhsignalen, Tiergesundheitsbesuche durch Tierärzte (AHL) sowie die Auswertung von Mortalitäts- und Schlachttierbefunden sind hierbei hilfreiche Instrumente. Eine Tiergesundheitsdatenbank ermöglicht eine effiziente Datenauswertung. Zukunftsfelder Telemedizin: In der Zukunft bieten sich weitere Möglichkeiten für Telemedizin in der Rinderpraxis. Dazu gehören der Zugriff auf Betriebsdaten, überregionale ITB-Tierarztpraxen mit Experten, konsiliarische Beratung, Nutzung von Live-Daten und künstlicher Intelligenz (KI). Telemedizin kann auch in der tierärztlichen Lehre und Propädeutik eingesetzt werden. Im Bereich Tierwohl und Tierschutz gibt es Potenzial (Notschlachtung, Transportbescheinigungen, Schlachtbefunde), Verlaufs- und für Amtstierärzte Erfolgskontrolle, Biosicherheit rechtssichere Dokumentation. Die Arbeitsrechtliche Aspekte, wie die Elternzeit für Tierärzte, sind ebenfalls zu berücksichtigen. im Seuchenfall, Triage und Notfallmanagement sowie Ausblick und Herausforderungen: Es bleibt zu klären, wie die Ausbildung und Weiterbildung von Tierärzten im Bereich Telemedizin gestaltet werden kann. Die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Landwirten, Veterinärämtern, Tierärzten und ITB-Anbietern ist von entscheidender Bedeutung, um die Vorteile der Telemedizin bestmöglich zu nutzen. Die Einführung von Tiergesundheitsbesuchen und die Nutzung einer umfassenden Tiergesundheitsdatenbank können die Telemedizin in der Rinderpraxis weiter vorantreiben. Kontakt Dr. Michael Schmaußer, Tierarztpraxis Freising und BESTandsbetreuung Bayern 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 257

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Digitale Geschäftsmodelle neu denken - Wie verändert KI den Praxisalltag? Hubertus Keimer1, Tobias Knopf2 1Laboklin GMBH & COKG Bad Kissingen, DZK – Dessauer Zukunftskreis; 2Hochschule Anhalt, Bernburg Anleitung für zukunftsfähige, digitale Optimierungsmöglichkeiten Personalmangel und der effektive Einsatz von Personalressourcen, verändertes Kommunikationsverhalten und neue Kundenbedürfnisse sind die elementaren Herausforderungen in der Tierarztpraxis, die es anzupacken gilt. Durch eine Analyse des Status quo, dem Identifizieren von Optimierungspotentialen und veränderten Kundenbedürfnissen oder Marktanforderungen können Geschäftsideen zu Geschäftsmodellen weiterentwickelt werden. Was bedeutet neu und digital zu denken bzw. die digitale Transformation? • Neudenken / Umdenken / Bekanntes neu und anders kombinieren • Begriffe neu denken • Neugierig bleiben, Mut zur Veränderung haben und über den Tellerrand schauen • Gesamte Praxisstruktur und Abläufe in einzelne Bausteine zerlegen und ggf. neu kombinieren mitunter zur Hilfenahme der digitalen Transformation • Bedürfnisse und Innovationen bestimmen und entsprechend ausbauen (Webseite, Social Media, Telemedizin usw.) oder Marktanforderungen können Geschäftsideen zu Geschäftsmodellen weiterentwickelt werden. Was bedeutet neu und digital zu denken bzw. die digitale Transformation? • Aufbau eines heterogenen, agilen und motivierten Teams zur Bewältigung alter sowie neuer veterinärmedizinischer und digitaler Aufgaben • Bekanntes über Bord werfen, gewohnte Denkmuster verlassen und Denkgrenzen überschreiten • In diesem Transformationsprozess sollten die Ziele ausnahmsweise nur vage formuliert werden, um den Kreativitätsprozess nicht einzuschränken • Andere Branchen und Bereiche als digitalen Ideengeber nutzen und auf Anwendbarkeit für die eigenen Ideen überprüfen Beschreibung der Vorgehensweise step-for-step Ihr Anliegen ist es, dass Sie Ihr bestehendes Praxismodell und die Praxisstrukturen neu digital denken. Dafür ist das generelle Geschäftsmodell der Tierarztpraxis inkl. der angebotenen Dienstleistungen und Behandlungen rund um das Tier und die Tiergesundheit im Einzelnen zu hinterfragen und ggf. anzupassen. Praxisbeispiele: Nutztier-, Kleintier- und Pferdepraxis Wie verändert KI den Praxisalltag? Die Implementierung von künstlicher Intelligenz (KI) in Tierarztpraxen ist essenziell, um mit den aktuellen technologischen Entwicklungen Schritt zu halten und zukunftsfähig zu werden. Erstens sollte jede Praxis in digitale Verwaltungssysteme investieren, die KI-Technologien integrieren können. Diese Systeme ermöglichen eine effizientere Patientenverwaltung, Terminplanung und Rechnungsstellung, was den Arbeitsfluss verbessert und Zeit spart. Zweitens ist es ratsam, diagnostische Hilfsmittel zu nutzen, die durch KI unterstützt werden. Diese Tools können Bild- und Labordaten analysieren, um genaue Diagnosen schneller zu erstellen, und unterstützen Tierärzte bei der Entscheidungsfindung. 258 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufspolitisches Forum ___________________________________________________________________________________________________________ Des Weiteren können Praxen von automatisierten Kommunikationsplattformen profitieren, die durch KI personalisierte Nachrichten an Tierbesitzer senden. Dies verbessert die Kundenbeziehung und fördert eine proaktive Gesundheitspflege für die Tiere. Schließlich ist es entscheidend, regelmäßige Schulungen für das Praxisteam anzubieten, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter mit den neuen digitalen Tools und KI-Technologien vertraut sind und diese effektiv nutzen können. Fazit Durch digitale Prozesse und Anwendungen von KI in der veterinärmedizinischen Praxis werden Arbeitsprozesse und damit der Einsatz von Personalien positiv verändert, wie auch die Praxis produktiver. Diskussion Status Quo- welche KI-Anwendungen werden schon genutzt? Wie sieht die Praxis 2030 aus? Literatur 1. Hoffmeister, C. (2022). Digital Business Modelling: Digitale Geschäftsmodelle verstehen, designen, bewerten. Carl Hanser 2. Verlag GmbH & Co. KG 2022 Lukas, T. (2017). Business Model Canvas – Geschäftsmodellentwicklung im digitalen Zeitalter. In Lukas, T., Führungsinstrumente aus dem Silicon Valley (143–159), Springer 2018 3. Osterwalder, A. and Pigneur, Y. (2010). Business Model Generation: A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers. Wiley 2010 Kontakt Hubertus Keimer; DZK Dessauer Zukunftskreis, Oranienbaum – Wörlitz Keimer@laboklin.com 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 259

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Beratung, Empfehlung oder Anweisung? Was Tierärzte über das Gespräch mit Tierhaltern wissen sollten Joachim Lübbo Kleen Alta Deutschland GmbH, CowConsult Einleitung Die Arbeit von Tierärzten ist immer auch die Arbeit mit Menschen: Ob Mitarbeiter in der Praxis, der Austausch mit Kollegen und Behörden, vor allem aber natürlich der Kontakt mit dem Klienten, dem Patientenbesitzer – Neben der Arbeit am Tier besteht im Kontakt mit dem Menschen die zweite Hauptaufgabe von Tierärzten. Probleme entstehen häufig genug durch Fehler in der Kommunikation zwischen Tierarzt und Klient: Eine alltägliche Erfahrung des praktisch tätigen Tierarztes. Gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten ist daher Grundlage einer fachgerechten tierärztlichen Praxis (1). Kommunikation – ein wirtschaftlicher Faktor Nicht nur in der Kleintierpraxis ist Kommunikation wichtig: Auch in der Großtierpraxis ist der Tierarzt zunehmend auf Kenntnisse in der Kommunikation angewiesen (2). Die zunehmende Bedeutung erklärt sich durch - - - - Zunehmende Komplexität des tierärztlichen Umfelds, daher Stärkere Beratungstätigkeit des Tierarztes neben der rein kurativen Praxis Notwendigkeit, häufig vielschichtige Probleme zu verdeutlichen und Komplexe Hinweise und Behandlungen zu erläutern und anzubieten. Gerade am letzten Punkt wird deutlich, dass Kenntnis in der Kommunikation auch ein wichtiger Aspekt für die Einnahmesituation einer Praxis sein kann. Aus der Humanmedizin ist bekannt, dass die Zufriedenheit des Patienten, somit auch eines Kunden, nicht nur von der fachlichen Qualität der medizinischen Versorgung, sondern auch von der Kommunikation zwischen Arzt und Patient abhängt (3): Übertragen auf die Tierarztpraxis bedeutet dies, dass eine funktionierende Kommunikation, mithin ein „Sich-Verstehen“, einen wesentlichen Aspekt in der Bindung von Klienten darstellt. Kommunikation in Theorie und Praxis Wie bereits erwähnt, ist Kommunikation ein Bestandteil der täglichen Arbeit eines praktisch tätigen Tierarztes: Sie muss nicht als solche gelernt werden, Kommunikation läuft von selbst. Es kann sich allerdings als nützlich erweisen, einige Grundkenntnisse in Kommunikationslehre zu erwerben: Situationen, in denen es zu auseinandergehenden Ansichten mit dem Klienten kommt, sind jedem Tierarzt nur zu bekannt. Häufig wird hierbei festgestellt, dass die Ursache einer Störung im Verhältnis weniger in fachlichen Fragen zu suchen ist, als vielmehr darin, dass die persönlichen Standpunkte nicht „richtig“ vermittelt wurde, es letztlich an gegenseitiger Anerkennung, an Vertrauen mangelt. Kommt es so sogar zu einem Konflikt, kann das Wissen um grundlegende Techniken und Modelle in der Kommunikation nützlich sein, um die Situation zu entspannen und so erneut eine Grundlage für die tierärztliche Tätigkeit zu schaffen. Instrumente für den Tierarzt Kommunikationsmodelle können auf einfache Weise veranschaulichen, was in der Kommunikation neben dem einfachen Austausch einer Sachbotschaft alles passiert (4): So wird, bewusst oder unbewusst, auch über das Verhältnis der Gesprächspartner zueinander, ihre vielleicht uneingestandenen Befürchtungen oder Ziele gesprochen, ohne dies auszusprechen: Dies ist ein Vorgang, der sich nicht vermeiden lässt. Das Wissen um Abläufe in der Kommunikation kann dazu dienen, die eigene Situation besser zu erfassen und Klarheit über die Beziehung zwischen Tierarzt und Klient zu erlangen. Dies ist kein Selbstzweck, sondern der Ansatzpunkt, um mit Hilfe einfacher, zu erlernender Techniken eine Situation so zu gestalten, dass ein Ziel 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 261

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ erreicht wird: Ein gesundes Verhältnis Tierarzt – Klient, welches dem Tier, aber auch den Menschen von größtem Nutzen ist. Weiterbildung: Kommunikation als Praxiselement Es erscheint sinnvoll, auch Tierärzten die Möglichkeit zu bieten, sich Kenntnisse in der Kommunikation anzueignen. Wenn dies zudem in einer Umgebung geschieht, die dem Fach verpflichtet ist und Kommunikationstechniken in einem Zusammenhang zum Beruf des Tierarztes vermittelt, kann so ein eigenständiger Beitrag für Gute Tierärztliche Praxis geleistet werden. Teilnehmer einer solchen Fortbildung können aus eigener Erfahrung berichten: Die Analyse solcher Erfahrungen ist wertvoll und bietet eine Basis für zielgerichtete Vermittlung theoretischer Grundlagen. Durch Hilfsmittel wie Videoaufzeichnungen kann eine Weiterbildung abwechslungsreich und an den Erfahrungen der Teilnehmer ausgerichtet werden: So dient die Fortbildung konkret der eigenen Erfahrung. Die Hemmschwelle, solche Weiterbildungen zu belegen, sollte durch die sichtbare Einbindung in ein dem Beruf verpflichtetes Umfeld gesenkt werden. Dies kann durch größere Weiterbildungsreihen, aber auch die Einbindung von Tierärzten als Referenten geschehen, die aus der eigenen Erfahrung berichten. Evaluation, Weiterentwicklung, Veröffentlichung Weiterbildung für Tierärzte sollte sich nicht in der einfachen Wissensvermittlung erschöpfen: Die Evaluation ist auch im Bereich von Kommunikation ein wichtiger Bestandteil. Sie kann sogar einen Schritt weiter gehen: Teilnehmer einer solchen Weiterbildung sollten vorher über ihre Erlebnisse in der Praxis und die Erwartungen an den Kursus befragt werden. Zusammen mit der Evaluation nach dem Seminar erhält man so eine Übersicht der Erfahrungen praktisch tätiger Kollegen. Diese ad-hoc Evaluation kann durch eine mittelfristige Befragung ergänzt werden: So kann man darüber Aufschluss erhalten, ob die vermittelten Inhalte zur Anwendung gekommen sind, und ob sie sich als brauchbar erweisen. Diese Fakten sind zusammengenommen eine wichtige Darstellung der Probleme in der Praxis und der Möglichkeiten, diese zu lösen: Dies kann veröffentlicht werden und so ein besseres Problembewusstsein schaffen, aber auch als Grundlage für Verbesserungen im Angebot dienen. Schlussbemerkung Kommunikation ist mehr als „Psycho-Quatsch“, und die Berührungsangst davor ist unbegründet. Einfache Kenntnisse in der Kommunikation können auch dem praktisch tätigen Tierarzt helfen, seinen Praxisalltag besser zu gestalten, Klienten besser an sich zu binden und so in vielerlei Hinsicht erfolgreich zu sein. Ein Großteil unserer Arbeit hängt von anderen Menschen ab: Nutzen wir die Weiterbildung, um auch hier besser zu werden! Literatur 1. Royal College of Veterinary Surgeons (RCVS): Maintaining practice standards; London 2006, www.rcvs.org.uk 2. J. Cannas da Silva, J.P.T.M. Noordhuizen, M. Vagneur, R. Bexiga, C.C. Gelfert und W. Baumgartner (2006): Veterinary dairy herd health management in Europe: constraints and perspectives; Veterinary Quarterly 28:1, 23-32 3. B.L. Svarstad (1976): Physician-patient communication and patient conformity with medical advice; John Wiley and sons, New York F. Schulz v. Thun (1981): Miteinander Reden – Band 1: Störungen und Klärungen; Rowohlt Verlag, Reinbek 4. Kontakt Dr. Joachim Lübbo Kleen; Alta Deutschland GmbH, CowConsult 262 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Tierärzte auf Erfolgskurs: Vielfältige Karrieremöglichkeiten in der veterinärpharmazeutischen Industrie Daniel Sicher MSD Animal Health, München Der Vortrag mit dem Titel "Tierärzte auf Erfolgskurs: Vielfältige Karrieremöglichkeiten in der veterinärpharmazeutischen Industrie" bietet einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Karrierewege und spannenden Perspektiven, die Tierärzten in der veterinärpharmazeutischen Industrie offenstehen. Der Redner teilt seine persönliche Karriereerfahrung und führt die Zuhörer durch die verschiedenen Bereiche der Branche, angefangen vom Vertrieb und der medizinischen Forschung bis hin zum Produktmanagement, regulatorischen Angelegenheiten und unterstützenden Funktionen wie Business Development und Learning & Development. Die veterinärpharmazeutische Industrie widmet sich dem Wohl von Tieren, sei es als Haustiere oder Nutztiere. Hier werden veterinärmedizinische Expertise und pharmazeutisches Wissen vereint, um innovative Tierarzneimittel und Therapien zu entwickeln, die das gesunde und glückliche Leben der Tiere ermöglichen. Neben dem Tierwohl steht auch das Interesse von Tierhaltern, Tierärzten und der Gesellschaft im Fokus. Die Branche unterliegt spezifischen regulatorischen Anforderungen und ethischen Grundsätzen, da das Wohl der Tiere immer oberste Priorität hat. Der globale Tiergesundheitsmarkt ist ein Wachstumsmarkt und wird von internationalen Originalherstellern dominiert. Daneben gibt es jedoch auch mittelgroße Unternehmen, die eine wesentliche Rolle spielen. Der Markt umfasst verschiedene Segmente wie Impfstoffe, Antiparasitika und digitale Technologien, die zunehmend an Bedeutung gewinnen. Besonders der Markt für Haustiere erfährt ein stetiges Wachstum, da immer mehr Menschen Haustiere als Familienmitglieder betrachten und ihnen mehr Aufmerksamkeit und Pflege schenken. Auch der Markt für Nutztiere wächst aufgrund der steigenden Nachfrage nach tierischem Eiweiß mit der wachsenden Weltbevölkerung und der steigenden Kaufkraft. und zu erfordert erforschen. Das Produktmanagement Innerhalb der veterinärpharmazeutischen Industrie bieten sich Tierärzten eine Vielzahl von Karrieremöglichkeiten. Im Vertrieb sind Fachwissen, Kommunikationsfähigkeiten und Kundenorientierung gefragt, um erfolgreich Tierärzten und Tierklinikpersonal Produkte anzubieten, die ihren Bedürfnissen entsprechen. In der medizinischen Forschung ist eine Kombination aus veterinärmedizinischen Kenntnissen, analytischen Fähigkeiten und Kreativität erforderlich, um innovative Tierarzneimittel und Therapieansätze zu entwickeln strategisches Denken, Verhandlungsgeschick und Kundenorientierung, um Tierarzneimittel erfolgreich zu positionieren und weiterzuentwickeln. In regulatorischen Angelegenheiten spielen ein tiefes Verständnis der Gesetzgebung und der Branche sowie organisatorische Fähigkeiten eine entscheidende Rolle, um sicherzustellen, dass alle Zulassungsanforderungen erfüllt sind. Unterstützende Funktionen wie Business Development erfordern strategisches Denken, Verhandlungsgeschick und Marktkompetenz, um neue Geschäftsmöglichkeiten zu identifizieren und Partnerschaften zu knüpfen. Für das Learning & Development-Management sind umfassende Kenntnisse im Bereich Schulungs- und Weiterbildungsstrategien gefragt, um effektive Lernprogramme zu entwickeln und umzusetzen. Tierärzte, die eine Karriere in der veterinärpharmazeutischen Industrie anstreben, sollten sich zunächst selbst reflektieren und herausfinden, welche Berufsfelder sie am meisten interessieren und wo ihre Stärken und Leidenschaften liegen. Es ist wichtig, Informationen über die verschiedenen Bereiche und Karrierewege zu recherchieren, sich mit Fachleuten auszutauschen und möglicherweise Praktika oder Hospitationen in Unternehmen der Branche zu absolvieren. Networking-Veranstaltungen und Online-Plattformen können dabei helfen, Kontakte zu knüpfen und wertvolle Einblicke in die Branche zu erhalten. Abschließend lässt sich sagen, dass eine Karriere in der veterinärpharmazeutischen Industrie Tierärzten die Möglichkeit bietet, ihre Kenntnisse und Leidenschaft für die Tiergesundheit in einem breiteren Kontext einzusetzen. Die Branche stellt eine bedeutende Rolle in der Verbesserung der Tiergesundheit und des 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 263

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Von der Pferdetierärztin zum Vertriebsprofi für Röntgensysteme – fast unbegrenzte Möglichkeiten für Tiermediziner in der Medizintechnik Miriam Rosenbaum VetZ GmbH Isernhagen Mein Name ist Miriam Rosenbaum. Ich bin Tierärztin, habe an der JLU in Gießen studiert und dort auch im Anschluss gearbeitet. Nach meiner Zeit in Gießen habe ich im Sauerland als praktische Tierärztin im Bereich Pferdemedizin gearbeitet. Schnell wurde mir klar, dass ich die Erfahrung, die ich an der Universität und in der Praxis gesammelt habe, noch anderweitig nutzen möchte. Im Jahr 2010 habe ich meine erste Stelle bei VetZ in Isernhagen angetreten. Lange war ich dort im Außendienst als Vertriebsmitarbeiterin für unsere Röntgensysteme beschäftigt. Mittlerweile habe ich ergänzend das Produktmanagement für diese Systeme übernommen. Dazu bin ich nicht mehr nur in der DACH-Region, sondern auch europaweit unterwegs. In meinem Vortrag möchte ich gerne allen Student:innen die Möglichkeiten aufzeigen, die man über den Einsatz in der Praxis hinaus, mit einem Studium der Tiermedizin nutzen kann. Mein Beruf ermöglicht es mir weiterhin den Praxisalltag zu erleben und den Kontakt mit Kollegen zu pflegen. Bei VetZ arbeiten aktuell ca. 25 tierärztliche Kollegen in verschiedensten Abteilungen. Das ermöglicht uns den Tierärzten in der Praxis perfekt abgestimmte Produkte für alle Bereiche der Tiermedizin zur Verfügung stellen zu können. So profitieren am Ende alle unsere Kunden von dem vorhandenen Fachwissen. Kontakt Miriam Rosenbaum; VetZ GmbH, Isernhagen m.rosenbaum@vetz.vet 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 265

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Tierärzte als Wegbereiter für humanmedizinische Innovationen: Anspruchsvolle Aufgaben und Verantwortlichkeiten bei einem globalen Forschungsunternehmen Lars Mecklenburg Labcorp Early Development Services GmbH, Münster/Westfalen Jährlich wenden deutsche Unternehmen knapp 8 Milliarden Euro für Medikamentenforschung und klinische Studien mit Probanden auf. Im zurückliegenden Jahr wurden für mehr als 60 Krankheiten neue Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten geschaffen. Dafür haben Pharmaunternehmen im Jahr 2022 insgesamt 49 Medikamente mit neuem Wirkstoff auf den Markt gebracht. Für 24 bereits zugelassene Medikamente wurde eine Zulassungserweiterung auf ein neues Anwendungsgebiet erreicht. Das Krankheitsspektrum reicht dabei von Atopischer Dermatitis über Lungenkrebs und Multiples Myelom bis zu Wachstumsstörungen (www.vfa.de). Moderne Arzneimittel sind Hightech-Produkte. Und Hightech ist auch nötig, um sie zu erforschen und zu entwickeln: neueste Analyse- und Synthesetechnik, gentechnische Labors, Hochleistungs-Computer, Analyseroboter und vieles mehr. Pharmaforscher und ihre Mitarbeiter müssen hoch qualifiziert sein, um gestützt auf die neuesten biomedizinischen Ergebnisse Wege zur Zulassung von Medikamenten von morgen zu ebnen (www.vfa.de). Auch Tierärzte spielen dabei eine wichtige Rolle, denn um Medikamente und Impfstoffe entwickeln zu können, müssen Forscher neben vielen anderen Tests auch Tierversuche durchführen. Diese Versuche dienen dem Verständnis von Krankheitsvorgängen und neuen Therapieansätzen oder der Feststellung der Unbedenklichkeit. Letztere ist die Untersuchung, welches Gefahrenpotential von dem neuen Wirkstoff ausgeht, bevor er an Patienten eingesetzt wird. Tierärzte werden in der pharmazeutischen Industrie gebraucht, um die Planung von Tierversuchen zu unterstützen, damit diese den Grundsätzen der 3R (Reduce, Replace, Refine) entsprechen. Sie helfen auch, neue Wirkstoffe mittels chirurgischer Verfahren zu verabreichen, die Gesundheit von Versuchstieren zu gewährleisten oder die ethische Vertretbarkeit jedes einzelnen Versuchs zu beurteilen. Dabei ist eine Ausbildung zur Fachtierärztin/Fachtierarzt für Versuchstierkunde sinnvoll. Des Weiteren werden Fachtierärztinnen/Fachtierärzte für Pathologie eingesetzt, um Gewebe von Tieren aus Tierversuchen zu untersuchen (1). Fachtierärztinnen/ Fachtierärzte für öffentliches Veterinärwesen sind häufig daran beteiligt, Tierversuche zu überwachen oder im Genehmigungsverfahren zu begutachten. Bei diesen Tätigkeiten kommt es nicht nur darauf an, medizinische Kenntnisse in einer bestimmten Tierart zu haben, sondern auch darauf, den Kontext eines Tierversuchs zu verstehen, d.h. Fragen beantworten zu können wie: Ist die im Versuch beabsichtigte Methode geeignet, das Ziel des Versuchs zu erreichen? Ist die prospektiv abgeschätzte Belastung der Tiere realistisch und kann diese reduziert werden? Ist das Versuchsvorhaben wirklich unerlässlich, um die beschriebene Fragestellung zu beantworten? Da pharmazeutische Entwicklung heutzutage fast ausschließlich international erfolgt, sind auch englische Sprachkenntnisse von Bedeutung. Und – wie in allen Bereichen der Industrie – ist es wichtig, strukturiert und analytisch zu arbeiten, seine Ergebnisse präsentieren zu können und wissenschaftlich fundierte Berichte zu erstellen. Tierärzte werden in der Industrie in sehr verantwortungsvollen Positionen eingesetzt, beispielsweise als Tierschutzbeauftragte/r oder als Leiter/in einer Tierhaltung. Das Tätigkeitsfeld von Tierärzten in der pharmazeutischen Industrie ist sehr vielfältig. Derzeit sind etwa 5 Prozent aller Tierärztinnen und Tierärzte in der (www.bundestieraerztekammer.de). Tierärzte arbeiten dabei eng mit Humanmedizinern, Biologen, Chemikern, Agrarwissenschaftlern oder Pharmazeuten zusammen (2). Sie bringen jedoch ganz eigene Perspektiven ein, die für eine erfolgreiche Arzneimittelentwicklung von unschätzbarem Wert sind; beispielsweise die Übertragung von an Tieren gewonnenen experimentellen Daten auf den Menschen (3). Industrie beschäftigt 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 267

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Mehr Informationen über die Tätigkeit als Tierärztin/Tierarzt in der Industrie erhalten Sie auch bei der Fachgemeinschaft der Industrietierärzte (www.industrietieraerzte.net). Literatur 1. van Tongeren S, Fagerland JA, Conner MW, Diegel K, Donnelly K, Grubor B, Lopez-Martinez A, Bolliger AP, Sharma A, Tannehill-Gregg S, Turner PV, Wancket LM. The role of the toxicologic pathologist in the biopharmaceutical industry. Int J Toxicol. 2011 Oct;30(5):568-82. doi: 10.1177/1091581811413304. Epub 2011 Aug 30. PMID: 21878555. 2. Root Kustritz MV, Molgaard LK, Tegzes JH. Frequency of interactions between veterinarians and other professionals to guide interprofessional education. J Vet Med Educ. 2013 Winter;40(4):370-7. doi: 10.3138/jvme.0413-065R1. PMID: 24113723. 3. Mohanan S, Maguire S, Klapwijk J, Adler R, Haworth R, Clements P. Evolving the Role of Discovery-focused Pathologists and Comparative Scientists in the Pharmaceutical Industry. Toxicol Pathol. 2019 Feb;47(2):121-128. doi: 10.1177/0192623318821333. Epub 2019 Jan 16. PMID: 30651043. Kontakt Dr. Lars Mecklenburg; PhD, Labcorp Early Development Services GmbH, Münster/Westfalen Lars.Mecklenburg@labcorp.com 268 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Berufsperspektiven ___________________________________________________________________________________________________________ Die Tierärztin im öffentlichen Dienst. Regional, national, international: fast unbegrenzte berufliche Möglichkeiten Michael Bucher Zweckverband Veterinäramt JadeWeser Bei TierärztInnen im öffentlichen Dienst handelt es sich in der Regel um BeamtInnen, die eine entsprechende zusätzliche Ausbildung nach dem Studium absolviert haben. Die Ausbildung unterscheidet sich, v.a. in der Dauer teilweise erheblich, je nachdem in welchem Bundesland diese absolviert wird. AmtstierärztInnen vertreten den Bereich des öffentlichen (tierärztlichen) Rechts. Dazu zählen klassischerweise die Fachgebiete des Verbraucherschutzes, der Tiergesundheit, des Tierschutzes und das Arzneimittelrecht. Speziellere Themen wie z.B. das Nebenprodukterecht fallen hier ebenfalls darunter. Meist sind die Kolleginnen und Kollegen in der öffentlichen Veterinärverwaltung angestellt. Durch die sehr weit gefächerten Fachgebiete gibt es auch eine immense Zahl von Einsatzmöglichkeiten für den tierärztlichen Berufsstand. Anspruchsvoll ist dabei die Arbeit an der Basis deshalb, da aufgrund der angesprochenen vielfältigen Fachgebiete eine Überwachung der Einhaltung von Verordnungen und Gesetzen bei den Rechtsunterworfenen eine große Flexibilität und Entscheidungsfähigkeit voraussetzt. Nicht minder anspruchsvoll ist die Arbeit auf Landes- oder Bundesebene, wie z.B. in Mittelbehörden, Ministerien oder Untersuchungseinrichtungen. Hier ist der Spezialisierungsgrad der Kollegen in der Regel höher als bei den Veterinärämtern, da die Fachgebiete deutlicher aufgegliedert sind. Auch die Tätigkeit für die Europäische Union ist mittlerweile für viele KollegInnen ein reizvoller Ansatz. Unabhängig von der Ebene, auf welcher sich die AmtstierärztInnen bewegen, müssen sich alle mit den entsprechenden Rechtsakten der EU auseinandersetzen. Trotz vieler Versuche von Vereinheitlichung und Schaffung von Übersichtlichkeit ist gerade das aktuelle EU-Recht eine der größten Herausforderungen für die tägliche Arbeit. Der Beitrag soll auszugsweise einen Einblick in die Arbeit des öffentlichen Dienstes und der Vielfältigkeit dieses Berufsfeldes geben. Kontakt Dr. Michael Bucher; Zweckverband Veterinäramt Jade-Weser, Schortens m.bucher@jade-weser.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 271

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ 24/7 im Einklang mit der inneren Uhr: Dienstplangestaltung mit Rücksicht auf den Biorhythmus Laura Tschirner Projektmanagerin Praxismanagement TeamVet GmbH „Wer früher kommt, darf später gehen“ – solche oder so ähnlich lautende Sprichwörter wurden früher in den Praxen und Kliniken der Tiermedizin mal mehr und mal weniger scherzhaft unter den Mitarbeitenden laut. In einer Welt, in der die Gesellschaft den Spagat zwischen Work Life Balance und Non Stopp verfügbaren Dienstleistungen zu vollbringen versucht, kommen wir um eine adäquate Dienstplanung nicht umhin. Galt es früher für Tierärzt*innen und TMFA als unvermeidbar, insbesondere in den ersten Jahren der Berufsausübung, mehr zu arbeiten als im Arbeitsvertrag vereinbart, um möglichst viel Wissen und Erfahrung zu sammeln, meiden Arbeitnehmer*innen heute zunehmend Stellen mit (inoffiziellen) Dienstplänen jenseits des Arbeitszeitgesetzes. Digitale Zeiterfassung, ein stimmiger Dienstplan und geregelte Notdienste mit vorgesehenem Ausgleich sind die Pflicht für jeden Betrieb, der Personal von sich überzeugen möchte. Doch warum sollte ich neben Arbeitszeitgesetz, Ausgleichen und Ruhezeiten auch noch auf den Biorhythmus meiner Mitarbeitenden Rücksicht nehmen? Übertreiben wir es nun vielleicht? Und was kann ich als Arbeitgeber*in überhaupt beitragen? Die Chronobiologie ist ein recht junger Wissenschaftszweig der Biologie und beschäftigt sich mit genau diesen Themen und versucht der Frage auf den Grund zu gehen, wie die innere Uhr von Organismen tickt und welchen Einfluss exogene Faktoren nehmen können (1). Die Einteilung der Bevölkerung in „Nachteulen“ und „Lerchen“ ist allgemein bereits bekannt. Die eine Gruppe wird erst später am Tag aktiv und verspürt auch erst später am Abend den Drang zu schlafen. Das Pendant bilden die „Lerchen“: frühes Aufstehen kombiniert mit frühem Zubettgehen zeichnen diese Menschen aus. In der Wissenschaft spricht man vom Früh-, Normal- und Spättypus. Diese Chronotypen beschreiben also die persönliche Innere Uhr eines Menschen (2). Die Berücksichtigung der individuellen, inneren Uhr der Mitarbeitenden und die Anpassung an den Dienstplan ist sicher wünschenswert, aber praktisch nicht immer in Gänze umsetzbar. Zudem ist es in der Dienstplanung grundsätzlich nicht möglich einen allgemein gültigen Schichtplan als Vorlage zu erschaffen und auf sämtliche Praxisstrukturen, Ansprüche und Bedürfnisse anzuwenden. Vielmehr ist die Dienstplanung ein Puzzlebild, mit individuell unterschiedlichen Teilstücken, welche es für jede Praxis oder Klinik passend zusammenzubauen gilt. Bei dieser Puzzlearbeit bietet es sich an, die Mitarbeitenden einzubinden. Finden sich zum Beispiel eine Eule und eine Lerche, die bereit sind gegensätzlich zu arbeiten und können somit nach ihrer inneren Uhr arbeiten, ist dies sicher eine klassische win-win Situation. Schon dafür lohnt es sich, den Blick auf den Biorhythmus und die Wünsche meiner Mitarbeitenden zu lenken. Häufig wissen Menschen bereits intuitiv, wie ihre innere Uhr tickt und ob sie eher Lerche oder Eule sind. Neben der experimentellen Herangehensweise, über die Messung von Kernkörpertemperatur, Melatonin- und Kortisolspiegel (2), kann auch die Beantwortung eines Fragebogens Hinweise zum Chronotypus geben, zum Beispiel über die deutsche Version des Morningness-Eveningness-Questionnaires – kurz D-MEQ (3). Es kann empfehlenswert sein, die Ergebnisse des Fragenbogen von interessierten Mitarbeitenden auf freiwilliger Basis in die Schichtplanung einfließen zu lassen. Grundlage einer jeder Dienstplanung sollte die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes, mit möglichen Pausen und Ruhezeiten zwischen den Schichten, flexible Schichtplanung mit der Möglichkeit für Mitarbeitende, Schichten zu tauschen oder Wünsche zu äußern und eine rechtzeitige Veröffentlichung des Planes sein. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 273

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Literatur 1. Wikipedia.org/wiki/Chronobiologie 2. Benjamin Graaf, Chronotypologie und Schichtarbeit - Möglichkeiten und Potential der individuellen Berücksichtigung 3. unterschiedlicher Chronotypen im Rahmen betrieblicher Gesundheitsförderung, 2014, https://www.ifado.de/de/chronotyp : B. Griefahn, C. Künemund, P. Bröde, P. Mehnert, 2001: Zur Validität der deutschen Übersetzung des Morningness-Eveningness-Questionnaires von Horne und Östberg. Somnologie 5: 71-80 Kontakt Laura Tschirner; Projektmanagerin Praxismanagement TeamVet GmbH, Ahrensburg 274 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Einatmen, ausatmen – Pause. Und zwar richtig! Lisa Leiner Consulting mit Weitblick Pausen sind wichtig: für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit. Viele verzichten allerdings freiwillig auf Pausen, meist aus Angst, unnötig Zeit zu vergeuden. Doch dieser Eindruck trügt. Nach gut geführten Pausen steigen unsere Produktivität und Konzentration wieder so stark an, dass die vermeintliche Zeitverschwendung schnell wieder wettgemacht wird. Lässt man Pausen hingegen ausfallen, zum Beispiel um früher nach Hause zu kommen, hat das langfristig negative Auswirkungen auf unsere Arbeitsfähigkeit und Gesundheit. Doch wie oft und wie lange sollten wir Pause machen? Und was sollten wir in der Pause tun, um optimal zu regenerieren? Häufigkeit und Dauer von Pausen Gesetzlich gesehen müssen Angestellte bei 6 Stunden Arbeitszeit mindestens 30 Minuten Pause pro Tag machen, ab 9 Stunden liegt die gesetzlich vorgegebene Pausenzeit bei 45 Minuten. Allerdings ist es nicht immer möglich, eine einmalige längere Pause einzulegen. Der Alltag in tierärztlichen Praxen und Kliniken ist häufig bestimmt von durchgetakteten Terminen, unangekündigten Zusatzpatienten oder Notfällen. Einige Praxen schließen um die Mittagszeit für 2 oder 3 Stunden und ermöglichen so ihren Mitarbeitenden, eine größere Pause einzuhalten. Andere arbeiten im Schichtsystem, in welchem es schwieriger ist, Pausenzeiten einzuhalten, wenn man nicht explizit auf diese achtet. Mit jeder nicht genommenen Pause allerdings sinkt die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, die dafür sorgt, dass tierärztliche Leistungen professionell und fehlerfrei durchgeführt werden können. Wie kann man effektiv Pause machen? Unabhängig davon, ob man es täglich schafft, seine Pausenzeiten einzuhalten, oder sich über 10 Minuten Ruhe im vollen Arbeitsalltag freut, sollten mindestens drei Kontrasterlebnisse zu jeder Pause gehören. Diese Kontrasterlebnisse ermöglichen vor allem eine mentale Regeneration, die in unserem fordernden Berufszweig dringend notwendig ist: 1. Tätigkeitswechsel: Machen Sie etwas anderes als während der Arbeitszeit. Wenn Sie viel stehen, dann gehen Sie eine Runde oder setzen / legen Sie sich hin. Schauen Sie viel auf einen Bildschirm (z. B. wenn Sie Patientenberichte schreiben), dann schauen Sie aus dem Fenster (und nicht aufs Handy!) Inhaltswechsel: Beschäftigen Sie sich gedanklich mit etwas völlig anderem. Ein Fachbuch zu lesen oder mit Kollegen einen Fall zu erörtern ist keine Pause! Nehmen Sie sich ein Buch, ein Rätselheft oder hören Sie Musik. 2. 3. Raumwechsel: Verlassen Sie den Behandlungsraum, den OP, die Rezeption oder am besten die gesamte Praxis / Klinik. Man muss an dieser Stelle einräumen, dass die genannten Kontrasterlebnisse in Fahrpraxen besser umsetzbar sind als in festen Praxen oder Kliniken. Denn im Grunde verlassen Sie direkt nach jedem Termin den „Arbeitsplatz“. Nutzen Sie dies! Halten Sie am Straßenrand und gehen Sie ein paar Schritte, gönnen Sie sich in einem Café einen kurzen Snack und hören Sie im Auto Radio oder ein Hörbuch. Mehrere kleine Pausen haben auch einen Effekt. Sollten Sie keine Möglichkeit sehen, in Ihrem Schichtdienst größere Pausen einzubauen, dann nutzen Sie mehrere kleine Pausen zur Regeneration. Auch 10 - 15 Minuten Pause, sofern richtig gemacht, fördern die Konzentration und bauen Stress ab. Auch bei noch engeren Zeitplänen lassen sich kurze Pausen einbauen. So z.B. nach jedem oder jedem zweiten Patienten 5 Minuten. Zur Not im Behandlungszimmer mit einer Atemübung bei geschlossenen Augen. Die Ausrede „ich habe keine Zeit für Pausen“ gilt nicht! Dann müssen 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 275

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ die Prioritäten angepasst werden. Da Pausen allerdings in den ersten 10 Minuten am effektivsten sind, sollte man durchaus versuchen, diese 10 Minuten als Minimum einzuhalten. Die Vorteile von Pausen Regelmäßige (gemeinsame) Pausen führen zu vielen positiven Effekte. Pausen helfen dabei: • Stress zu vermeiden oder zu reduzieren • Die eigene Produktivität anzukurbeln und leistungsfähig zu bleiben • Die Fehlerquoten durch einsetzende Erschöpfung zu senken • Einen klaren Kopf zu behalten • neue Energie zu tanken • Besser gelaunt zu bleiben • Sozial zu interagieren und damit das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken Leider wird an vielen Stellen die Notwendigkeit von Pausen ignoriert oder als „überflüssig“ abgetan. Dabei geht es um eine vorausschauende Maßnahme. Wie Zähneputzen oder für die Rente vorsorgen. Man tut aktiv etwas für die eigene körperliche und mentale Gesundheit. Mit dem Ziel, langfristig als Tierärztin, Tierarzt oder TFA arbeiten zu können. Pausen sind somit keine Zeitverschwendung, sondern eine Investition in die eigene Gesundheit und am Ende in den eigenen langfristigen beruflichen Erfolg. Kontakt Dr. Lisa Leiner; Consulting mit Weitblick, www.lisaleiner.de kontakt@lisaleiner.de 276 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Innere Stärke, äußere Wirkung: Wie Selbstsicherheit durch bewusste Kommunikation entsteht Kathrin Siemer Tierklinik Lüsche GmbH, Bakum-Lüsche; Kathrin Siemer Coaching & Consulting, Rastdorf Wie Selbstsicherheit durch bewusste Kommunikation entsteht Vielen ist die Wirkung von guter Kommunikation als Führungskraft, Tierarzt oder Dienstleister mit Kundenkontakt längst bewusst. Ständig arbeiten wir bewusst an überzeugender Argumentation, passender Formulierung, geschickter Rhetorik. Doch Inhalt und Fachlichkeit alleine greifen nur kurz, vor allem, wenn es darum geht, Patientenbesitzer oder Mitarbeiter auf einen bestimmten Weg zu führen. Kommunikation geht weit über die Worte hinaus, funktioniert nicht nur über die sachliche Botschaft, sondern über nonverbale Kommunikation wie Mimik, Gestik, Stimmlage, Tonalität und Körpersprache. Man spricht dabei auch von der 7-38-55-Regel (Sprachlicher Inhalt, stimmlicher Ausdruck, Körpersprache). Doch inwieweit sind hier auch die innere Haltung und das eigene Bewusstsein und Selbstbewusstsein von Bedeutung? Uns sollte klar sein, dass wir ständig unbewusst Signale aussenden, die unsere innere Haltung transportieren. Gerade diese Signale sind ausschlaggebend dafür, wie wir als Person (Tierarzt, Führungskraft) wie auch unser Inhalt beim Gegenüber ankommt. Somit sollte unsere verbale und nonverbale Botschaft kongruent sein zu unserer inneren Einstellung. Passt das im Praxis-/Klinikalltag zusammen? Eventuell ist dies nicht immer der Fall, da wir ja nun mal im beruflichen Kontext auch noch weitere Ziele und Verantwortungen auf den Schultern haben, die wir erreichen sollten. Wie nun also eine stimmige Basis für die Herausforderungen finden und trotz alledem sich auf Dauer eine klare und stabile Orientierung in der Kommunikation aneignen? Hierfür sind ein gesundes Selbstwertgefühl und entsprechende Selbstsicherheit entscheidend! Sich selbst, seine Emotionen und Bedürfnisse wahr zu nehmen, Empathie-fähig sein und mit sich in der beruflichen Rolle im Reinen zu sein. Erst dann kann effizient an der eigenen verbalen und nonverbalen Kommunikation gearbeitet und gefeilt werden. Wie kann nun ‚sich selbst wahrnehmen‘ - sich also reflektieren und bewusst beobachten – im Klinik- /Praxisalltag gelingen? Wichtig dabei ist, neutral zu sein, sich wahrzunehmen und zu analysieren, um daraus Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen, für eine Steigerung und Effizienz der eigenen Verhaltensweisen. Dabei meint Reflexion wiederum nicht ausschließlich, sich nur auf die eigenen Fehler zu konzentrieren. Gerade in stürmischen (Sprechstunden-) Zeiten kann es sehr hilfreich sein, sich auch der eigenen Stärken und Erfolge gewahr zu werden. Kontakt Kathrin Siemer; Coaching & Consulting, Rastdorf info@kathrin-siemer.de 278 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Selbstfürsorge - Jeder ist sich selbst der Nächste Karolina Kantor Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Halle Psychohygiene: In diesem Abschnitt des Vortrages wird das Thema Psychohygiene und Work-Life-Balance besprochen mit verschiedenen Beispielen für die Anwendung im Alltag. Entspannungsverfahren: In diesem Abschnitt werden Entspannungsverfahren besprochen und eine kurze Einheit für die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen mit den Zuhörern durchgeführt. Kontakt Karolina Kantor; Psychiatrische Institutsambulanz, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Halle karolina.kantor@uk-halle.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 281

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Stress lass nach! Wie ich herausfordernde Situationen besser überstehe Lisa Leiner Consulting mit Weitblick Stress ist mannigfaltig, individuell, komplex. Man hat Stress mit der besten Freundin, mit den Kindern oder mit der Arbeitskollegin. Man ist gestresst, weil man im Stau steht oder die Arbeit nicht vorangeht. Man ist gestresst, weil Patientenbesitzer das zehnte Mal hintereinander anrufen, um die Kosten für eine Kastration zu erfragen oder einen Termin zu verschieben. Es gibt so viele Gründe, die Stressempfinden auslösen können, und am Ende ist man gestresst, weil man einfach gestresst ist. Etabliert sich das Gefühl von „Stress“ in unserem Körper, merken wir selbst, wie wir gereizter werden, Dinge vergessen, Fehler passieren. Möglicherweise schlafen wir schlechter, leiden unter Verspannungen und Kopfschmerzen, und sagen Geburtstage ab, weil wir unsere Ruhe haben möchten. Statt die Zeichen unseres Körpers (der in diesem Moment alles dafür tut, gesehen und gehört zu werden) richtig oder ehrlich uns selbst gegenüber zu deuten, ignorieren wir diese und machen weiter. Es geht schon. - Bis es nicht mehr geht. Dabei sind die Ursachen unseres wahrgenommenen Stressempfindens vielschichtig. Ist die Arbeit wirklich das, was mich stresst? Oder die Familie? Die anderen? Oder sind es vielleicht eigene Ansprüche und Wertvorstellungen, die uns im Umgang mit anderen oder mit uns selbst beschäftigen? Sind es zusätzliche Aufgaben, die neben der Arbeit noch erledigt werden müssen und uns vor unüberwindbare Herausforderungen stellen? Sind es Zukunftsängste oder Probleme aus der Vergangenheit, die uns im Alltag unruhig werden lassen? … Wer sich mit dem Thema „Stress“ beschäftigen möchte, wird eine intensive Ursachenforschung betreiben müssen, die nicht selten auch damit einhergeht, dass man sich mit sich selbst auseinandersetzen muss. Doch die Mühe lohnt sich, denn wer „stressstabil“ wird, bleibt länger gesund, motiviert und fröhlich. Stress zu empfinden ist grundsätzlich normal und gehört zu unserem Leben dazu. Ein Stressreiz ist ein Reiz, der unserem Körper eine physiologische Reaktion abverlangt. Stressreize werden aus der uns umgebenden Umwelt gesendet und von unserem Körper mithilfe vieler verschiedenen, teils parallel verlaufenden Reaktionsketten, verarbeitet. Das fängt bei Kälte, Wärme, Licht und Dunkel an, und endet bei Situationen, die uns reizbar und dünnhäutig machen. Grundsätzlich hat jede Person nur ein begrenztes Maß an körperlichen und mentalen Ressourcen, Stressreize und stressige Phasen erfolgreich zu kompensieren. Das bedeutet: Kurzfristige Herausforderungen, die uns alles abverlangen, sind durchaus machbar. Sind die Herausforderungen allerdings nicht mehr zu bewältigen, wird unser Körper uns unweigerlich mit Stresssymptomen konfrontieren: somatisch und psychisch. Der Umgang mit Stress im tierärztlichen Alltag ist unter anderem eine Frage der Struktur Im tierärztlichen Alltag gilt: Das einzig Vorhersehbare ist das Unvorhersehbare. Eine gute Praxis- oder Klinikstruktur sowie ein gutes Terminmanagement können ungeplante Situationen jedoch bis zu einem gewissen Grad abfedern und damit den Alltag für Mitarbeitende positiv beeinflussen. Auch das Verteilen von klaren Aufgaben und Verantwortlichkeiten, eine akzeptierte und etablierte Kommunikations- und Feedbackkultur im Team sowie interne Regelungen z.B. im Umgang mit Kunden oder Beschwerden tragen zur Prävention von stressigen Situationen bei. Es gibt viele Ansatzpunkte, mit strukturellen Veränderungsmaßnahmen dem Stressempfinden im Alltag entgegenzuwirken. Wichtig ist, dass man Dinge ausprobiert und offen für ebendiese Veränderungen ist. Das eigene Stressmanagement hilft im Umgang mit herausfordernden Situationen Trotz aller strukturell-präventiven Maßnahmen wird „Stress“ nicht vollständig aus dem tierärztlichen Alltag verbannt werden können. Wichtig ist daher ein weiterer Ansatzpunkt: nämlich die Frage, wie jede und jeder 282 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Einzelne auf stressige Situationen reagieren kann und welche Maßnahmen dazu beitragen, diese Situationen zukünftig zu vermeiden oder besser zu überstehen. Und darum geht es beim Stressmanagement: um die persönliche Einstellung zu Dingen, die man ändern oder auch nicht ändern kann. Hierbei spricht man auch von „Resilienz“: Einer „inneren Haltung“ oder „Stressstabilität“. Resiliente Menschen begegnen herausfordernden Situationen mit Zuversicht, mit Selbstvertrauen und der Kenntnis eigener Stärken und Grenzen. Bei der Resilienz geht es darum, die persönliche Energie in Aufgaben und Gedanken zu investieren, die lösungsorientiert sind, anstelle sich dem Ärger, dem Frust und damit einer Opferrolle hinzugeben. Erste wichtige Schritte, die eigene „Stressstabilität“ zu fördern sind Maßnahmen wie z.B. regelmäßigem (Ausdauer-) Sport, Meditation, Pausen in der Natur, individuelle kreative Hobbies und das Pflegen von sozialen Netzwerken (nicht auf Facebook oder Instagram, sondern „live“). Mit diesen Maßnahmen findet man die Ruhe, sich auf sich selbst zu konzentrieren, sich zu reflektieren und ggf. auch über Geschehenes objektiv nachzudenken. Podcasts und Bücher bieten weitere Impulse, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Auch Resilienz- und Kommunikationsseminare sind in diesem Zusammenhang zu empfehlen, um die eigenen Fähigkeiten, mit herausfordernden Situationen umzugehen, zu schulen und zu festigen. Kontakt Dr. Lisa Leiner; Consulting mit Weitblick, www.lisaleiner.de kontakt@lisaleiner.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 283

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Praxismanagement ___________________________________________________________________________________________________________ Wenn ein beruflicher Notfall zum Persönlichen wird Karolina Kantor Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Halle Im beruflichen Alltag werden Tierärzt:innen mit diversen belastenden Situationen konfrontiert. Die meisten Ereignisse werden gut verkraftet, aus verschiedenden Gründen kann ein Vorfall aber Spuren hinterlassen, die sich auf die psychische Gesundheit und somit auf den Alltag negativ auswirken. Damit muss – und sollte man – nicht „allein klarkommen“. Es gibt viele Möglichkeit, sich zu helfen bzw. helfen zu lassen. In meinem Vortrag kläre ich die Zuhörer über sog. Warnsymptome auf und versuche, die Inanspruchnahme des psychiatrisch- psychotherapeutischen Gesundheitssystems zu entstigmatisieren. Darüber hinaus erwähne ich Strategien für den Umgang mit belastenden Ereignissen, sowohl für den Betroffenen selbst als auch als Teamintervention, u.a im Sinne einer M&M-Konferenz. Kontakt Karolina Kantor; Psychiatrische Institutsambulanz, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Halle karolina.kantor@uk-halle.de 284 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ 100-jähriges Bestehen der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Universität Leipzig: Reflexionen eines Außenstehenden Hartwig Bostedt ehemals Tierklinik für Reproduktionsmedizin und Neugeborenenkunde der Justus-Liebig-Universität Gießen Das 100-jährige Bestehen der Veterinärmedizinischen Fakultät an der Universität Leipzig gründet sich auf zwei Pfeilern. Der wesentliche Anlass war die Entscheidung 1914, die „Königlich Tierärztlichen Hochschule zu Dresden“ an die Leipziger Universität anzubinden. Immerhin bestand sie dort 140 Jahre, ausgehend von der 1774 durch Oberroßarzt Friedrich Weber gründeten „Churfürstlichen Thier-Arzney-Schule“, die 1780 von staatlicher Seite übernommen wurde. Im Lauf der Zeit erlangte sie aufgrund der wissenschaftlichen und pädagogischen Leistungen eine überregionale Bedeutung. Daraus resultierte das Problem, dieser Ausbildungsstätte ein neues, größeres Domizil zu geben: entweder in Dresden oder in Leipzig. Ein von der Stadt Leipzig zur Verfügung gestelltes Gelände von 60 000 qm sowie die etwas geringeren Kosten für die Neubauten als in Dresden gaben schlussendlich den Ausschlag für den Umzug. Der zweite Pfeiler war, dass die Leipziger Universität auch eine lange „veterinärmedizinische“ Tradition vorzuweisen hatte. Schon 1742 wurden dort Vorlesungen über Pferdeheilkunde von F. Rosenzweig (1716- 1794) gehalten. 1878 wurde eine Tierklinik, erbaut nach den Plänen von Anton Zürn, in der Nähe der Johannisallee eröffnet. Die Bauplanungen für die Gebäude der neuen veterinärmedizinischen Einrichtung der Universität begannen 1914, wurden aber kriegsbedingt auf das Allernotwendigste zurückgestuft. Erst 1918, nach Beendigung des unheilvollen 1. Weltkrieges, wurde eine rege Neubautätigkeit in Gang gesetzt – allen Widrigkeiten der damaligen Nachkriegszeit und Inflation zum Trotz. Es kam zur Fertigstellung der ersten Instituts- und Klinikgebäude, so dass zum 1. Oktober 1923 einer offiziellen Einweihung nichts mehr im Wege stand. Der 1. Dekan der neuen Fakultät war der aus Dresden stammende, international hoch geschätzte Anatom, Geheimer Medizinal-Rat Prof. Dr. H. Hermann Baum, auf dem Höhepunkt seines Schaffens übernahm er das Amt des Rector designatus der Universität Leipzig für das Amtsjahr 1930/1931. Die Leipziger Fakultät knüpfte nahtlos an die Erfolge der Dresdner Hochschule an. Sie wurde rasch zu einer festen Größe innerhalb aller deutschen Ausbildungsstätten. Die ersten 10 Jahre ihres Bestehens (1923-1933) waren höchst erfolgreich in Lehre und Forschung sowie in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Dies alles geschah unter den demokratisch liberalen Verhältnissen der Weimarer Republik. Mit der Machtergreifung der Faschisten 1933 kam es zu einem jähen Ende der errungenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung und daraus folgend zu einem rigiden Eingriff in die universitäre Selbstverwaltung. In der Beurteilung dieser Zeit bemühe ich mich als Nachgeborener, aber auch in der Bewertung der darauffolgenden Perioden als Zeitzeuge, dies nach der Forderung der Historikerin Ursula Wolf (FAZ 17.03.1998) zu tätigen, also mit gebotenem Respekt und Toleranz. Ich zitiere: „Jede Generation hat einen Anspruch darauf, nach ihren eigenen Maßstäben und Denkmöglichkeiten beurteilt zu werden. Das ist nicht nur ein historistischer, sondern auch ein moralischer Grundsatz. Nur wenn wir die Fallen des Zeitgeistes bei den Vätern erkennen, können wir vielleicht einigen entgehen, die auf unserem Weg liegen“. Es entwickelte sich damals 1933 eine Diskrepanz sondergleichen: erst die demokratisch offene Weimarer Republik – über Nacht das atroxische Naziregime. Damit waren auch Spannungen innerhalb des Lehrkörpers und des Gesamtpersonals, wie an allen Fakultäten der deutschen Universitäten, vorprogrammiert. Denn sicher ist, dass es damals eine Reihe von Befürwortern der sogenannten „neuen Zeit“ unter den Hochschullehrern und des Gesamtpersonals gab. Unstreitig aber ist auch, dass es Widerstrebende und offene Gegner gab, die 286 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ sich darum bemühten, die Geisteshaltung der Alma Mater aufrecht zu erhalten, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Die Kriegsjahre schränkten die Lehr- und Forschungstätigkeit durch Einberufungen des Personals und Zerstörung der Gebäudesubstanz infolge der Bombenangriffe 1943/1944 auf Leipzig erheblich ein. Nach Befreiung durch die Alliierten von der Naziherrschaft 1945 kam es, trotz bestehender allgemeiner Bestürzung und Scham über die nun volle Wahrheit und Verblendung durch das ehemalige Nazi-Regime, trotz der Mutlosigkeit und des Chaos, langsam wieder zu einer Vitalisierung des öffentlichen Lebens. Dank der Initiativen von Professoren wie Ackerknecht, Scheunert, Müller-Lenhartz sowie der längst emeritierten Proff. Roeder und Schmidt konnten 1946 die Leipziger Fakultät wiedereröffnet werden. Vor allem vertraten Roeder und Schmidt die Agenda, in die neue Zeit Mut und Zuversicht zu investieren. Neben den notdürftig wiederherzustellenden Lehrgebäuden war das vorrangige Ziel, die vakant gewordenen Lehrstühle zu besetzen, um so wieder für die Zukunft eine vollwertige tierärztliche Ausbildung zu sichern. Denn das Land brauchte dringend Tierärztinnen und Tierärzte, um die die Tierhaltungen in Gesamtdeutschland bedrohenden Seuchen (Tb, MKS, Schweinepest, Brucellose, Rotz) zu bekämpfen und die Hungersnot durch Gesunderhaltung der landwirtschaftlichen Nutztierbestände zu kupieren. Es wurden Professoren von anderen Universitäten (Hemmert-Halswick (1946 aus Berlin), Schwarz (1948 aus Berlin), Eichler (1949 aus Berlin), Nusshag (1950 aus Greifswald), Schebitz (1950 aus Halle), Pallaske (1951 aus Rostock)) auf die jeweiligen Lehrstühle nach Leipzig berufen. Aber man holte sich auch außerhalb universitärer Bildungsstätten Lehrende nach Leipzig: aus der Veterinärverwaltung und aus der Praxis (Walter für Geburtskunde aus Gotha, Acelarius für Tierzucht aus der Nähe von Hamovet). Darüber hinaus betraute man eigene Nachwuchswissenschaftler mit Dozenturen und Professuren: Wilhelm Schulze 1950 (Kleintierkrankheiten), Schleiter 1951 (Huf- und Klauenkunde), Luka Felix Müller 1951 (Internistik). Von außen betrachtet war damit eine geordnete und dem ehemaligen Niveau der Leipziger Fakultät entsprechende Lehre nunmehr gesichert war. Aber es kam immer wieder zu Ausfällen in den folgenden Jahren. Gründe dafür waren zum einen altersbedingtes Ausscheiden, zum anderen Wegberufungen an andere deutsche Fakultäten, wobei das damals in den 50ziger Jahren noch zur gesamtdeutschen Normalität gehörte (Schulze 1957 TiHo Hannover, Pallaske 1957 Gießen). Jedoch gab es auch plötzliche, unerwartete Verluste im Lehrkörper, weil einige Hochschullehrer (Dedié, Schebitz, L. F. Müller) aus politischen Motiven, aber gegen ihren Willen und geächtet, die Fakultät verlassen mussten. Es traten Christoph (1956), Bentz (1956), Nickel (1956), Kolb (1956), Potel (1958), Nendorf (1958) in das Professorenkollegium ein. In diesem Kontext darf ein Passus nicht unerwähnt bleiben, da er auf eine weitere politisch bedingte Disharmonie im Fakultätsbereich jener Zeit, ausgelöst durch Studierende, ein Licht wirft. Kritik am Studium mit überbordenden politischen Vorlesungen kam unter den Studierenden, verstärkt in Zusammenhang mit den Ereignissen im Juni 1953 sowie durch den Ungarn-Aufstand 1956, auf. Diese jungen protestierenden Menschen waren keine grundsätzlichen Systemgegner, sie strebten vielmehr nach demokratischen Erneuerungen und wollten sich so im positiven Sinne in die neue Grundordnung einbringen, aber der Demokratie mehr Platz einräumen. Einige von ihnen büßten damals ihre öffentlichen Forderungen mit Erniedrigungen, mit Relegationen oder mit der Flucht in die BRD infolge der parteigesteuerten, fakultätsinternen Hetze gegen sie. veterinärmedizinischen Studiums Im Zuge der sich im Inneren verfestigenden politischen Verhältnisse kam es in der Folgezeit zu zwei grundlegenden Neuerungen der Fakultätsarchitektur. Galt bis in die 60ziger Jahren hinein in beiden deutschen Staaten eine einheitliche Bestallungsordnung für Tierärzte und Tierärztinnen als fachliche Grundlage für die Ausbildung, wurde doch bald sichtbar, dass diese an das landwirtschaftlich-ökonomische System der DDR angepasst werden musste. Dies hing mit der Bildung von Großbeständen mit teilweise neuen Hygiene- und Gesundheitsproblematiken zusammen. Das Nutztier wurde zum Produktionsmittel stilisiert, zwar einem internationalen Trend folgend, aber mit enormer politisch-philosophischer Verbrämung. Der Lehrplan war streng gegliedert und fachlich den neuen Bedingungen angepasst. Eine hervorragende klinische Ausbildung im Nutztierbereich stand dafür im Vordergrund. Dazu kam aber die obligatorische politische Bildung mit respektive innerhalb des ihren 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 287

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ überbordenden Semesterwochenstunden (30 SWS im 3. Studienjahr). Interessant jedoch war, dass die Studierenden in den letzten Semestern bereits eine Unterweisung in wissenschaftlichen Arbeiten erhielten. Respekt, denn dies stand in der Bestallungsordnung der BRD nicht. Der Haken war allerdings, dass damit auch das auf Freiwilligkeit beruhende Promotionsrecht eingeschränkt und der Titel Dipl. Vet. Med. eingeführt wurde. Promotion (A und B) waren zwar möglich, wurden aber streng reglementiert. Der allergrößte Einschnitt in die traditionelle, tierärztliche Fakultätsarchitektonik stand 1968 ins Haus. Auf dem VII. Parteitag der SED wurde die „Umgestaltung von Inhalt und Methoden der Lehre und Forschung (an den Bildungsstätten) entsprechend den Erfordernissen der weiteren Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und der wissenschaftlich-technischen Revolution als hochschulpolitische Zielstellung“ beschlossen. Es kam mit der 3. Hochschulreform zu einer grundlegenden Strukturänderung an den Universitäten, wodurch das bewährte, von Alexander von Humboldt mit der „Freiheit der Wissenschaften“ apostrophierte Universitätsprinzip, weitgehend entfiel. Diese radikale Änderung betraf natürlich auch die Veterinärmedizinische Fakultät in Leipzig. Sie wurde in ihrer bisherigen Form aufgelöst. Es entstand daraus die „Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin“. Die „industriemäßige Produktion“ von Tieren stellte in der neuen Bezeichnung ein dominantes Charakteristikum dar, die Veterinärmedizin wurde der Agrarökonomie nachgeordnet. Diese seit Langem angedeutete Entwicklung hatte im eigenen Lager Befürworter, aber auch Gegner. Letztere konnten sich dagegen nicht dauerhaft widerständig verhalten, dazu fehlten die in einem Gemeinwesen wichtigen demokratischen Spielregeln. Was, im Rückblick gesehen, für diese Persönlichkeiten blieb, war eine individuelle Immigration, ohne dass dadurch deren programmierter Leistungswille, auch unter den neuen Bedingungen weiter wissenschaftlich erfolgreich zu arbeiten und eine auf hohem Stand bleibende Ausbildung zu gewährleisten, eine grundlegende Änderung erfuhr. Das ist heraushebenswert und auch hinreichend zu würdigen. Woraus bestanden nun die gemeinsam – von Befürwortern und Immigranten – erarbeiteten wissenschaftlichen Meriten, trotz neuer Verhältnisse unter Einschränkung der „Freiheit der Wissenschaften“ in der Sektion „Tierproduktion und Veterinärmedizin“ der Karl-Marx-Universität (KMU) Leipzig? Aus eigener, jahrelanger Erfahrung als Kliniker sowie aufgrund einer eigens für diesen Vortrag vorgenommene Analyse der veterinärmedizinischen Publikationsorgane der DDR [„Monatsheften für Veterinärmedizin“ 1983, 1985, 1987 „Archiv für Experimentelle Veterinärmedizin“ „100 Jahre Veterinärmedizin an der Universität Leipzig“ (Fürll 2022)] sei Folgendes herausgestellt: 2. 1. Das Bemühen aller veterinärmedizinischen Institutionen in der damaligen DDR, den Stand der veterinärmedizinischen Wissenschaft auf dem Gebiet der Nutztierwissenschaften, Tierhygiene, Lebensmittelwissenschaften mit den vorhandenen Mitteln und Einrichtungen voranzubringen, ist hoch zu bewerten. Das ist nicht zu leugnen.. Im Gesamtkomplex nahm die „Leipziger Sektion“ mit Publikationen, Buchbeiträgen und Lehrbüchern eine sehr wichtige Rolle ein. Die Zahl an Veröffentlichungen lag nur wenig unter der der Schwesternfakultät an der HU Berlin, obwohl diese personell stärker ausgerichtet war (Abb. 1). Im Zeitraum 1968-1990 waren es wissenschaftliche Beiträge vor allem auf folgenden Tätigkeitsfeldern (Abb. 2): 3. • Klinisch orientierte Anatomie, Physiologie/Biochemie (Schwarze, Michel, Salomon, Brunner, Kölb, Gürtler) • Tierseuchenbekämpfung und Tierhygiene (Hussel, Mehlhorn) • Mikrobiologie, Impfprogramme (Voigt, Selbitz) • Vorsorgeprogramme zur Gesundhaltung der Nutztierbestände (Lippmann, Lachmann, Schäfer, Ribbeck) 288 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ • Laborbefunde mit Erarbeitung von Stoffwechselvorgängen und –profilen für leistungsorientierte Großtiere (Kolb, Mielke, Fürll) Laborfortbildung (45 Veranstaltungen bis 2021) sowie Assistentenfortbildung („Assistentenclub“) • Grundlagen und Klinik der Neonatologie (landw. Nutztiere) (Kolb, Gürtler, Elze, Johannsen) • Obstetrik beim Rind (Walter, Wohanka, Schulz, Eulenberger) • Fertilitätsüberwachung und –steuerung unter anderem beim Schwein (Erices, Schnurrbusch, Kauffold) • Laktationsphysiologie und –pathologie des Rindes (Michel, Schulz, Johannsen) • Lebensmittelhygiene (Leistner, Fehlhaber) Abb. 1: Aufgliederung der Publikationen in den Mh. Vet. Med. nach Herkunft/Institution. Abb. 2: Darstellung der Tierarten, die in den Publikationen vorrangig genannt/abgehandelt worden sind. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 289

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Natürlich dominierten in den Publikationen die landwirtschaftlichen Nutztiere. Sie machten rund 90 % aus. An 1. Stelle standen Arbeiten über das Rind sowie über Mikrobiologie, Tierhygiene, Impfprogramme. Es folgten Schwein, Schaf/Ziege, Geflügel (Abb. 2). Rein politisch ausgerichtete Publikationen hatten einen Anteil von ca. 7 %. Pferd und Kleintiere waren (1980-1990) seltener Gegenstand in den Beiträgen (< 5 %). Dies war nicht zuletzt Ausdruck der von der Staatsführung verordneten Auftragsforschung. Dass Kleintiere ab 1980 nicht im Gleichklang damit Berücksichtigung gefunden haben, wundert einen Außenstehenden insofern, als dass damals von der Bevölkerung der DDR zahlreiche Kleintiere gehalten wurden (Vögel 2,8 Mio, Katzen 1,5 Mio, Hunde 1 Mio nach Schindler, W., Fritsche, J., Mh. Vet. Med. 1988; 43: 104-108). Deren Versorgung und Betreuung war allerdings durch die Bezirks-Kleintierkliniken, Tierheime und Tierrettungsdienste in den jeweiligen Bezirken geregelt und medizinisch auf gutem Niveau gesichert. Hier sei ein kurzes Wort zu speziellen Bemühungen und Beiträgen zur Kleintiermedizin aus der Leipziger Fakultät angefügt. Prof. Christoph war hier, trotz aller Widerstände, die treibende Kraft für die Kleintiermedizin in der DDR bis zu seinem frühen Tod 1976. Allein in der Zeit 1955-1968 kamen 290 Publikationen aus seiner Arbeitsgruppe. Er wurde aber, so Zeitzeugen, in seinen beruflichen Bestrebungen durch interne Kräfte später gehemmt. Er war ein begnadeter Kliniker und Wissenschaftler. Sein Buch „Kleintierkrankheiten“ (1960) galt lange Zeit als Standardwerk in Ost und West. Er verstand es auch, den Nachwuchs zu fördern. Die Schüler von ihm führten seine Lehre und wissenschaftlichen Bestrebungen erfolgreich weiter: Schlaaf (Berlin), Grünbaum (Potsdam, später Giessen), Schimke (Jena, später Giessen), Oetzel (Dresden). Eine andere Persönlichkeit mit Distanz zur Parteilinie (Bergmann/Grün 2008) war Prof. Erich Kolb. Er war es, der systemkritische Studierende verteidigte und ein Hüter seiner Mitarbeiter war. Ähnliches wird von Prof. Rossow von privater Seite berichtet. Dem immer wieder vorgebrachten Vorwurf in der Nach-Wende-Zeit (Mehlhorn 2007, S. 175), die wissenschaftlichen Erträgnisse aus der DDR hätten in den westdeutschen Publikationen nicht genügend in Form von Zitationen Beachtung gefunden, muss ich als Zeitzeuge widersprechen. Zum einen fanden die Lehrbücher von Autoren aus Leipzig wie Kolb, Bentz, Christoph, Neundorf-Seidel, Schulz u. a. Anerkennung und weite Verbreitung in der BRD. Zum anderen wurden neue Erkenntnisse aus den Veterinärwissenschaften der DDR sehr wohl zitiert. Standen doch in den Fachbibliotheken der Kliniken und Institute der BRD die „Monatshefte der Veterinärmedizin“, das „Archiv für experimentelle Veterinärmedizin“ sowie das Referatsorgan „Landwirtschaftliches Zentralblatt“ zur monatlichen Einsicht, neben den vielen anderen Fachzeitschriften aus dem westlichen In- und Ausland, jederzeit zur Verfügung. Es war also auf dieser Ebene eine eingehende Informations- und Zitationsmöglichkeit gegeben und Letzteres wurde auch getätigt. Was aber fehlte, war der nicht mehr mögliche deutsch-deutsche Wissenschaftleraustausch. Da viele Forschungsrichtungen, besonders die für Nutztiere, in Ost und West gleichen Inhaltes waren, hätten Kooperationen viel gebracht. Die Arbeiten zur Bestandsbetreuung betrafen beispielsweise in den Publikationen der DDR-Fachzeitschriften die Großtierbestände, die entsprechenden in den westdeutschen Zeitschriften konzentrierten sich mehr auf familiengeführte, mittelständische Landwirtschaftsbetriebe. Man traf höchstens den einen oder anderen DDR- Wissenschaftler auf internationalen Konferenzen und dort oft von fachfremden Aufpassern abgeschirmt. Das empfand man von außen her als einen Systemfehler. Folge war, dass solcherart über die DFG finanzierte Projekte vor allem mit polnischen Wissenschaftlern, aber auch anderen Fachleuten aus dem Ostblock, erfolgreich verwirklicht wurden. 22 Jahre währte die durch die 3. Hochschulreform verordnete Partnerschaft zwischen Tierproduktion, Agrarökonomie und Veterinärmedizin an der Leipziger Universität. Die Ausführungen dazu von Michel und seinen Mitautoren (1998), von Bergmann und Grün (2008/2009), von Salomon und Brumme (2022) sowie die Schrift „100 Jahre Veterinärmedizin an der Universität Leipzig“ (Hrsg. M. Fürll 2023) geben ein hinreichend kritisches Bild von den dadurch ausgelösten Verhältnissen und Zwängen im Sektionsalltag. Außerdem fanden diese Zeiten allgemein in Romanform in den Büchern von Braun, J. und Braun, G. „Lieber Kupferstecher Merian“, von Christa Wolf „Der geteilte Himmel“ oder Uwe Tellkamp „Der Tunnel“ ihren Widerhall. Die speziellen tiermedizinisch-landwirtschaftlichen Aspekte wurden in den Werken von Franz-Viktor Salomon in „Lukas“, von Stefan Krippner in „Der weiße Idiot“ oder von Christoph Hein in „Exekution eines Kalbes“ kritisch dargestellt. 290 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Im Kontext mit der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 kam es auch in der Sektion zu Überlegungen, wie die Zukunft nach Erreichen der Demokratisierungsprozesse gestaltet werden könnte. So kam am 9. November 1989 ein Kreis von Hochschullehrern verschiedener Couleur zusammen, um über eine Neugestaltung zu diskutieren (Proff. Burckhardt, Fehlhaber, Gürtler, Johannsen, Kolb, Salomon, Schäfer, Selbitz sowie Dozent Golbs). Daraufhin ging es Schlag auf Schlag. Die Sitzung der Fachrichtung Veterinärmedizin am 24.11.1989 erbrachte ein einstimmiges Votum dafür, die Verbindung mit der Tierproduktion und Agrarökonomie aufzulösen und wieder eine eigenständige Veterinärmedizinische Fakultät zu fordern. Ein entsprechendes Memorandum ging am 5. Januar 1990 an den Rektor der Karl-Marx-Universität. Unterdessen stimmte der aus demokratischen Wahlen hervorgegangene neue Fakultätsrat – [in ihm waren alle Gruppen mit Vertretern präsent (Hochschullehrer, Dozenten, technische Kräfte, Studierende)] – am 26. April 1990 über die Persönlichkeiten ab, die das Dekanat in den kommenden Jahren führen sollten. Gewählt wurden: Prof. Dr. Herbert Gürtler, Dekan Prof. Dr. Günther Michel, Prodekan für Bildung Prof. Dr. Karl Elze, Prodekan für Veterinärmedizinische Dienste Am 29. Mai 1990 beschloss dann der Senat der KMU, der Veterinärmedizin die alten Rechte einer Fakultät wieder zurückzugeben – mit Vollzug zum 1. Juli 1990. Aber über diese immer wieder zu Recht hervorgehobene schöpferische, aus dem Lehrkörper und dem wissenschaftlichen Personal selbst gebildeten Kraft, darf nicht vergessen werden, dass es noch eine zweite Ebene innerhalb dieser damals umstürzlerischen, aufregend-aufstrebenden Zeit gab, die mit dem Fortbestehen der Leipziger Fakultät in engem Zusammenhang stand. Diese Ebene betraf, laut Einigungsvertrag, die noch anstehende Evaluierung aller Hochschuleinrichtungen der DDR durch Kommissionen des Wissenschaftsrates, um zukünftig über eine einheitliche Hochschullandschaft in Deutschland verfügen zu können. Aufgabe der Kommission für die Veterinärmedizin in Leipzig war es, rein fachlich die wissenschaftliche Ausrichtung sowie die Lehrkonzepte der Fakultät zu bewerten. Die vom Wissenschaftsrat eingesetzte Kommission setzte sich aus Fachleuten der DDR, aus der BRD und der Schweiz wie folgt zusammen: Prof. Dr. Meyer (Jena), Dr. Bach (Dresden), Prof. Dr. Frerking (Hannover), Prof. Dr. Nolte (Hannover), Prof. Dr. Strauch (Stuttgart, Hohenheim), Prof. Dr. Loeffler (Stuttgart Hohenheim), Prof. Dr. Rott (Gießen), Prof. Dr. Bostedt (Gießen), Prof. Dr. Eckert (Zürich), MR Dr. Voetz (Bonn). Die vom damaligen designierten Dekan Herbert Gürtler zur Verfügung gestellten Unterlagen über die bisher erbrachten wissenschaftlichen und lehrrelevanten Leistungen sowie über die zukünftigen Konzeptionen dienten der Kommission als Grundlage für deren Beratung. Dieses Substrat stellte ein Gemeinschaftswerk aller Mitglieder der neuen Fakultät dar. Es war logisch und zukunftszugewandt erarbeitet worden. Die entscheidende Sitzung war auf den 06. - 07. Mai 1991 anberaumt. Resultate dieser Evaluierung und der anschließenden stundenlangen Diskussion im Rektorat der Universität waren – im Kernpunkt – folgende „Empfehlungen“ für die Verantwortlichen im Ministeriellen Kultur- und Wissenschaftsbereich, der sich in Länderhoheit befindet: 1. Der Wissenschaftsrat empfiehlt, die Veterinärmedizinische Fakultät in Leipzig als selbständige Fakultät zu erhalten und auszubauen, da die Leipziger Fakultät über eine anzuerkennende wissenschaftliche Reputation verfügt, die diese Empfehlung begründet. 2. Für die Gebäude sind eiligst eine Grundsanierung sowie eine durchgreifende Verbesserung der Ausstattung der Institute und Kliniken mit modernen Lehrmitteln und Laborgeräten vorzusehen. Neubauten sind im Finanzplan vorrangig aufzunehmen. 3. Die Leipziger Fakultät hat derzeit den geringsten Bestand an Wissenschaftlern von allen Veterinärfakultäten Deutschlands. Neue Stellen sind absolut notwendig. (Auszug aus den vom Wissenschaftsrat erarbeiteten „Empfehlungen zur künftigen Struktur der Hochschullandschaften in den neuen Ländern und im Ostteil von Berlin“, Band II S. 319-323). 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 291

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Der Erneuerungsprozess an den Universitäten in den neuen Bundesländern wurde damals durch zwei weitere Kommissionen beschleunigt: es waren die „Fachkommission“ und die „Personalkommission“. Die „Fachkommission Veterinärmedizin Leipzig“, bestehend aus Wissenschaftlern von Ost und West unter dem Vorsitz von Prof. Meyer (Jena), hatte die Funktion zu überprüfen, ob die Lehr- und Forschungstätigkeiten der Hochschullehrerinnen und -lehrer den international vorgegebenen Kriterien entsprechen. Ergebnis dieser Begutachtung war, dass alle Hochschullehrer der Fakultät dem Sächsischen Minister für Wissenschaft und Kunst zur Weiterbeschäftigung empfohlen werden konnten. Unabhängig davon arbeitete jedoch die „Personalkommission“. In ihr, dies sei ausdrücklich betont, waren ausschließlich Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR tätig. Dabei ging es um die politische Tätigkeit des Hochschulkaders in der Zeit bis 1989 und daraus folgend, ob eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst auf der Basis der freiheitlich- demokratischen Grundordnung zu einigen ministeriellen Negativentscheidungen, so dass eine Anzahl von Hochschullehrern (n = 13) die Fakultät verlassen mussten. Und dies, trotz im Voraus festgestellter hoher fachlicher Kompetenz durch die „Fachkommission“. Für einen Teil der Hochschullehrer verlief also die Wende und des damit verbundenen Staatsformwechsels mit schwerer Zäsur und Lebensbrüchen, mit Härten und Langzeitfolgen, mit Zerstörung der beruflichen Biographien. zu empfehlen sei. Hier kam es Es bestand damals eine wahrnehmbare, ja auch bedrückende Diskrepanz in der Jurierung der Hochschullehrer seitens der „Personal- und Fachkommission“. Ein hervorzuhebender, mutig zu nennender Verdienst von Bergmann und Grün war es, dieses damalige „Spannungsverhältnis zwischen Zeitgeschichte und Zeitzeugenschaft“ thematisch in drei Publikationen 2008/2009 (Dtsch. Tierärztl. Wschr. 2008; 115: 330- 342, 383-392) aufgearbeitet zu haben. Eine ebenso ernst zu nehmende Literatur sind die Streitschriften der Betroffenenseite von Arnulf Burkhard (1998) („13 auf einen Streich – die personellen Veränderungen in der Professorenschaft an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig 1990 bis 1993“) sowie die von Günther Mehlhorn (2007) („Veterinärmedizin in Würgegriff der Landwirte?“). Folge war, dass durch den zwangsweisen Exodus von Professoren, ich zitiere „im Rahmen der geistig- moralischen Erneuerung“ (Michel, Gürtler, Schleiter 1998, S. 42) vorübergehend eine Reihe von Stellen temporär unbesetzt blieb. Der Nukleus des Lehrkörpers bestand 1992 aus 10 Professoren. Zugesprochen worden waren aber nach der Evaluierung der Fakultät 32 Professoren – und 7 Dozentenstellen, um Lehre und Forschung auf hohem Niveau zu sichern. Die notwendig gewordenen Verfahren für neue Berufungen entsprachen nunmehr dem internationalen Standard. 1996 bestand eine Parität zwischen Hochschullehrern und –lehrerinnen aus den neuen Bundesländern (n = 12) und solchen aus den alten respektive aus dem Ausland (n = 12). Institutionen eingetretenen Spannungsfeld analytisch Der Leipziger Professor für Germanistik, Dirk Oschmann, hat sich jüngst mit dem nach der Wende an den universitären in einer beachtenswerten Schrift auseinandergesetzt. Er beschreibt darin das „Post-Wende-Syndrom“, das „kränkende Übersehenwerden“ und er spricht von einer „Stigmatisierung“ von Wissenschaftlern aus den neuen Bundesländern, vor allem in Berufungsangelegenheiten. Ich war nach der Wende mit zahlreichen Begutachtungen betraut und in vielen Berufungskommissionen in der Veterinärmedizin nicht erlebt, was nicht heißt, dass dies in anderen Tätigkeitsfeldern, vor allem in solchen mit politisch-sozialwissenschaftlicher Ausrichtung (Geschichtswissenschaften, Philosophie, Pädagogik) anders geartet war. tätig: eine solche personell-fachliche Herabwürdigung habe ich Die Regeneration der Veterinär-medizinischen Fakultät in Leipzig ging schnell voran. Tatkräftige Unterstützung fand die Fakultät damals im Kanzler, Dr. Peter Gutjahr-Löser (1991-2005), sowie von der Verwaltung und der Spitze der Universität insgesamt. Die Grundstimmung war getragen von einem starken Kollektivbewusstsein. Die im Rahmen der 3. Hochschulreform verordneten Wissenschaftsbereiche wurden strukturell wieder in „Institute“ und „Kliniken“ unbenannt, ohne dass dadurch die einst gebildeten, sinnvollen, interinstitutionellen Kooperationen gefährdet worden wären. Solcherart Verbindungen waren auch an den bundesrepublikanischen Ausbildungsstätten seit Langem gang und gäbe – jedoch nicht politisch-staatstragend diktiert – einfach aus der Erkenntnis heraus, dass nur so eine optimale Forschungsleistung möglich wird. 292 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Es kam zu zahlreichen Einzelaktionen. Gegründet oder besser gesagt offiziell wiederbelebt wurde die ehemalige Partnerschaft zwischen der TiHo Hannover und der Leipziger Fakultät. Sie ermöglichte, dass erhebliche materielle Zuwendungen transferiert werden konnten, die dem Ausbau von Hörsaaleinrichtungen mit modernen Lehrmitteln dienten. Aber auch die anderen westdeutschen Bildungsstätten beteiligten sich aktiv an der Erneuerung der Schwesterfakultät. Zudem kam es damals zur Konstituierung der „Samstagsakademie“, was beispielsweise die Unterstützung der Akademie (ATF) der Bundestierärztekammer fand. Diese „Samstagsakademie“ hatte sich der Aufgabe verschrieben, die Fort- und Weiterbildung auf verschiedenen Gebieten zu forcieren, wobei sich vor allem die außeruniversitär Berufstätigen angesprochen fühlten. Auch wurde die Veterinärmedizinische Sammlung gegründet, die heute von Prof. Fürll geleitet wird. tierärztliche Fortbildung für Weiterhin wurde auf Anregung des Dekans, Prof. Dr. H. Gürtler, ein „Freundeskreis Tiermedizin“ installiert. Seine Vorsitzende (Klös, Lückert) haben diesen Freundeskreis zu einer Vorzeigemeinschaft mit heute mehr als 1200 Mitgliedern weiterentwickelt. Er hat Wesentliches zur Erneuerung der Fakultät bis heute beigetragen. Derzeitige Vorsitzende ist Frau Prof. Dr. Alef. Nach fünfjähriger Amtszeit (1990-1995) schied Prof. Gürtler, altersbedingt, aus seinem Amt als Dekan aus. Ihm gebührt im Rahmen dieses Vortrages nochmals besondere Anerkennung für sein Wirken in der schwierigen Phase des Umbruches und des Neubeginnes. Er war eine subtile Autorität mit hohem Gerechtigkeitssinn. Als Nachfolger von Prof. Gürtler übernahm Frau Prof. Ribbeck das Amt und ihr folgte Prof. Gropp. Alle Dekane und Dekaninnen nach 1990 begriffen sich als Führungskräfte, die die Fakultät, ich zitiere hier Dekan Gropp „verankert in der Gegenwart und ausgerichtet auf die Zukunft“ (75 Jahre Veterinärmedizinische Fakultät in Leipzig 1998, S. 63) weiter voranbrachten. In die Dekanate von Frau Prof. Ribbeck und Prof. Gropp fällt die Idee für den 1. Leipziger Tierärztekongress (14.-17. Oktober 1989) anlässlich der 75-Jahr-Feier. Neu an dieser Konzeption war, dass sich nicht nur die gesamte Fakultät dazu einbrachte, sondern sich auch die Tierärztekammern der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen daran aktiv beteiligten. Ziel war es, eine Fort- und Weiterbildung mit aktuellen Themen aus Forschung und Praxis in Verbindung mit Staatsveterinärmedizin und Industrie darzubieten. Die einst lokale Veranstaltung wuchs und wuchs. Eine wichtige Entscheidung später war, den Kreis der Mitveranstalter zu erweitern, besonders aber für die Organisation die Expertise des Büros der Leipziger Messe und dessen Gelände mit einzubinden. Heute ist dieser, im deutschsprachigen Raum mit nationaler und internationaler Beteiligung, dank der Tätigkeiten der weiteren Präsidenten, Professor Gäbel und Professor Truyen. Mehr als 5000 Teilnehmer konnten auf dem letzten Kongress 2022 gezählt werden, der nächste steht 2024 an. im zweijährigen Turnus abgehaltene Kongress die größte Veranstaltung seiner Art Zum Modernisierungsprozess trugen nicht zuletzt auch die durchgreifenden Renovierungsarbeiten an den alten Gebäuden, besonders aber die Neubauten bei – gemäß der von der Evaluierungskommission 1991 eingeforderten Dringlichkeit. Gebaut wurden innerhalb weniger Jahre: in der Fakultät Institut für Lebensmittelhygiene/Tierhygiene/Veterinärphysiol.-Chemisches Institut • Klinik der Kleintiere • • Südflügel der Medizinischen Tierklinik • Verwaltungs- und Versorgungsgebäude • Hörsaal-Bibliotheks-Mensa-Gebäude • Getätigt wurden auch Investitionen in das Lehr- und Versuchsgut der Fakultät Oberholz. Die Fakultät selbst prosperierte. 35 Hochschullehrer und –lehrerinnen bilden heute aus und forschen an der Fakultät. Der Erneuerungsprozess ist fließend. Leipziger Veterinär-Wissenschaftler wurden an andere Bildungsstätten (1998-2023, n = 20) berufen, Merkmal auch der guten Nachwuchsförderung. Neue Kräfte kamen hinzu. 2008 erfolgte die Bildung von 5 Forschungszentren – eine interdisziplinäre Kombination zwischen Grundlagen – und angewandter Forschung. 2023 wiederum wurde die Forschung in drei Schwerpunkten vereint, um die Synergien noch besser nutzen zu können. Die Drittmitteleinwerbung war höchst erfolgreich: In 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 293

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ den letzten Jahren wurden über 12 Mio. Euro eingeworben. – Ausdruck einer hohen, anerkannten Forschungsintensität. Man sieht, die Fakultät geht mit der Zeit und erfüllt die von der universitären Öffentlichkeit verlangten Aktivitäten in jeder Weise. Die Leipziger Fakultät hat sowohl auf präklinischen als auch klinischen Teilgebieten Spitzenleistungen Sektionen Anatomie/Physiologie/Biochemie, Mikrobiologie, Immunologie einschließlich Tierhygiene, Pharmakologe, Kleintierkunde, Reproduktionswissenschaft (Schwein), Bestandsbetreuung in Rinderbetrieben, Geflügelkunde (praenatale Geschlechtsdifferenzierung), Lebensmittelkunde u. a. Alle Kategorien, die heute die Leipziger Fakultät bilden, wurden wiederholt durch supranationale Begehungen/Evaluierungen nicht nur bestätigt, sondern deren Daseinsform lobend hervorgehoben. stellvertretend seien die vorzuweisen. Genannt hier Geht man von den Wünschen der Bewerberinnen und Bewerber für das Veterinärstudium in Deutschland aus, nimmt die Leipziger Fakultät eine Spitzenposition ein. Jährlich werden Plätze für 145 Studierende vergeben, die Zahl der Interessenten liegt 5 x höher. Die Studierenden fühlen sich hier umsorgt und gefördert, zudem inspirieren Universität und Kultur in Leipzig. Sie haben, auch als Ausdruck dessen, das „Bergfest“ in der Mitte des Studienganges initiiert, eine Veranstaltung, auf der Lernende und Lehrende zu feiern verstehen. An der hundertjährigen Geschichte der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig ist exemplarisch dargestellt, wie politisch-soziale Ereignisse und ökonomische Umstände deren Geschichte geprägt haben. Trotz aller historisch bedingter Einbrüche und Modifikationen hat es die Hochschullehrerschaft gemeinsam mit dem wissenschaftlichen und technischen Personal verstanden, die hohen universitären Ansprüche hinsichtlich der Lehre und Forschung stets zu erhalten und auch situationsgerecht anzupassen. Literatur 1. Bergmann A, Grün E. „Politische Aspekte der Geschichte der veterinärmedizinischen Ausbildungsstätte Leipzig in den Jahren 1949-1990“. Dtsch Tierärztl Wschr 2008; 115: 330-342. 2. Bergmann A, Grün E. „Zur Tätigkeit der Personalkommission an der veterinärmedizinischen Fakultät in den Jahren 1991- 1992 und zum Engagement von Wissenschaftlern während der Vakanzzeit“. Dtsch Tierärztl Wschr 2008; 115: 383-392. 3. Braun J, Braun G. „Lieber Kupferstecher Merian – wahre Begebenheiten“. Aufbau Verlag Berlin 1974. 4. Burckhardt A. „13 auf einen Streich – die personelle Veränderung der Professorenschaft an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig 1990 bis 1993“. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 1998. 5. Empfehlungen zur künftigen Hochschullandschaft in den neuen Ländern und im Ostteil von Berlin Teil II. Hrsg. Wissenschaftsrat Köln 1992. Fürll M (Hrsg). 100 Jahre Veterinärmedizinische Fakultät in Leipzig. Merkur Druck- und Kopierzentrum Leipzig 2023. 6. 7. Hein C. „Exekution eine Kalbes“ Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1994. 8. Krippner S. „Der weiße Idiot“ epubli Berlin 2016. 9. Mehlhorn G. „Veterinärmedizin im Würgegriff der Landwirte?“ Engelsdorfer Verlag Leipzig 2007. 10. Michel G. (Hrsg) „75 Jahre Veterinärmedizinische Fakultät in Leipzig, gegründet als Chur fürstliche Thier-Arzney-Schule zu Dresden 1780“. Leipzig 1998. 11. Salomon F-V. Lukas – eines schönen Tages Bodo-Books on Demand Norderstedt 2018. 12. Salomon F-V, Brumme M. Veterinärmedizinische Ausbildung in Sachsen. Merkur Druck- und Kopierzentrum Leipzig 2022. 13. Tellkamp U. „Der Tunnel“. Suhrkamp Verlag Frankfurt 2010. 14. Wolf Christa. „Der geteilte Himmel“. dtv-Verlag München 1993. Kontakt Prof. em. Dr. Dr. h. c. mult. Hartwig Bostedt; ehemals Tierklinik für Reproduktionsmedizin und Neugeborenenkunde, Gießen hartwig.bostedt@vetmed.uni-giessen.de 294 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Richard Götze und die Entwicklung der Veterinärmedizin von 1925 bis 1955 Johann Schäffer & Frank von Minden DVG, Fachgruppe „Geschichte der Veterinärmedizin“ Zusammenfassung Prof. Dr. Dr. h. c. Richard Götze (1890 -1955) war als Experte auf den Gebieten Rinderkrankheiten und Reproduktionsmedizin in vielerlei Hinsicht ein Pionier und Visionär. Seit seiner Ernennung zum ordentlichen Professor und Direktor der neu gegründeten Klinik für Geburtshilfe und Buiatrik an der Tierärztlichen Hochschule (TiHo) Hannover im Jahr 1925 hat er die Nutztiermedizin in entscheidenden Bereichen reformiert sowie die wissenschaftliche und akademische Entwicklung der Veterinärmedizin nachhaltig beeinflusst. Auf Götzes Initiative wurde die erste deutsche Besamungsstation gegründet und an der TiHo Hannover der Wandel von Disziplinen- zu Tierartenkliniken vollzogen. Von den einen als „einziger überzeugter Nazi der Hochschule“ eingestuft und von den anderen abgöttisch verehrt, nimmt Götze in der Geschichte der TiHo Hannover einen mythenhaften Platz ein. Ziel des Vortrags ist es, einen Blick auf die inter- und transdisziplinäre Wirkungsmächtigkeit von Götzes Forschungstätigkeit zu werfen. Vorgeschichte Im Frühjahr 1925 suchte der Senat der TiHo Hannover dringend nach einem Ordinarius für den neu gegründeten Lehrstuhl für Geburtshilfe und Buiatrik. Doch erst nachdem Johannes Richter aus Leipzig und Franz Benesch aus Wien einen Ruf nach Hannover abgelehnt hatten, wurde Götze kontaktiert. In einem persönlichen Brief von Ministerialdirigent Friedrich Müssemeier wurde er gefragt, ob er dazu „grundsätzlich bereit“ sei, einen offiziellen Ruf an die TiHo Hannover hat Götze nie erhalten. Nach einem Gespräch mit dem Professorenkollegium Mitte November 1925 stimmte Götze zu (1, S. 37-48; 2, S. 766). Abb. 1: Alles auf einen Blick: Ausschnitt aus der Illustration „Richard Götze (1890- 1955): La Rinderklinik di Hannover e la Buiatria“ aus dem Jahr 1996 (Aus 1, Abb. 146). Bei Dienstantritt gab es für Götze weder ein Klinikgebäude noch Patienten. Er musste die stationäre Klinik für Geburtshilfe und Rinderkrankheiten erst von ihren Grundfesten her aufbauen. In dieser Anfangsphase bestand für die Hochschule sogar die Gefahr, Richard Götze wieder zu verlieren. Im April 1926 teilte er dem 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 295

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Ministerium schriftlich mit, die Hochschule verlassen zu wollen, weil sich das Ministerium nicht an die bei Amtsantritt vereinbarten Zusagen hielt (2, S. 766). Götze blieb an der TiHo Hannover, musste jedoch deutliche Zugeständnisse machen. Nun ging es aber Schritt für Schritt bergauf und nach Anschaffung des ersten Motor-Tiertransportwagens der TiHo im Jahr 1927 gelang es Götze, die Patientenzahlen kontinuierlich zu steigern. Durch den Bau einer Demonstrations- und Operationshalle im Jahr 1928 erhielt die Klinik die ersten eigenen Gebäude, und bis zum Jahr 1955 war neben den Klinik- und Stallgebäuden auch noch ein imposantes dreigeschossiges Institutsgebäude entstanden (2, S. 768). Wissenschaftliches Gesamtwerk Unter der Leitung von Götze sind aus der Klinik für Geburtshilfe und Rinderkrankheiten circa 800 Veröffentlichungen hervorgegangen, darunter sechs Lehrbücher und Monographien, über 200 Beiträge in Zeitschriften und andere wissenschaftliche Arbeiten, mehr als 400 Dissertationen, 3 Habilitationsschriften und rund 30 Lehrfilme. Auf eine rein quantitative Analyse des literarischen Schaffens soll hier nur verwiesen werden (1, S. 255-301, 309-386). Die wissenschaftliche und klinische Bedeutung der Forschungsergebnisse von Götze und Mitarbeitern sowie deren Nachwirkung haben Johannes Liess und Gustav Rosenberger als unmittelbare Zeitzeugen bereits in den 1950er und 1960er Jahren aufgezeigt. Aus diesem Grund sollen markante Abschnitte aus den Berichten dieser beiden Habilitanden Götzes im Folgenden als authentische Quellen wörtlich zitiert werden: „[...] Zunächst galten die Forschungen Götzes den wirtschaftlich bedeutendsten seuchenhaften Erkrankungen des Rindes. Er arbeitete u. a. über die Euterentzündungen, das seuchenhafte Verkalben, die Gasödeminfektionen, die Bekämpfung der Dasselfliege und Räude des Rindes. Über die klinische Seite der Maul- und Klauenseuche wurde gearbeitet und es wurden Richtlinien zu ihrer Behandlung herausgegeben. Besonders erfolgreich waren die Forschungen über das bösartige Katarrhalfieber, indem durch exakte Versuche das Schaf als Überträger erkannt wurde. Hierdurch ergab sich für die Vorbeuge die einfache Forderung, Schafe und Rinder voneinander zu trennen, wodurch diese Krankheit besiegt war und der Landwirtschaft Millionenverluste erspart blieben. [...].“ [6] „[...] Aus dem Gebiet der Geburtshilfe verdienen die Arbeiten über die Sulfonamidtherapie bei den bakteriellen geburtshilflichen Nachgeburts-Infektionen, ferner die Arbeiten über den Kaiserschnitt beim Rinde, besonders aber über die Ausarbeitung eines neuen [...] Verfahrens der Embryotomie [Anm. der Verf.: Fetotomie] bei Pferd und Rind besondere Erwähnung, wodurch ein neuer Abschnitt tierärztlicher Geburtshelferkunst eingeführt wurde. [...] Für die Diagnostik und Therapie wurden eine Reihe bester Instrumente neu geschaffen oder vorhanden in zweckmäßiger Weise geändert, so z. B. die Instrumente zur Endoskopie beim Rinde, verschiedene Arten von Scheidenspekula, Infusionskatheter zur Behandlung von Endometritiden, das Röhrenembryotom nach Thygesen, die Instrumente zur intrakutanen Tuberkulinisierung [...].“ [6] „[...] Mit der Rindertuberkulose beschäftigte sich Götze seit langem. Schon in den dreissiger Jahren wurde die intrakutane Tuberkulinprobe und das zugehörige Instrumentarium in der Form ausgearbeitet, praktisch erprobt und empfohlen, wie es später im staatlichen Tuberkulosebekämpfungsverfahren Verwendung fand. Diese Arbeiten sind als eine entscheidende Voraussetzung für die schnelle Tilgung der Rindertuberkulose in Deutschland anzusehen. Später erstreckte sich das Interesse besonders auf die Leukose, für deren Diagnostik und epidemiologisches Verhalten entscheidend neue Erkenntnisse gewonnen wurden, welche die Grundlagen des [...] staatlichen Bekämpfungsverfahrens darstellen [...].“ [7] Die Bedeutung der Arbeiten Götzes für die Öffentliche Gesundheit (Public Health), insbesondere auf dem Gebiet der Zoonosenforschung (Brucellose, Tuberkulose u. a.), fasste Willfried Brühann (1983) am Beispiel der Tuberkulose in zwei Sätzen zusammen: „Das wesentlichste Ergebnis bleibt, daß die Gefährdung der Kinder durch verseuchte Milch gebannt wurde. 50 % der Kindertuberkulose war vordem auf den Typus bovinus zurückzuführen“ (8, S. 47). 296 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Künstliche Besamung Götze war zwar nicht der Erfinder der künstlichen Besamung in der Tiermedizin, aber er war ab 1933 ihr Spiritus Rector, der die Methodik und das Instrumentarium verbessert, praxistauglich gemacht und etabliert hat. Er hatte das medizinische und ökonomische Potenzial der artifiziellen Insemination längst erkannt: Eliminierung der Deckseuchen, Steigerung der Reproduktionsrate und Leistungssteigerung des Einzeltieres durch gezielte Anpaarung, und dies alles mit dem Ziel, die Lebensmittelproduktion (Milch, Fleisch etc.) zu steigern als einem - damals wie heute - enorm wichtigen Wirtschaftszweig (dazu ausführlich 9). Abb. 2: Götze bei der mikroskopischen Untersuchung von Sperma. Das frisch gewonnene Ejakulat (in den Messzylindern) und die zur Untersuchung und Verdünnung benötigten Hilfsmittel: frischer Hühnereidotter, 6 %ige Glucoselösung, Kapillarpipetten, Objektträger (Aus 1, Abb. 125). Nach Götzes Erfolgen auf dem Gebiet der künstlichen Besamung bei Haussäugetieren begann sich auch die Humanmedizin für seine Forschungsergebnisse zu interessieren. Ein Jahr vor Kriegsende spricht der nachfolgend in Auszügen zitierte Brief des Medizinalrats und Oberarztes Dr. Wolf an der Landesfrauenklinik Erfurt vom 7. Juni 1944 die Brisanz des Themas deutlich an: „Sehr verehrter Herr Prof. Götze! [...] Der Krieg hat die Bedeutung des Kindersegens für den Staat und die einzelne Familie ganz ausserordentlich gesteigert. Er hat uns vor allem darüber belehrt, dass noch verhängnisvoller als die Verluste an den Fronten für den Bestand des Volkes die stillen Verluste durch Geburtenausfälle infolge der Einziehung der Ehemänner werden. Der Staat und die Führung der Wehrmacht haben der Bedeutung dieser Frage Rechnung zu tragen gesucht, indem sie, durch weitestgehende Urlaubsgewährung, die Conzeption zu begünstigen suchten. [...] Leider hat aber die Entwicklung des Krieges zu immer schwereren Urlaubsbeschränkungen geführt. [...] Tatsächlich ist ja auch nur in einem kleinen Teil der Fälle selbst bei gesunden Ehepartnern von einem 3 wöchentlichen Urlaub eine Gravidität zu erwarten. [...] Von Soldaten selbst ist uns nun die Frage gestellt worden, ob es nicht bei dem Menschen ebenso wie bei dem Tier möglich wäre, mit dem konservierten Samen des Ehemannes die getrennt von ihm lebende Ehefrau künstlich zu befruchten. [...] Je mehr wir nun hierüber nachdenken, umso mehr gewinnen wir die Ueberzeugung, dass die Konservierung des menschlichen Spermas und die verzögerte künstliche Befruchtung mit ihm genauso gelingen müsste, wie dies in der Tierzucht gelungen ist. Es ist klar, dass eine Lösung dieser Fragen über die wissenschaftliche Bedeutung hinaus von ganz beträchtlichem praktischen Interesse werden könnte. [...] 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 297

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Um in diesen Fragen weiter zu kommen, wäre es nun für uns ganz ausserordentlich wichtig, die Erfahrungen und Wege auf dem Gebiet der tierischen Fernbefruchtung kennen zu lernen. [...]“. (1, Abb. 130a & b; 3, S. 109- 110) Abb. 3 a & b: „[…] von ganz beträchtlichem praktischen Interesse“: Anfrage des Oberarztes Dr. Wolf aus der Landesfrauenklinik Erfurt mit der Bitte an Götze um Informationen und Literatur zur Frage, ob eine künstliche Befruchtung mit konserviertem Samen auch beim Menschen möglich wäre, um die Geburtenrate zu steigern (Aus 1, Abb. 130 a & b). Die damals ideologisch und militärisch avisierte „Steigerung der Produktion von Soldaten“ war wohl kaum ein Grund für Götzes weitere Aktivitäten auf dem Gebiet der künstlichen Besamung. Die „künstliche Befruchtung“ beim Menschen hat in den Folgejahrzehnten auch eine ganz andere medizinische und ethische Entwicklung erfahren als die „künstliche Besamung“ in der Tiermedizin, die bis heute aus dem praktischen Zuchtbetrieb bei landwirtschaftlichen Nutztieren nicht mehr wegzudenken ist. „[…] nur mit ihr waren die züchterischen Erfolge der letzten Jahrzehnte überhaupt realisierbar“ (9, S. 50; 10; 11). Literatur 1. Minden F von: Richard Götze (1890–1955) – Leben und Werk. Quellen und Materialien zur Geschichte der Tierärztlichen Hochschule Hannover [Dissertation]. Hannover, Tierärztl. Hochschule, 2013. Verlag der DVG Service GmbH, Gießen, ISBN 978-3-86345-138-7. Die vollständige Arbeit ist online abrufbar: https://elib.tiho- hannover.de/dissertations/mindenf_ss13 (Letzter Zugriff 20.09.2023). 2. Minden F von, Schäffer J: Der Avantgardist. Über das Leben und Werk von Richard Götze (1890-1955). In: Deutsches Tierärzteblatt 2013: 61 (6), 764-771. 3. Minden F von: „Seine Arbeit war sein Leben“ – Richard Götze (1890-1955) als Vermittler zwischen Veterinär- und Humanmedizin. In: Schäffer J (Hrsg.): Mensch – Tier – Medizin. Beziehungen und Probleme in Geschichte und Gegenwart. 17. Jahrestagung der DVG-Fachgruppe Geschichte. Gießen: Verlag der DVG Service GmbH, 2014, 109- 115. ISBN 978-3-86345-237-7. 4. Minden F von: Richard Götze (1890-1955) – „… der einzige überzeugte Nazi der Hochschule …“: Ein „Opfer“ alternativer Fakten? In: Schäffer J (Hrsg.): Veterinärmedizin und Nationalsozialismus in Europa. Stand und 298 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Perspektiven der Forschung. 19. Jahrestagung der DVG-Fachgruppe Geschichte. Gießen: Verlag der DVG Service GmbH, 2018, 131-149. ISBN 978-3-86345-455-5. 5. Auf die quellenkritischen Ergebnisse der Publikationen (1) bis (4) stützen sich alle heute von anderen Autoren online zugänglichen biographischen Beiträge über Richard Götze: https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_G%C3%B6tze. - https://www.wikiwand.com/de/Richard_G%C3%B6tze. - https://dewiki.de/Lexikon/Richard_G%C3%B6tze. - https://web.archive.org/web/20160305034409/https://bib.vetmed.fu-berlin.de/vetbiogramm/220.html (Letzter Zugriff jeweils 20.09.2023). Liess J, Rosenberger G: Richard Götze zum 60. Geburtstag. In Deutsche Tierärztliche Wochenschrift 1950: 57 (39/40), 318-319. 6. 7. Rosenberger G: Richard Götze und sein Werk. Vortrag auf der Promotionsfeier der Tierärztlichen Hochschule Hannover am 17. Dezember 1965. TiHoA o. Sign., 1965. 8. Brühann W: Das öffentliche Veterinärwesen. Berlin & Hamburg: Verlag Paul Parey 1983. 9. Schimanski M: Von Moskau nach Pinneberg. Die Einführung der Rinderbesamung in Deutschland. In: Schäffer J (Hrsg.): Geschichte der Gynäkologie und Andrologie der Haustiere. 14. Jahrestagung der DVG-Fachgruppe Geschichte. Gießen: Verlag der DVG Service GmbH, 2008, 36-51. ISBN 978-3-939902-74-4. 10. Über die weitere Entwicklung der ehemaligen Klinik für Geburtshilfe und Rinderkrankheiten informiert die Homepage der TiHo Hannover. Im Jahr 1955 ging aus der Abteilung für Haustierbesamung das „Institut für Haustierbesamung und Andrologie“ hervor. https://www.tiho-hannover.de/kliniken-institute/kliniken/klinik-fuer-rinder/historie-der-klinik-fuer-rinder https://www.tiho-hannover.de/kliniken-institute/kliniken/klinik-fuer-rinder/die-klinik-fuer-rinder-in-zahlen https://www.tiho-hannover.de/kliniken-institute/kliniken/reproduktionsmedizinische-einheit-der-kliniken/die- reproduktionsmedizinische-einheit/geschichte-der-einrichtung (Letzter Zugriff jeweils 20.09.2023). 11. https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCnstliche_Befruchtung (Letzter Zugriff 20.09.2023). Kontakt Univ.-Prof. (i. R.) Dr. Dr. habil. Johann Schäffer; Leiter der DVG-Fachgruppe „Geschichte der Veterinärmedizin“, München jfb.schaeffer@t-online.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 299

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Oskar Kellner – ein begnadeter Leipziger Wissenschaftler Wolfgang-Bernhard Souffrant Rostock In der Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte Deutschland auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Forschung zu den führenden Nationen Europas und dies nicht zuletzt dadurch, dass in seinen Grenzen Wissenschaftler tätig waren, deren wissenschaftliche Leistungen weltweit Anerkennung gefunden haben. Zu diesen Wissenschaftlern gehörte Oskar Johann Nepomuk Kellner. Am 13. Mai 1851 erblickte Oskar Kellner in Tillowitz (Schlesien) als erstes Kind des Schneidermeisters Johann Kellner und seiner Ehefrau Theresia das Licht der Welt. Er wuchs mit seinen beiden jüngeren Brüdern Max und Hermann im Haus der Eltern auf und bekam die ersten Unterrichtsstunden bei einem Privatlehrer. Dieser erkannte schon bald Oskars schnelle Auffassungsgabe, seinen Lerneifer und seine gute Erziehung und legte den Eltern nahe, ihm eine höhere Schulausbildung zukommen zu lassen. So kam er im April 1864 auf das Realgymnasium in Neiße. Offensichtlich wurde an Interesse oder naturwissenschaftlichen geweckt weiterentwickelt. Als Primaner unterbrach er seine Vorbereitungen auf den Abschluss des Gymnasiums und zog als einjährig Freiwilliger in den Deutsch-Französischen Krieg. Nach seiner Rückkehr legte er den Gymnasialabschluss ab und schrieb sich im Mai 1872 an der Universität Breslau für die Fachrichtungen Chemie und beschreibende Naturwissenschaften ein. Nach einem Jahr wechselte er an die Leipziger Universität. Schon während der Studienzeit beschäftigte er sich eingehend mit agrikulturchemischen Fragestellungen und so konnte er nach Abschluss des Studiums seine Doktorarbeit zum Thema „Über einige chemischen Vorgänge bei der Keimung von Pisum sativum“ einreichen und deren Ergebnisse noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift „Die landwirtschaftlichen Versuchsstationen“ veröffentlichen. Am 2.11.1874 promovierte ihn die Leipziger Universität zum „philosophae doctor et bonarum artium magister“. Die Untersuchung zu seiner Doktorarbeit führte Kellner auf Anregung von Prof. Wilhelm Knop bereits an der landwirtschaftlichen Versuchsstation Möckern durch, nicht ahnend, dass er Jahre später Direktor dieser Forschungsstätte werden würde. dort Prozessen sein im April 1871 Von Leipzig ging Oskar Kellner zurück in seine schlesische Heimat nach Proskau und arbeitete als Assistent bei H. Weiske, am tierphysiologischen Institut der dortigen preußischen königlichen landwirtschaftlichen Akademie. Wahrscheinlich wurde hier sein späteres Interesse geweckt, sich besonders der Fütterungslehre zu zuwenden. In Proskau blieb Kellner zwei Jahre und veröffentlichte während dieser Zeit mehr als zehn wissenschaftliche Beiträge, hielt Vorlesungen an der Akademie sowie Vorträge in der landwirtschaftlichen Praxis und auf Tagungen. Im April 1877 bekam Kellner eine Stellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Emil von Wolff an der königlichen landwirtschaftlichen Versuchsstation zu Hohenheim. Als Stationschemiker trug er Verantwortung für die Versuche auf den Feldern und denen im Stall, sowie insbesondere für die Analysen des gewonnenen Probenmaterials. Wolff erkannte zeitig Kellners Fähigkeiten, sein Wissen und Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten und sein Streben nach neuen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Nährstoffversorgung der Pflanzen 300 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ und Tiere. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Versuchsstation und der Hohenheimer Akademie erwarb er sich einen umfassenden Einblick in die einzelnen Bereiche der Landwirtschaft und bekam Kontakt mit den Vertretern der unterschiedlichen Fachdisziplinen. Die Anzahl der Artikel – zwölf Publikationen aus eigener Feder und zwanzig Publikationen als Mitautor - die Kellner während seiner Hohenheimer Zeit veröffentlichte, lassen Rückschlüsse auf seine Arbeitsintensität und -effektivität zu. Neben Abhandlungen zur Verdaulichkeit und zum Futterwert verschiedener landwirtschaftlicher Produkte veröffentlichte Kellner 1880 einen Artikel „Untersuchungen über die Entbitterung und Verdaulichkeit der Lupine“, einem Thema, das bereits damals von hoher praktischer Relevanz war. Besondere Aufmerksamkeit brachten ihm Tier- und Humanphysiologen entgegen, als er 1879 und 1880 in den „Landwirtschaftlichen Jahrbüchern“ die Ergebnisse seiner Untersuchung zum „Zusammenhang zwischen Muskeltätigkeit und Stoffzerfall im tierischen Organismus“ publizierte, da zu jener Zeit die Meinung von Liebig vertreten wurde, dass Muskelarbeit nur durch den Umsatz von Eiweiß erbracht werden kann. Mit seinen epochemachenden umfangreichen Untersuchungen mit Pferden konnte er unter Anwendung stickstoffhaltiger und stickstofffreier Rationen beweisen, dass Muskelarbeit durch alle organischen Nährstoffe, also Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate, geleistet werden kann und somit das Gesetz der Vertretbarkeit der Nährstoffe auf der Basis deren Energiegehaltes Gültigkeit hat. Der Mediziner und Physiologe Max Rubner bestätigte 1882 diese Erkenntnis mit dem sogenannten Gesetz der Isodynamie der Nährstoffe. Emil von Wolff unterstützte die Aktivitäten des jungen Oskar Kellner, gab ihm die Möglichkeit die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Untersuchungen auf nationalen und internationalen Tagungen zur Diskussion zu stellen, und trug somit dazu bei, dass ihm Anerkennung aus dem In- und Ausland entgegengebracht wurde. In Anerkennung seiner außerordentlichen Leistungen und um ihn möglichst in Hohenheim zu halten, beantragte Wolff bei der übergeordneten Dienststelle für Kellner eine Lohnerhöhung und die Ernennung zum Professor. Letzteres wurde jedoch von den zuständigen Stellen abgelehnt. Die gewährte Lohnerhöhung um 800 RM pro Jahr war für Kellner der Grund, zunächst in Hohenheim zu bleiben. Wohlwollend unterstützt durch Emil von Wolff und dem Spezialbevollmächtigten des japanischen Ministers für Handel und Landwirtschaft in Stuttgart Eberhard Schmid wurde Oskar Kellner eine Stelle als Leiter und Lehrender des agrikulturchemischen Laboratoriums an der landwirtschaftlichen Lehranstalt in Tokio angeboten. Dem Ruf folgte Kellner. Im Alter von 30 Jahren kam Oskar Kellner im September 1881 in Japan an und nahm seine Tätigkeit an der Komaba Landwirtschaftsschule auf. Sein Dreijahresvertrag als Lehrer für Agrarchemie sah vor, dass er täglich sechs Stunden in Englisch zu unterrichten hatte, sowie in Japan ein System für Untersuchungen und Analysen der Böden und landwirtschaftlichen Produkte zu etablieren. Nach seiner Ankunft in Japan wohnte er zunächst im Hause des Physikers Prof. Jiro Kitao, der längere Zeit in Deutschland war und fließend deutsch sprach. Seine deutsche Frau hatte eine Wirtschaftshilfe namens Anna Louise Tomeno Kawase, die ebenfalls der deutschen Sprache mächtig war und als Adoptivkind aus dem Hause eines ehemaligen Samurais stammte. Im Oktober 1887 heiratete Oskar Kellner Tomeno Kawase in einer privaten Feierlichkeit. Die Eheschließung war jedoch illegal, da den damals geltenden Gesetzen zufolge Japanerinnen, die einen Ausländer heirateten, die japanische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde. Dies war jedoch nicht im Interesse des Paares, denn Oskar Kellner fühlte sich wohl in Japan und befasste sich mit dem Gedanken, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Sie lebten sehr glücklich zusammen und am 2. Januar 1889 wurde dem Paar eine Tochter geboren, der sie den Namen Tony gaben. Seine Tätigkeit an der Schule zeigte zunehmend Erfolge. Bei der Ausbildung der Studenten führte er praktische Übungen in Laboren und auf den Feldern ein. Zunächst konzentrierte er sich bei seinen experimentellen Arbeiten auf die Ernährung der Pflanzen. So sorgte er für Versuchsflächen für den Reisanbau, denn seine Forschungsarbeit richtete sich vordergründig auf die Steigerung der Ernteerträge des Grundnahrungsmittels. Er suchte nach Möglichkeiten der Düngung mit Mineralien, aber auch menschlichen und tierischen Exkrementen und konnte damit dazu beitragen, dass sich die Reisproduktion in kurzer Zeit spürbar erhöhte. Die Wichtigkeit der Seidenraupenzüchtung und -fütterung erkannte er zeitig und trug mit seinen Forschungsergebnissen zur Verbesserung der Seidenproduktion und damit zum Fortschritt in der japanischen Landwirtschaft bei. Seine Leistungen fanden mit der Verleihung des Titels eines Ehrendozenten der Kaiserlichen Universität Tokio und der Auszeichnung mit staatlichen Orden hohe Anerkennung. Die Ergebnisse 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 301

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ seiner Forschungsarbeit wurden sowohl in deutschen wie auch in japanischen Fachzeitschriften publiziert und trugen dazu bei, dass Kellners Name weltweit bekannter wurde. 1892 verstarb plötzlich Gustav Kühn und es wurde ein Nachfolger für die Position des Direktors der landwirtschaftlichen Versuchsstation in Leipzig-Möckern gesucht. Friedrich Nobbe, zur damaligen Zeit Vorsitzender des Verbandes landwirtschaftlicher Versuchsstationen im Deutschen Reich, schickte einen Brief nach Tokio und forderte Kellner auf, sich für die vakante Position zu bewerben. Der Aufforderung folgend schickte Kellner sein Bewerbungsschreiben zusammen mit einer Liste von 57 Publikationen an das Königliche Staatsministerium des Inneren nach Dresden. Unter den drei Bewerbern entschied sich das Kuratorium für Oskar Kellner, der vom Sächsischen Minister den offiziellen Ruf erhielt. Die Entscheidung, den Ruf anzunehmen, fiel Kellner nicht leicht, hatte er sich doch durch seine umsichtige Forschungsarbeit und seine vielseitigen Kontakte eine geachtete Stellung in Japan bis in die Regierungskreise, sowie an der Bildungseinrichtung erarbeitet. Er war mit seiner Arbeit und seinem Leben in Tokio sehr zufrieden und hat später nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Zeit in Japan zur schönsten seines Lebens gehörte. Auf der anderen Seite war das Angebot für ihn sehr verlockend, gehörte doch die Versuchsstation in Möckern zu den modernsten in Deutschland und war mit einer Versuchstechnik ausgerüstet, die ihm erlaubte, seinem Forscherdrang auf dem Gebiet der Tierernährung nachgehen zu können. So entschloss er sich den Ruf anzunehmen und reiste, da seine Lebenspartnerin erkrankt war, zunächst allein zurück nach Deutschland. Am 15. Februar 1893 übernahm Kellner die Leitung der Versuchsstation in Möckern. Zunächst galt es für ihn, den umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass von Gustav Kühn aufzuarbeiten und sich in die Nutzung der vorhandenen Respirationsanlagen einzuarbeiten. Nach der Genesung reisten seine Lebenspartnerin und seine Tochter nach Deutschland und so konnte das Paar offiziell am 28. September 1893 in Görlitz, dem damaligen Wohnort seines Vaters, den Bund fürs Leben schließen. Ihr Sohn Max Oskar Johann Kellner wurde am 7. August 1894 in Möckern geboren. Kellner baute die Forschung in Möckern systematisch in Richtung Grundlagenforschung aus und ließ sich dabei von dem Gedanken leiten, dass die Bewertung der Futterstoffe nur auf der Basis eines ermittelbaren Messwertes definiert sein kann. Als Messwert sah er das Fettbildungsvermögen der einzelnen Nährstoffe an, dass im Respirationsversuch über die indirekte Kalorimetrie, also einer kompletten C- und N-Bilanz, ermittelt werden kann. Auf der Basis seiner Versuchsergebnisse entschied er sich für eine stoffliche Maßzahl, wählte das Fettbildungsvermögen von 1 kg Stärke bei ausgewachsenen Ochsen und führte als Einheit den Begriff „Stärkewert“ ein. Genaugenommen ist der Stärkewert nicht nur eine stoffliche Maßzahl, sondern gleichzeitig eine energetische. Die Nährstoffe und Futtermittel wertmäßig auf der Basis der Wirkung im Tier zu vergleichen, war die Geburtsstunde des Begriffs „Nettoenergie“. Des Weiteren erkannte Kellner, dass dem Eiweiß bei der Bewertung der Futtermittel eine besondere Bedeutung zukommt und deshalb bei den Bedarfsangaben der Tiere die Menge an verdaulichem Eiweiß berücksichtigt werden muss. Über all seinem Tun stand sein Leitspruch: „Es geht alles, man muss es nur wollen!“ In Anerkennung der Leistungen in der Führung der Versuchsstation und der erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse ernannte ihn der König von Sachsen 1893 zum Hofrat und 1901 zum Geheimen Hofrat. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hat Kellner in seinem Lehrbuch „Die Ernährung der landwirtschaftlichen Nutztiere“, das erstmals 1905 erschien, zusammenfassend mit umfangreichen Futterwerttabellen veröffentlicht und weltweit verbreitet. Die kleinere Version „Grundlagen der Fütterungslehre“, die besonders für Praktiker und Studenten gedacht war, erschien 1907, wurde in viele Sprachen übersetzt und bis 1984 in sechzehn Auflagen herausgegeben. Die Liste der nationalen und internationalen Ehrungen, die Oskar Kellner zu Lebenszeiten erhalten hat, ist lang und ist ein Spiegel seines erfolgreichen Forscherlebens: u.a.- Ehrenprofessor der Kaiserlichen Universität Tokio; - Verleihung der Goldenen Liebig Medaille; - Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät der Universität Breslau. Im September 1911 reiste Oskar Kellner nach Karlsruhe, um an der 31. Hauptversammlung des Verbandes der Landwirtschaftlichen Versuchsstationen teilzunehmen. Aus gesundheitlichen Gründen wollte er dort seine 302 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Funktion als Vorsitzender des Verbandes abgeben und sollte zum Ehrenvorsitzenden des Verbandes ernannt werden. Das Schicksal wollte es anders. Am 22. September 1911 erlag Oskar Kellner in Karlsruhe einem Schlaganfall. Sein Grab auf dem Leipziger Südfriedhof befindet sich unweit vom Völkerschlachtdenkmal und wird auf Beschluss der Stadt Leipzig als „Historische Grabstätte“ der Nachwelt erhalten bleiben. Franz Honcamp, der in Leipzig-Möckern enger Mitarbeiter von Oskar Kellner war und mehrere Jahre mit ihm zusammengearbeitet hat, nannte ihn im Nachruf einen Markstein in der Geschichte der Agrikulturchemie und den Begründer der wissenschaftlichen Futterbewertung. Justus von Liebig (1803-1873), Herrmann Hellriegel (1831-1895) und Oskar Kellner (1851-1911), „sie waren die Pfadfinder in unserer Wissenschaft“, die mit naturwissenschaftlichen Methoden die Vorgänge in Boden, Pflanze und Tier erforschten. Literatur 1. Breirem, K.: Oscar Kellner; Journal of Nutrition 47, 1, 1952, S. 3-10 2. Honcamp, F.: Oskar Kellner, ein Rückblick auf sein Leben und sein Forschen; Die landwirtschaftlichen Versuchs-Stationen 76, 1912, S. I—XLIV. 3. Kozai, Y.: Teacher, Privy Council, Professor Oscar Kellner; Journal of Scientific Agricultural Society, 117, 1912, 1-33 (japanisch) 4. Kumazawa, E.: From empirical knowledge to scientific knowledge: choosing between British and German styles in advanced agricultural education, in: Origin and organization of modern scholarship; Bensei Publishing Co., Ltd., Tokio, 2014, ISDN: 978-4-585-22099-2, (japanisch) 5. Nehring, K.: 100 Jahre Landwirtschaftliche Versuchsstation Möckern – 100 Jahre Forschung auf dem Gebiet der Tierernährung und Fütterung; Tierzucht, 7 (1953), 1, 1-6 6. Schiemann, R.: Zum 75. Todestag von Oskar Kellner; Archiv für Tierernährung, 27 (1987), 10, 906-912 7. Wöhlbier, W.: Oskar Kellner; Große Landwirte; DLG-Verlag, Frankfurt (Main), 1970, S. 282-293 Kontakt Dr. Wolfgang-Bernhard Souffrant; Rostock wbsouffrant@web.de 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 303

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Johannes Schmidt - ein Leben für die Veterinärmedizinische Fakultät Andrea Holle Abteilung für Veterinärwesen, Ordnungsamt Dortmund Johannes Walter Schmidt wird am 16.06.1870 in Loschwitz (Dresden) geboren und studiert 1888 an der Königlichen Tierarzneischule in Dresden. 1897 wird er Bezirkstierarzt in Dresden und heiratet im Oktober 1898 Eleonore Hilda Kunkel. Beide werden insgesamt 4 Kinder haben. Beruflich folgen in den nächsten Jahren Promotion (Dr. phil.), Professur und Leitung der Medizinischen Tierklinik. 1911 wird er Medizinalrat, vier Jahre darauf Obermedizinalrat. Im Jahre 1916 wird er zusammen mit fünf weiteren Professoren zum Doctor medicinae veterinariae promoviert. Im August 1914 wird Schmidt einberufen. Als der 1. Weltkrieg endet hat Schmidt insgesamt vier sächsische Könige und drei deutsche Kaiser miterlebt. 1923 zieht Schmidt zusammen mit seiner Hochschule nach Leipzig um. Hier wird sie als Veterinärmedizinische Fakultät der Universität Leipzig angegliedert. In der Zeit von 1926 – 1927 wird er Dekan und etabliert in den Jahren davor die Geflügelkrankheiten und die Bienenkunde als eigenständige Vorlesungen und Arbeitsgebiete an seiner Hochschule und beschäftigt sich unter anderem mit der Erforschung der Bornaschen Krankheit. 1936 wird Schmidt zum ersten Mal emeritiert. Doch bereits zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vertritt Schmidt seinen einberufenen Nachfolger und übernimmt seinen alten Lehrstuhl, die Medizinische Tierklinik und die dazugehörigen Vorlesungen. Als in den letzten Kriegsjahren auch auf die Veterinärmedizinische Fakultät Bomben fallen, muss er miterleben, wie unter anderem seine Klinik vollkommen zerstört wird. Insgesamt werden Institute und Kliniken stark beschädigt, ebenso werden Sammlungen, Bücherbestände, Instrumente, Gerätschaften, etc. vernichtet. Bis Ende 1945 ist der Lehrkörper dann insgesamt durch Ruhestand, ehemalige NSDAP-Zugehörigkeit und Tod so erheblich verkleinert worden, dass es zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Professoren gibt. Einer davon ist Johannes Schmidt. Im November 1945 wird er Dekan der Veterinärmedizinischen Fakultät, zu diesem Zeitpunkt ist Schmidt 75 Jahre alt. Insgesamt leitet er zeitweise stellvertretend sechs Institute und übernimmt außerhalb seines eigentlichen Lehramtes noch sechs Pflichtfächer. Schmidt setzt sich sehr dafür ein, neue Lehrkräfte zu bekommen, beziehungsweise entlassene wieder beschäftigen zu dürfen. Dieser Mangel an Lehrkräften führt fast zur Schließung der Fakultät, doch durch nachrückende Kräfte verbessert sich die Lage schließlich. Im Sommer 1949 führt Schmidt monatlich stattfindende Referierstunden für die Assistenten ein, 1951 wird er schließlich zum zweiten Mal emeritiert. Bis kurz vor seinem Tod ist er stellvertretender Leiter des Pharmakologischen Institutes. Obermedizinalrat Prof. Dr. phil., Dr. med. vet. Johannes Schmidt stirbt am 23.02.1953. Literatur 1. Holle, A. Leben und Werk des Obermedizinalrates Prof. Dr. phil., Dr. med. vet. Johannes Schmidt (1870-1953), 2008 Kontakt Dr. Andrea Holle, Abteilung für Veterinärwesen, Ordnungsamt Dortmund aholle@stadtdo.de 304 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Das Wirken von Prof. Dr. Karl Max Schneider als Direktor des Leipziger Zoos Klaus Eulenberger und Jeannette Meier Langenleuba-Niederhain Karl Max Schneider, 1887 geboren in Callnberg (Lichtenstein/Sa), besuchte dort zunächst die Volksschule und fand aufgrund seiner guten schulischen Leistungen 1901 Aufnahme im Fürstlich-Schönburgischen Lehrerseminar Waldenburg. 1910 nahm er an der Alma mater lipsiensis das Studium der Pädagogik und der Philosophie auf und promovierte 1912 mit einer erkenntnistheoretischen Schrift zum Dr. phil. Nach einer Zwischenstation als Assistent am Zoologischen Institut in Frankfurt am Main kehrte er 1919 als Volontärassistent an das Psychologische Institut nach Leipzig zurück. Zwischenzeitlich erlitt er im 1. Weltkrieg zwei schwere Verletzungen; ein Unterschenkel musste amputiert werden, was ihn zeitlebens behinderte, aber zugleich auch Anregung war zu testen, wie sich Tiere verhalten, wenn sie mit einer Prothese leben müssen. Schneiders Wirken im Zoologischen Garten Leipzig begann 1919 als Assistent des Direktors. Während Direktor Prof. Gebbing sich überwiegend um die weitere Gestaltung des Zoos und der Tieranlagen kümmerte, oblag Schneider die allseitige Betreuung des Tierbestandes. Das schloss die Erfassung wissenschaftlicher Daten, die gesundheitliche Betreuung in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig, aber auch die Qualifizierung der Tierpfleger ein. Nach der Berentung von Gebbing übertrug Oberbürgermeister Dr. Goerdeler Schneider 1935 die Leitung des Zoos, die er mit einer kurzen Unterbrechung nach 1945 bis zu seinem Tode 1955 innehatte. Als Direktor setzte er die verschiedensten Forschungen fort, in Sonderheit zur Tierpsychologie mit der Errichtung einer Forschungsstelle für Tierpsychologie im Zoo, aber auch zur Tieranatomie und -physiologie, zur Fortpflanzungsbiologie und -pathologie, z. B. der Flusspferde bzw. kryptorchider Löwen und Rothirsche, zu Vitaminmangelerscheinungen bei Großkatzen. Viele seiner Beobachtungen und Erkenntnisse fanden in wissenschaftlichen Publikationen ihren Niederschlag. Besonderes Augenmerk galt dem Verhalten der Zootiere, das er psychologisch zu deuten versuchte. Bald stand er dazu im wissenschaftlichen Austausch mit Tembrock und auch im Meinungsstreit mit Otto Köhler. Während seiner täglichen Rundgänge im Zoo - stets mit Notizblock und umgehängter Kamera unterwegs - nicht selten begleitet und unterstützt von Fräulein v. Einsiedel, notierte Prof. Schneider im Humboldt´schen Sinne akribisch alle Einzelheiten, die in zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Abhandlungen schließlich fanden. Seine publizistische wissenschaftliche Arbeit war schließlich Veranlassung, ihm vom Verband der deutschen Zoodirektoren die Schriftführung der wissenschaftlichen Zeitschrift „Der Zoologische Garten (N.F.)“ anzutragen, die er bis zu seinem Tode wahrnahm. Sie blieb nachhaltig bis zu dessen Tode in den Händen seines ehemaligen Stellvertreters Heinrich Dathe. Dathe hatte zu der Zeit schon den Aufbau des Tierparks Berlin übernommen und wie sein vorheriger Chef stets auch der wissenschaftlichen Arbeit in den tiergärtnerischen Einrichtungen große Bedeutung beigemessen. ihre Bewertung und ihren Niederschlag Für seine Verdienste auf dem Gebiet der Tierpsychologie wurde Schneider schon 1944 zum Honorarprofessor bestellt und der Veterinärmedizischen Fakultät zugeordnet. Bereits 1942 war es ihm gelungen, im Zoo eine „tierseelenkundliche Forschungsstätte“ zu etablieren, die nach seinem Tode allerdings schnell wieder an Bedeutung verlor. So scheint es Bestimmung gewesen zu sein, dass das Wolfgang-Köhler- Primaten-Forschungszentrum des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie im Leipziger Zoo eine Heimat gefunden hat. Wolfgang Köhler, allerdings kein Verwandter von Otto Köhler, hatte an Schimpansen geforscht, passend z.B. zur Studie Schneiders an der Schimpansin „Eva“. Schneider arbeitete eng mit den verschiedensten Einrichtungen der Leipziger Universität zusammen; das waren vor allem das Psychologische und das Zoologische, an der Veterinärmedizinischen Fakultät das Anatomische und das Physiologische Institut. Geforscht wurde zu anatomischen Themen, wie der Anatomie 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 305

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ des Herzens bei Schimpansen und Orang-Utans, bei diversen Karnivoren inkl. den Robben, bei Elefanten, Flusspferden, dem Faultier, aber auch zu anatomischen Themen bei Vögeln sowie physiologischen Fragestellungen einschließlich derer für eine verbesserte Ernährung besonders der Karnivoren. Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die Fertigstellung von 23 Dissertationen, davon 19 mit veterinärmedizinischen Themen aus dem Zoo in den Jahren von 1927 bis 1955. Auf die Zusammenarbeit mit den Tierärzten der Fakultät legte Schneider großen Wert; die noch heute wöchentlich mit den Konsultanten der Fakultät stattfindenden gemeinsamen Visiten im Zoo gibt es seit Schneider. Es wurde immer wieder betont, dass diese Institution beiden Seiten zum Nutzen gereicht. Aber auch für eine qualifizierte Bildung der Zootierpfleger engagierte er sich als Direktor, einerseits indem er selbst seine Pfleger regelmäßig unterrichtete, andererseits indem er sich erfolgreich für die Anerkennung des Zootierpflegers als Lehrberuf einsetzte. Sein wissenschaftlicher Nachlass findet sich größtenteils in Lichtenstein und wird dort von der „Prof. Dr. Max-Schneider-Stiftung“ in Lichtenstein verwaltet. Er diente der Mitautorin des vorliegenden Beitrages als wichtigste Datenquelle für ihre Dissertation leider auch mit der Erkenntnis, dass der dort vorhandene Erfahrungsschatz bislang zu großen Teilen nicht gehoben ist. Besondere Bedeutung maß Schneider den jüngsten Zoobesuchern bei, allein dadurch, dass er als Direktor dem Tierkindergarten große Aufmerksamkeit zukommen ließ. Besonders aktiv wurde er nach dem 2. Weltkrieg, indem er intensiv populärwissenschaftlich tätig wurde, mehrere Tierbücher verfasste, regelmäßig im Rundfunk auftrat und sogar einen Film mit ihm und Kindern drehen ließ. Schneider war in dieser Zeit der bekannteste und äußerst beliebte Zoodirektor in ganz Deutschland. Die damaligen Verantwortlichen der Stadt Leipzig wussten das zu schätzen und verliehen ihm die Ehrenbürgerwürde. Sein erfolgreiches Schaffen, seine Bekannt- und Beliebtheit veranlassten die Regierung der DDR, ihm den Nationalpreis für Wissenschaft und Technik und den Vaterländischen Verdienstorden in Silber zu verleihen. Die Wissenschaft ehrte ihn 1952 mit der Aufnahme in die „Leopoldina“, die Universität mit der nicht ganz uneigennützigen erneuten Bestellung zum Honorarprofessor für Tierpsychologie an der Veterinärmedizinischen Fakultät. So wirkte K. M. Schneider nicht nur als Tiergärtner in einem Zoo, der damals schon zu den modernsten Einrichtungen Europas mit vorzüglichen Fortpflanzungserfolgen und artgemäßeren Tieranlagen zählte, sondern er führte den Zoologischen Garten als den ersten in Europa von einem reinen kommerziell betriebenen Schau- und Unterhaltungsbetrieb in eine Stätte der naturkundlichen Volksbildung und wissenschaftlichen Forschung mit Weltgeltung. Seine schon damals formulierte Bedeutung der Tiergärten auch als Stätte des Artenschutzes zählt heute zu den Hauptaufgaben tiergärtnerischer Einrichtungen. Literatur 1. Meier Jeannette (2001): Leben und Werk des Leipziger Zoodirektors Karl Max Schneider (1887-1955) und seine Beziehungen zur Veterinärmedizin. Kontakt Prof. Dr. Klaus Eulenberger, Langenleuba-Niedrhain 306 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Erlebnisse mit meinem Vater Karl Elze – Leipzigs langjährigem Zootierarzt Christian Elze Leipzig Zirkus (Auszug aus „Oda und der ausgestopfte Vater – Zoogeschichten“, kreuzerbooks-Verlag, Leipzig 2018) Eine der erfolgreichsten und spektakulärsten DDR-Zirkusnummern oder überhaupt Zirkusnummern, die je gezeigt wurden, war eine Eisbärendressur der inzwischen verstorbenen Dompteurin Ursula Böttcher. Frau Böttcher, die das lateinische »ursus« für Bär sogar im Vornamen trug, war eine winzige Person von 1,58 m, die ihr Zirkusleben zunächst als Reinigungskraft im Zirkus Busch begonnen hatte. Am Ende dirigierte sie bis zu zwölf arktische Riesen gleichzeitig und gab einem davon, dem Eisbären »Alaska«, bei jeder Vorstellung den sogenannten »Todeskuss«, was sie weltberühmt machte. Viele Jahre lang, tagein, tagaus, ließ sie es zu, dass eine riesige schwarze Eisbärenschnauze über ihren kleinen roten Mund wischte, um an einen Zuckerwürfel oder ein Stück Fleisch heranzukommen. Sie selbst hat es später einmal so beschrieben: »Ich hatte Fleisch im Mund und ›Alaska‹ holte es sich, schleckte mich ab. Ein Geschmack von Lebertran! Mich vollzusabbern hat dem Bären Spaß gemacht. Da hatte er ein Grinsen im Gesicht.« Ich selbst habe die Nummer nur einmal im Leben gesehen, weiß aber nicht mehr genau, in welchem Jahr es war. Auch an ein grinsendes Eisbärengesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Was jedoch in meinem Kopf geblieben ist, ist das leicht verschwommene Bild einer kleinen, aber resoluten, peitschenknallenden Frau, die ihre Eisbären auf Kugeln laufen und durch Reifen springen ließ, die auf ihnen ritt wie auf zu großen Ponys und sich schließlich ganz am Ende auf die Zehenspitzen stellte, ihr Gesicht nach oben hielt und sich von einem mehr als doppelt so großen blauzungigen Bären küssen ließ, der sich weit nach unten beugen musste. Die »Baroness of the bears«, wie sie später genannt wurde, bekam für diese Dressurnummer und Mutprobe 1974 den Zirkus-Oscar beim Festival Mundial in Barcelona überreicht. Irgendwann in den achtziger Jahren wurde sogar eine Zirkus-Sondermarke zu Ehren von Ursula Böttcher gedruckt, die genau diesen Todeskuss mit Alaska zeigte. Natürlich hatte ich diese Marke zu Hause in meinem Briefmarkenalbum und war sagenhaft stolz darauf. Nach der Wende ging die schillernde DDR-Zirkuswelt, wie so vieles andere auch, recht zügig den Bach runter. Der Staatszirkus wurde als »Berliner Circus Union GmbH« der Treuhand unterstellt, wurde aber nicht mehr wie einer der wichtigsten Kulturbetriebe eines zusammengebrochenen Landes behandelt, sondern nur noch wie ein reiner Wirtschaftsbetrieb – was er nie gewesen war. Es kam zu Entlassungen, Tierverkäufen, Liquidationen von Betriebsteilen, schnell zusammengezimmerten Fusionen und Namensrechteverkäufen und so weiter. Alles lief auf einen eruptiven Bedeutungsverlust hinaus, genauso wie bei fast allen anderen DDR- Betrieben. Was den Untergang aber zusätzlich unaufhaltsam machte, war die Tatsache, dass die Menschen nach 1989 ganz neue Träume und Nöte hatten. Wer interessierte sich in den Nachwendejahren schon für Zirkusse? Andererseits sagt die Weisheit aller Zirkusmenschen: »Solange es Kinder gibt, wird es immer auch Zirkusse geben«, und ich glaube, sie haben recht damit. Inzwischen sitze auch ich nach langen Jahren der Abstinenz wieder regelmäßig in allen möglichen kleineren und größeren Zirkussen und beobachte von der Seite meine eigenen, verzauberten Kinder. Bei manchen Vorstellungen blicke ich die Hälfte der Zeit gar nicht mehr nach vorn in die Manege, sondern nur noch in den Spiegel eines kindlichen Gesichts und freue mich diebisch darüber. Aber zurück zum Anfang der neunziger Jahre. Während der Staatszirkus der DDR sich langsam in Luft und Tiere auflöste, zeigten sich die westlichen Großzirkusse wie »Zirkus Knie« (aus dem der Leipziger Elefantenbulle »Sahib« stammte) und »Zirkus Krone« zum ersten Mal in Leipzig am Cottaweg. »Zirkus Krone« aus München ist noch immer der größte reisende Zirkus Europas mit den meisten Tieren. Jahrzehntelang wurde er von starken Frauen regiert: erst von Frieda Sembach-Krone bis zu ihrem Tod 1995, und dann von ihrer Tochter Christel Sembach-Krone von 1995 bis 2017. Beide Damen wurden 80 Jahre alt und haben Großes in der Zirkuswelt geleistet. In jüngeren Jahren waren sie in ganz Europa berühmt für ihre Pferdedressuren, Frieda 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 307

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Sembach-Krone trug sogar den Beinamen »Prinzessin der Pferde«. Mein Vater, ein ausgewachsener Pferdenarr, kannte beide sehr gut und verehrte sie. Auch wenn ich nicht mehr ganz klein war, sondern schätzungsweise 15 oder 16 Jahre alt, gehört eine Begebenheit aus dem »Zirkus Krone« zu meinen liebsten Gerade-noch-Kindheitserinnerungen. Mein Vater wurde gerufen, das neue Tastentelefon im Flur klingelte: Ein Tiger war krank und konnte nicht in der Vorstellung auftreten. Ich weiß nicht mehr genau, was ihm fehlte, aber mein Vater schien alles im Griff zu haben und ließ Tigertabletten da, die ins Futter gemischt werden sollten. Danach stiegen wir zu Frieda Sembach-Krone in den Zirkuswagen. Mein Vater stellte mich vor und ich bewunderte vor allem den geräumigen und mit scheinbar allen technischen Raffinessen ausgestatteten West-Zirkuswagen dieser alten Dame. Es wurde vor meinen Ohren mit Zirkusnamen und Zirkuswissen jongliert und ich erfuhr zum ersten Mal wie nebenbei, dass auch mein Vater einmal als junger Mann für einige Wochen mit einem Zirkus mitgereist war. Mein Vater und die »Prinzessin der Pferde« schienen sich prächtig zu amüsieren und zwitscherten einen nach dem anderen. Mir aber wurde irgendwann langweilig, weil ich nur Cola und Salzstangen bekam, und ich traute mich zu fragen, ob ich noch einmal rausgehen könne zu den Tieren. Aber natürlich, sagte Frau Sembach-Krone, drückte mir gleich noch eine Zirkusfreikarte in die Hand und mein Vater rief hellsichtig hinterher: »Aber steck nicht irgendwo deine Finger rein, verstanden!« »Natürlich nicht«, war meine schnelle Antwort. Als ich über das Zirkusgelände schlenderte, war es schon früher Abend, ich glaube, im Mai oder Juni, und ich hörte das Spektakel in der Manege wie aus großer Ferne. Die Vorstellung, die ich bereits kannte, lief auf Hochtouren, die Peitschen knallten, die Hände klatschten und die Menschen johlten – aber alles gedämpft. Ich kam an einem halben Dutzend gut gefüllter Tiger- und Löwenwagen vorbei. Die Tiere dösten vor sich hin und beachteten mich kaum. Gleich nach der Pause, wusste ich, würde die Raubtiernummer beginnen. Ich erkannte den kranken Tiger wieder, der genauso regungslos dalag wie all die anderen Raubkatzen, und ich fragte mich, ob er einer von denen war, die in der Manege immer das Maul aufrissen und fauchten, mit der Tatze nach der Peitsche schlugen und nur schwer zu bändigen schienen. Denn falls er einer von ihnen war, dann gehörte er zu den Lieblingen des Dompteurs – dann gehörte er zu den sicheren und nicht zu den gefährlichen Kandidaten. Mein Vater hatte es mir so erklärt: Alles war einstudiert wie bei einem Schaukampf, wie beim Wrestling. Nur die sichersten Tiere einer Raubtiernummer durften gezielt aus der Reihe tanzen, um gefährlich zu wirken, aber auf die Ruhigen, auf die Schleichenden, auf die, die jeden Augenkontakt vermieden, musste der Dompteur besonders achten, denn nur diese konnten ihm schlagartig die Rangfolge streitig machen. Alle fauchenden Tiger und brüllenden Löwen im Zirkus waren im Grunde Showhasen, die wahrscheinlich schon als Katzenbabys mit beim Dompteur im Bett geschlafen hatten. Und noch etwas lernte ich von meinem Vater: Viel gefährlicher als alle Raubkatzennummern waren Bärennummern. Bären hatten nur wenig Mimik, so dass besonders viel Erfahrung nötig war, um richtig einschätzen zu können, wie sich so ein drollig wirkendes Tier tatsächlich fühlte: ob es zufrieden war oder ob es nicht doch eine mordsmäßige Saulaune hatte. Und dennoch wurden Bären (zumindest Braunbären) gewöhnlich ohne Gitter gezeigt, weil die Kinder sie liebten und die Idee des guten Bären in jedem Kinderzimmer allgegenwärtig war. Sie wirkten niedlich und tapsig, kugelten durch die Manege, fuhren ihre langen Zungen seitlich aus ihren Maulkörben heraus und schlapperten Limo oder schnappten nach Zuckerstücken. Manche von ihnen fuhren sogar Motorrad. Ihnen wurden Helme aufgesetzt, sie legten ihre Pranken auf die Lenkräder und knatterten los, dass alles in blauem Dunst verschwand und die Kinder zu husten anfingen. Manchmal sprangen noch zusätzlich Rhesusaffen auf den Sozius, fuhren mit im Kreis herum und man kam aus dem Staunen und Husten gar nicht mehr heraus. Einiges davon ging mir durch den Kopf, als ich an den Tiger- und Löwenwagen vorbeilief und bei einem schlafenden Tiger stehen blieb, der besonders dicht am Gitter lag. Es war nicht der kranke Tiger, sondern ein größerer. »Aber steck nicht irgendwo deine Finger rein, verstanden!«, hörte ich meinen Vater wieder rufen. Ich hatte es gar nicht vorgehabt, aber gleichzeitig spürte ich einen allerersten Reiz, genau dies zu tun. Es wäre das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen ausgewachsenen Tiger berührte und nicht nur ein Tigerbaby, dachte ich. Tigerbabys berühren konnte schließlich jeder. Und trotzdem war ich noch lange nicht so weit, es wirklich zu tun. Es gab eine Geschichte in unserer Familie – eine meiner Lieblingsgeschichten –, die mir in diesem Moment einfiel. Eine Geschichte meiner Mutter. Sie hatte meinen Vater kurz vor meiner Geburt in irgendeinen russischen Zirkus begleitet, wo es ein Walross gab, 308 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ das in einem Käfig lag. Das Walross hatte genau am Gitter gelegen und geschlafen, so wie jetzt der Tiger vor mir auch. Meine schwangere Mutter war näher herangegangen und hatte plötzlich den gewaltigen und unabschüttelbaren Wunsch verspürt, zu erfahren, wie sich ein Walross anfühlt. Mein Vater dagegen hatte diesen Wunsch noch nicht einmal erahnt. Plötzlich steckte mein Mutter ihre Hand durch das Gitter und niemand konnte es verhindern. Nur ganz kurz wollte sie das Walross berühren, nur ein einziges Mal, wie sie später immer wieder betonte. Aber was passierte? Auf einen Schlag warf sich das über tausend Kilo schwere Tier, das von meiner Mutter erschreckt worden war, komplett herum und seine Stoßzähne sausten durch das Gitter. Meine Mutter zog ihre Hand augenblicklich zurück und trotzdem hatte einer der Stoßzähne den Ärmel ihres Strickkleides durchbohrt. Nur wenige Millimeter und Millisekunden fehlten und das Zirkuswalross hätte meiner Mutter den Arm zertrümmert. Auf meine über die Jahre hinweg immer wieder gestellte Frage, wie sich das Walross denn nun angefühlt habe, antwortete sie stets das Gleiche, als ob sie immer noch im Schockzustand wäre: »Ich weiß es nicht mehr, es ging alles so schnell, ich weiß es nicht mehr.« Stattdessen erinnerte sie sich sehr genau an den Fischgestank ihres Strickkleides nach der Attacke. Selbst nach der Reinigung stank es noch. Scheinbar hatte die Zeitspanne eines Lidschlags ausgereicht, um das Kleid für immer zu versauen. Natürlich musste ich an diese Geschichte denken, als ich vorm Tigerkäfig stand, aber es war auch gut so, denn ich wollte es unbedingt geschickter anstellen als meine Mutter – ich wollte den Tiger, der mit dem Rücken zu mir lag, auf keinen Fall erschrecken. Ich drehte mich um, um sicherzugehen, dass mich keiner vom Zirkus beobachtete. Es musste noch vor der Pause geschehen, noch bevor die Massen zum Pinkeln herausströmten. Die Fensterchen des Zirkuswagens von Frau Sembach-Krone waren inzwischen hell beleuchtet und ich wusste, dass wir später nicht mit dem Auto, sondern mit der Straßenbahn nach Hause fahren würden, aber das war jetzt egal. Ich entschloss mich, den Tiger zunächst einmal zu wecken beziehungsweise anzusprechen. Natürlich in Tigersprache. Eine Sprache, die ich ein bisschen von meinem Vater gelernt hatte. Es ist eine Mischung aus Zisch- und Gurrlauten, würde ich sagen, die man vielleicht mit »Hffffffrrrrrrrr« übersetzen könnte. Ich ging näher an den Käfig heran und legte los. Und tatsächlich, der Tiger reagierte darauf. Er stand auf, drehte sich langsam herum und berührte mit seinem großen und wunderschönen Kopf die Gitter. Er schaute mir direkt in die Augen. Ich hoffte inständig, dass ich keine Zisch-und-Gurr-Beleidigungen ausgesprochen hatte, aber er schien nicht gereizt zu sein, er sah nur verwundert aus. In diesem Moment stand für mich fest, dass ich nicht wie meine Mutter in den Käfig hineingreifen würde, auf keinen Fall, aber berühren musste ich ihn – den Tiger! Ich hob meinen rechten Arm und hielt den flachen Handteller in einigem Abstand vor das Gitter, dabei zischte und gurrte ich weiter. Der Tiger drückte seinen Kopf fester gegen die Gitterstäbe und seine rosafarbene Nase schob sich ein Stück zwischen zwei Stäben hindurch. Nur die Tigernase ragte ein wenig aus dem Käfig heraus, das ganze Maul aber passte nicht hindurch. Das entschied über mein weiteres Vorgehen. Ich hielt meine Hand noch etwas näher vor das Gitter und wartete ab, ob der Tiger vielleicht doch noch zuschnappen würde, was er nicht tat. Es schien sogar so, als ob er meine Hand gar nicht wahrnähme – er blickte mir noch immer in die Augen. Und plötzlich, ich weiß nicht, wie, lag meine Hand auf seiner feuchten Nase. Mich durchzuckte ein ungeheures Glücksgefühl. Ein Gefühl, das sich noch weiter steigerte, als der Tiger auf einmal seine Zunge herausfuhr und meine Hand zu lecken begann. Es war eine große raue Zunge, die mich ausgiebig, geradezu genüsslich, leckte. Als ob mich eine riesige Hauskatze putzen würde. Und das Verrückteste war, meine Finger begannen irgendwann mit dieser Zunge zu spielen. Alles an mir wurde mutiger. Ich berührte den felligen Nasenrücken des Tigers und bemerkte erst später, dass mein Arm schon ein ganzes Stück in den Käfig hineinragte. Trotzdem streichelte ich weiter und berührte den Tiger auch an der Stirn und an den Wangen. Ich war wie in Trance. Als ob er mich hypnotisiert hätte. Und auch jetzt noch, wo ich mich erinnere, bin ich wieder seltsam abwesend. Die Geräusche im Zelt wurden lauter und ich wachte auf. Menschenmassen strömten die Holztreppen herunter und ich sah auch die Tür des Zirkuswagens aufgehen. Mein Vater verabschiedete sich von Frau Sembach-Krone und kam leicht schwankend auf mich zu. Ich selbst verabschiedete mich von meinem Tiger, den ich später nie wiedersah. Oder genauer gesagt, den ich in den nächsten Jahren nicht mehr wiedererkannte. Ich versuchte es jedes Mal, gurrte und zischte bei jedem Besuch des »Zirkus Krone« in Leipzig, aber ich war mir nie sicher, ob es wirklich mein Tiger war, der vor mir im Käfig lag. Es musste ein traumähnlicher Zustand gewesen sein, in dem wir uns kennengelernt hatten, darin wurde ich immer wieder aufs Neue bestärkt. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 309

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Mein Vater und ich fuhren mit der Straßenbahn nach Hause und wir waren aus ganz unterschiedlichen Gründen in bester Stimmung. Mein Vater hatte Zirkusluft geschnuppert und Zirkusschnaps gezwitschert und ich selbst hatte mich mit einem ausgewachsenen Tiger, oder einer ausgewachsenen Tigerin, ausgezeichnet unterhalten. Ich war überglücklich. In der Fellhöhle angekommen, setzte ich mich auf unser Sibirisches Tigerfell, das auf dem Sofa lag, und flüsterte geheimniskrämerisch vor mich hin. Aber kein Wort zu meinem Vater. Er hat es nie erfahren, dass ich meine Finger nicht stillhalten konnte. Erst vor wenigen Tagen, im allgemeinen Chaos eines Umzugs, bin ich in einer großen Holztruhe meines Kellers zufällig auf ein Papier gestoßen, das ein Puzzleteil enthält, das mir sehr lange gefehlt hat. Es handelt sich um ein Vortragsmanuskript meines Vaters, in dem er über seine Leipziger Zootierpatienten spricht, aber auch über gewisse drei Wochen, die er als junger Mann mit einem Zirkus mitreiste. Warum er das tat – mit einem Zirkus mitreiste –, war mir bisher immer ein Rätsel geblieben, und es gab niemanden mehr, den ich hätte fragen können. Aber jetzt kam die Antwort plötzlich aus dem Keller: »Im Mai 1955 ging ich gegen Abend durch die Tierschau des VE Zirkus Busch, der gerade in Leipzig gastierte. Da sah ich im Elefantenzelt eine Trampeltierstute stehen, die mit sichtlich eingefallenen Beckenrändern und stark geschwollener, nasser Scheide trippelte und trippelte. Das alles waren Zeichen einer nahenden Geburt. Das glaubten auch die zuständigen Tierpfleger und der Stallmeister, mit denen ich mich unterhielt. Natürlich hatte ich noch kein Kamel gebären sehen, diese Gelegenheit musste ich beim Schopf packen. Der Stallmeister erlaubte mir als Studenten der Veterinärmedizin, im Stall zu bleiben. Das Trippeln beziehungsweise die Vorwehen wurden bis gegen 2 Uhr morgens immer stärker. Dann legte sich das Tier ruhig hin und käute wieder. So ging es über 18 Tage lang! Und ich war die meiste Zeit dabei. Es war eine fixe Idee von mir geworden, die Geburt des Kamels auf keinen Fall zu verpassen. Ich reiste mit dem Zirkus und der Trampeltierstute mit, von Leipzig über Halle bis nach Magdeburg. Teils beobachtete ich das Tier rund um die Uhr, teils mit ein- bis zweitägiger Unterbrechung, da meine Semesterkollegen meinten: ›Wir haben volles Verständnis, aber vielleicht müsstest du auch mal wieder in Leipzig studieren.‹ Am Ende fohlte die Trampeltierstute genau außerhalb meiner Beobachtungszeit. Das war schade, aber auch nicht wirklich schlimm, ich hatte trotzdem viel gesehen und viel erlebt. Ich hatte die harte Arbeit hinter den Kulissen eines Zirkus kennengelernt, ich war bei nächtlichen Proben mit Raubkatzen dabei gewesen, hatte das Führen und Reiten der Elefanten vom Wilhelm-Leuschner-Platz zum Bahnhof mitverfolgt, die aufgehende Morgensonne durch die Schlitze der nicht ganz geschlossenen, mit Pferd und Mann besetzten, Güterwagen gesehen, hatte das monotone Rollen der Räder und das vereinzelte Schnauben der Tiere gehört und hatte vor allem auch gelernt, dass die Vorwehen einer Trampeltierstute durchaus einmal 18 Tage dauern können.« 310 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Leipzigs legendärer Assistentenklub 1958 bis 1971 Manfred Fürll Leipzig In Zeitzeugenberichten wurde und wird immer wieder überschwänglich und nahezu euphorisch über das Wirken des Leipziger Assistentenklubs in den 1960er Jahren berichtet. Er vereinte die jungen Assistenten zur Förderung der Nachwuchswissenschaftler. Und das in einer Zeit, als noch nicht die Schäden des letzten Krieges restlos beseitigt waren; in einer Zeit, in der sich der Lehrkörper konsolidierte; in einer Zeit; als sich das gesellschaftliche Leben Stück um Stück normalisierte. So ist der Wunsch von H. Gürtler zu verstehen, nach der Wiederbegründung der Fakultät 1990 diese Tradition wiederzubeleben. Ein erster Schritt dazu war die Gründung der Samstagakademie. Die heutigen Generationen fragen natürlich, was machte die Faszination dieses Leipziger Assistentenklubs aus? Abb. 1: I. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig 1966, im Präsidium Heinrich Seidel, Peter Rommel, Jochen Schneider, Peter Rittenbach, Julius Arthur Schulz, Referent Arthur Voigt Abb. 2: Faksimile mit dem Hinweis auf die Gründung des Assistentenklubs 1958 Die wissenschaftliche Fortbildung der Tierärzte in der DDR wurde durch die „Wissenschaftliche Gesellschaft für Veterinärmedizin“ (WGV) organisiert und in den Bezirkssektionen sowie Fachsektionen untersetzt. Jährlich fand in der Leipziger Kongresshalle die mehrtägige Jahrestagung der WGV statt. Die Rednerlisten bestanden fast ausschließlich aus den Leitern der wissenschaftlichen Einrichtungen. Der Assistentenklub wurde 1958 an der Veterinärmedizinischen Fakultät zur Förderung des veterinärmedizinisch-wissenschaftlichen Fortschrittes gegründet (Faksimile). P. Rommel (pers. Mittlg.) nennt 1962 als das Gründungsjahr, als der veterinärmedizinische wissenschaftliche Nachwuchs und damit der Assistentenklub in die WGV integriert wurde. Ziel des Assistentenklubs war in erster Linie, auch den Nachwuchswissenschaftlern eine Stimme zu geben und den wissenschaftlichen Meinungsstreit auf der Assistentenebene zu führen. Damit wurde die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Fakultät, aber auch auf nationaler sowie internationaler Ebene 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 311

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ gefördert. Neben wissenschaftlichen Kolloquien, nationalen und internationalen Tagungen an der Leipziger und an ausländischen Fakultäten, u. a. in Budapest, Brno, Wroclaw, Bukarest, Sofia und Moskau, wurden auch regelmäßig Vorträge aus anderen wissenschaftlichen und kulturellen sowie kommunalen Bereichen organisiert. Sie waren fester Bestandteil der monatlichen Veranstaltungen. Auch die jährlichen Exkursionen in wissenschaftliche sowie benachbarte kulturelle Einrichtungen waren selbstverständlich. Gemäß dem Slogan „Saure Wochen – frohe Feste“ wurde das gesellige Leben vielseitig gepflegt. Abb. 3: I. Int. Wiss. Tagung, Leipzig, 1966; li: Prof. Neun-dorf, mi: ausländischer Gast, re: Prof. Potel Erster Leiter des Assistentenklubs war Dr. Peter Rommel, Geburtshilfe, der nach seinem Ausscheiden aus der Fakultät von Dr. Heinz Mielke, Physiologie, und später von Dr. Peter Rittenbach, Pathologie abgelöst wurde. Dr. Peter Rittenbach erfüllte diese Funktion mit einmaligem Engagement, Leidenschaft und Hingabe selbst unter den Bedingungen der sich abzeichnenden Sektionsbildung bis zu seinem tragischen Ausscheiden. Wissenschaftliche und kulturelle Aktivitäten des Assistentenklubs der Leipziger Fakultät In den Monatsheften für Veterinärmedizin (Mh. Vet. Med.), Fischer, Jena, sowie in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der KMU Leipzig ist das Wirken des Assistentenklubs z. T. dokumentiert. Folgende Aktivitäten dieses Klubs sind dort beschrieben: • 6. Mai 1963: „Tag der Fakultät“ mit Vorträgen des Assistentenklubs von Eichel, Haupt, Kühnert, Nanev, Renatus, Schicketanz, Seidel und Zintzsch • 12./ 13. Juni 1964: gemeinsame Tagung mit der Humboldt-Universität Berlin • Juni 1966: Vortrag von Prof. Eichler über Reisen nach Irak, Syrien, Ägypten, Kuweit und den Libanon • 10. Juni 1966: Vortrag von Dipl. Ethn. A. Asamova über „Als Forscher in meiner Afrikanischen Heimat“ • 21. Juni 1966: Vortag von Dr. Ebertus zu „Blut- und Serumgruppen des Rindes“ • 24. Juni 1966: Tagung anlässlich eines Jubiläums der Veterinärphysiologie mit Vorträgen von Ketz, Eichel, Mielke, Schicketanz und Börner • 23. September 1966: Beratung mit dem Prodekan Nuhs über die Ausbildung der Studenten • 30. September 1966: Jahresexkursion in das Institut für Ernährung der Deutschen ADW in Potsdam- Rehbrücke; Besuch der Schlösser und Gärten von Sanssouci sowie Besuch der Deutschen Staatsoper in Berlin • 16. Dezember 1966: Vortrag von Prof. Fischel über „Probleme der modernen Tierpsychologie – Lernen, Intelligenz und Zielstreben der Tiere“ • 27. Januar 1967: Vortrag von Dr. Röpke über „Das Weltbild der modernen Physik“ 312 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ • März 1967: Vortrag von Prof. Pickenhain über „Entstehung, Entwicklung und weitere Perspektive der Pawlow’schen Lehre“ • 20. März 1967: Vortrag von Dr. Thomas über „Philosophische Probleme der modernen Genetik“ • 29. März – 1. April 1967: Internationale Tagung über „Probleme der Jungtieraufzucht aus der Sicht des Tierarztes“ • 19./ 20 Mai 1967 II. Int. Wiss. Tagung des Assistentenklubs mit 50 Vorträgen und mehr als 200 Teilnehmern • 10. Oktober 1967: Symposium über Anthropozoonosen (8 Vorträge) • 23./ 24 Mai 1968 III. Int. Wiss. Tagung des Assistentenklubs. Sie war dem 10jährigen Bestehen des Assistentenklubs gewidmet. Es wurden 70 Vorträge gehalten. • 29./30. September 1969: Internationale Wissenschaftliche Tagung anlässlich des 100jährigen Jubiläums der landwirtschaftlichen Ausbildung an der Universität in Leipzig; 32 Vorträge, Schwerpunkte waren - Aufgaben und Stellung des Diplomagraringenieurs - Organisation und weitere Entwicklung der Landwirtschaftsbetriebe in der DDR - Anwendung der Operationsforschung - Steigerung der Milch- und Rinderproduktion - Probleme der industriemäßigen Schweineproduktion mit Schwerpunkt Reproduktion - Veterinärmedizinische Aspekte in Rindergroßanlagen - Einheit von Lehre, Forschung und Praxis - Modernisierung der Lehr- und Ausbildungsmethoden - Wissenschaftlich produktives Studium • 3. April 1970: Vortrag von Dr. Kraft über „Aufklärung und Bekämpfung von Straftaten in der Tierproduktion“ • 3. Juni 1970: Vortrag von Prof. Boer über „Probleme der effektiven Anwendung meteorologischer Informationen in der Volkswirtschaft • 24. Februar 1970: Vortrag von Prof. Aresin über „Familienplanung –Sexualprobleme“ • 15. April 1970: Vortrag von Prof. Schädlich über Entwicklungslinien von Städtebau und Architektur in der DDR“ • 20. Mai 1970: Vortrag von Dr. Schubert über „Verkehrsprobleme in der DDR – Tendenzen und Entwicklungen“ • 16. September 1970: Exkursion in das Serumwerk Bernburg, Besichtigung der Schlossanlagen Bernburg, Besuch einer Theateraufführung des Landestheaters Dessau • 11. November 1970: Vortrag über „Die Stellung der Musik in der Nationalkultur“ • Dezember 1970: Vortrag von Dipl.Ing. Geißler über „Gegenwärtige und künftige Fragen der Gestaltung der Stadt Leipzig“ • 5./ 6. Oktober 1971: Int. Wissenschaftliche Tagung der Sektion Tierproduktion/ Veterinärmedizin zum Thema „Möglichkeiten der komplexen Rationalisierung und Intensivierung der Milchproduktion“ Der Autor konnte selbst als Student eine Tagung des Assistentenklubs im prall gefüllten Hörsaal der Medizinischen Tierklinik erleben. Da wurde messerscharf analysiert und diskutiert. Das Salz in der Suppe waren die Teilnahme und die Fragen der Praktiker. Diese Frage ist mir in Erinnerung: „Wie kann man Mg SO4 zur Prophylaxe der Weidetetanie nutzen, wenn MgSO4 ein Abführmittel ist?“. Damals junge Assistenten, wie Heinrich Seidel, Ingo Zintsch und Peter Rommel, lebten leidenschaftlich für die Wissenschaft in einer weltweit vernetzten Gemeinschaft. Zum Inhalt des Assistentenklubs gehörte auch die Schaffung und Nutzung moderner Lehrmittel. So wurde Anfang der 1960er Jahre die Schmalfilmtechnik in den meisten Instituten und Kliniken in großem Umfang zur Herstellung von Demonstrationsmaterial genutzt. 1964 konstituierte sich eine Arbeitsgruppe Veterinärfilm in der Sektion Hochschul- und Instruktionsfilm. H. Schleiter, Leipzig, wurde zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Der engen Verbundenheit im Assistentenklub entsprang auch die Herausgabe des Lehrbuches „Schweinekrankheiten. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 313

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Ätiologie - Pathogenese - Klinik - Therapie - Bekämpfung“ durch die Leipziger Rudolph Neundorf und Heinrich Seidel bei Fischer, Jena, 1972. Beeindruckend ist neben den wissenschaftlichen Kolloquien, Tagungen und Symposien die Vielzahl der mit anderen Wissensgebieten vernetzenden sowie der kulturellen Veranstaltungen in ein- bis zweimonatigen Abständen. Die gemeinsamen Veranstaltungen und besonders die Exkursionen machten „die jungen Leute“ der einzelnen Häuser miteinander bekannt und führten sie fachlich zusammen. Das war eine wichtige Voraussetzung für interdisziplinäre Projekte. Abb. 4: Links: Wohnhaus von Alfred Berger (1889 – 1972) in Seegel; rechts: Gustav Adolf (1594 – 1632) Statue am Rathaus in Lützen und Gustav-Adolf-Gedenkstätte am Rande von Lützen Als besonderer Förderer des Teamgeistes wurde und wird immer wieder Herbert Gürtler genannt. Der Autor hat selbst erlebt, dass einmal eine Forschungsprämie nicht an die beteiligten Wissenschaftler ausgezahlt, sondern damit eine Exkursion zu Kulturstätten rings um Leipzig organisiert wurde. Dabei lernte man u. a. den Bildhauer der Leipziger Fakultät, Alfred Berger (1889 – 1972), sowie den Schwedenkönig Gustav Adolf (1594 – 1632) in Lützen kennen. Zeitzeugen schwärmen noch heute vor allem von den kulturellen Exkursionen. Die in den jungen Assistentenjahren geknüpften persönlichen Beziehungen waren prägend für die spätere praktische und wissenschaftliche Tätigkeit an den verschiedensten Einrichtungen in vielfältigsten Funktionen im In- und Ausland. In der zeitlichen Entwicklung ist das beharrliche Bemühen erkennbar, den veterinärmedizinisch- wissenschaftlichen Assistentenklub auch mit der Gründung der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin fortzuführen. Bei den letzten Veranstaltungen fungierten Dr. P. Rittenbach, Pathologie, gemeinsam mit Dr. E. Schulz von der Tierproduktion als redaktionell Verantwortliche. Sowohl die Internationale wissenschaftliche Tagung anlässlich des „100jährigen Jubiläums der landwirtschaftlichen Ausbildung an der Universität Leipzig“ 1969 wie auch die Wissenschaftliche Tagung der Sektion Tierproduktion/Veterinärmedizin über Möglichkeiten der komplexen Rationalisierung und Intensivierung der Milchproduktion 1971 deckten inhaltlich eine sehr große Themenbreite ab und zeigten die z. T. ganz erheblichen Unterschiede der Fragestellungen in der Tierproduktion und in der Veterinärmedizin. Mit dieser Veranstaltung 1971 und der weiteren Formierung der Sektion Tierproduktion/ Veterinärmedizin endete das Wirken des Assistentenklubs. Er wurde von der neuen Sektionsleitung unter Prof. H. J. Schwark nicht mehr gefördert. Tragende Kräfte, wie P. Rommel, H. Seidel und I. Zientzsch, wechselten an andere Institutionen. P. Rittenbach schied freiwillig aus dem Leben. 314 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Übersicht über die internationalen Wissenschaftlichen Tagungen des Assistentenklubs der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig Datum 6./ 7. 5. 1966 19./ 20. 5. 1967 20./ 21. 10. 1967 23./24.5. 1968 15./ 16. 5. 1969 21./ 22. Mai 1970 29./30. 9. 1969 Veranstaltung I. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig II. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig Gemeinsame wissenschaftliche Vortragstagung des Assistentenklubs der Vet.-Med. Fakultät Leipzig und der Vet.-Med. Fakultät Berlin III. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Veterinärmedizinischen Fakultät Leipzig anlässlich seines 10jährigen Bestehens; 70 Vorträge IV. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizinischen Leipzig; ca. 50 Vorträge V. Internationale Wissenschaftliche Tagung des Assistentenklubs der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizinischen Leipzig; 90 Vorträge Int. Wissenschaftliche Tagung anlässlich des 100jährigen Jubiläums der landwirtschaftlichen Ausbildung an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Internationale Beziehungen des Assistentenklubs der Leipziger Fakultät Nachweis Wiss. Z. KMU Leipzig, 1967, H 2, Mh. Vet. Med. 1968, 230- 235 Mh. Vet. Med. 1968, 798 - 799 Mh. Vet. Med. 1968, 237 – 238 Mh. Vet. Med. 1969, 237 - 238 Mh. Vet. Med. 1970, 807 Wiss. Z. KMU Leipzig, 1970, 1 – 14; Mh. Med. Vet. 1970, 725-726 Die Wiederherstellung von freundschaftlichen, wissenschaftlichen Beziehungen zu Schwesterfakultäten im In- und Ausland war eine Tagesaufgabe nach der Wiederaufnahme des Lehrbetriebes an der Leipziger Fakultät seit 1946. H. Schleiter berichtete z. B., dass die Feier zum 90. Geburtstag von Oskar Röder 1952 viele europäische Veterinärchirurgen wieder in Leipzig vereinte und unserer Fakultät zu neuem Ansehen verhalf. Auch der Besuch von wissenschaftlichen Tagungen an den Fakultäten der alten Bundesländer wurde bis zum Mauerbau 1961 gepflegt. Wie die Bilder einer Exkursion von 1959 nach Budapest zeigen, hatte der Assistentenklub von Anfang an enge freundschaftliche wissenschaftliche Kontakte zu anderen ausländischen Fakultäten. Bei jeder internationalen Tagung waren Gäste, besonders aus Budapest und Brno, aber auch aus den anderen Ostblockstaaten vertreten. Diese Kontakte beschränkten sich nicht nur auf das Halten von Vorträgen, sondern führten zu gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten und daraus zu Publikationen. Mit vielen Fachkollegen kam es zu engen, langjährigen familiären Beziehungen. Abb. 5: Ausflug des Assistentenklubs an die Schwesterfakultät in Budapest 1959. Links: U. Schulz; Mitte: H. Eichel, Rauh, E. Weber, G. Michel, I. Wetzel, U. Schulz, Th. Hiepe; rechts: Bankett mit den ungarischen Gastgebern Die internationalen Beziehungen wurden ab den 1960er Jahren systematische durch jährliche „Austauschkontingente“, d. h., Studienreisen von zwei bis drei Assistenten pro Jahr und Fakultät bei staatlicher 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 315

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ jährliche, dreiwöchige Finanzierung gefördert. Außerdem entwickelte Studentenaustausch mit 9 Studenten und einem Betreuer. Dabei lernte man die jeweilige Fakultät kennen, wurde mit den kulturellen Highlights vertraut gemacht und absolvierte i. d. R. einen symbolischen Arbeitseinsatz. sich der gegenseitige Nebeneffekt dieser Reisen war, dass man nach dem Mauerbau 1961 häufig an den ausländischen Fakultäten Fachkollegen der westdeutschen Fakultäten treffen konnte. Der Autor erinnert sich z.B. an Begegnungen mit Prof. Hahn und Prof. Grunert in Budapest, die neugierig auf Neuigkeiten aus Leipzig waren. Epilog Der Leipziger veterinärmedizinische Assistentenklub war der Versuch, das wissenschaftliche und kulturelle Leben an der Fakultät kreativ durch junge, z. T. befristet angestellte Assistenten zu beleben, zu gestalten, öffentlich zu repräsentieren sowie national wie international Brücken zu schlagen. Erklärte Zielgruppe für den wissenschaftlichen Meinungsstreit waren auch die praktischen Tierärzte. Die wissenschaftliche Profilierung der Nachwuchswissenschaftler, die Anregungen auch für Studenten, in der Wissenschaft zu arbeiten, die nationale wie auch internationale Ausstrahlung Leipzigs sowie die vielfältigen gemeinsamen kulturellen Erlebnisse haben eine ganze Generation geprägt. In diesem Sinn lebt das Lebenswerk von Peter Rittenbach weiter, der sich langjährig selbstlos als Leiter des Leipziger veterinärmedizinischen Assistentenklubs engagierte. Abb. 6: Dr. Peter Rittenbach Die Leitungsmitglieder des Assistentenklubs 1966 Leitung Dr. Peter Rittenbach 1966 Assistent: Veterinärpathologie Spätere berufliche Tätigkeit 1972 verstorben Dr. habil. Heinrich Seidel Assistent: Physiologisch- Dr. Peter Rommel Chemisches Institut Ambulatorische und Geburtshilfliche Tierklinik Dr. Joachim Schneider Assistent: Chirurgische Tierklinik Abteilungsleiter am Bezirksinstitut für Veterinärwesen Rostock Prof. für Physiologie, Pathologie, Biotechnik der Fortpflanzung, Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, Rostock-Dummerstorf Prof. Dr.; Direktor der Chirurgischen Tierklinik Leipzig Kontakt Prof. Dr. Manfred Fürll; Veterinärmedizin-Historische Sammlung, Leipzig 316 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Geschichte der Fachrichtung Veterinärmedizin der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin Leipzig von 1968 bis 1990 Stefan Siebert Lebensmittelüberwachungs- und Veterinäramt Landkreis Leipzig, Borna Im Rahmen meiner Dissertation (1) habe ich zu diesem Abschnitt der nunmehr einhundertjährigen Geschichte der Leipziger Veterinärmedizinischen Fakultät insbesondere die strukturellen Entwicklungen recherchiert sowie herausgearbeitet, wie und mit welchen Hintergründen die Besetzung der Positionen der veterinärmedizinischen Hochschullehrer erfolgte. Aus der Fülle der Informationen sollen hier wesentliche Ursachen und Ergebnisse der einschneidenden Veränderungen in diesem Zeitabschnitt dargelegt werden. Die Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Veterinärmedizin war und ist in starkem Maße mit der Entwicklung in der Landwirtschaft verknüpft. Hier vollzogen sich in der Zeit der DDR tiefgreifende Veränderungen, die zwangsläufig auch die Veterinärmedizin mit betrafen. Es war mir bei der Recherche zu den konkreten Veränderungen der veterinärmedizinischen Forschung und Lehre in Leipzig im Zeitraum von 1968 bis 1990 ein Anliegen, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild der Vorgänge, Entscheidungen und möglicherweise auch der Empfindungen der Beteiligten zu erstellen. Die verschiedenen Archive bieten dafür sowohl konkrete Fakten als auch solche Informationen über Entscheidungsprozesse oder die persönlichen Anteile der handelnden Personen daran, welche nicht sicher objektivierbar erscheinen. Zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen konnten hier wertvolle Ergänzungen und auch Erklärungen beitragen. Diese Zeit der strukturellen und inhaltlichen Unselbständigkeit der veterinärmedizinischen Lehre und Forschung in Leipzig stellen einen zum Teil wesentlichen Bestandteil privater wie wissenschaftlicher Biographien derjenigen dar, die heute als Zeitzeugen davon berichten können. Ihre Darstellungen der persönlichen Eindrücke und Erlebnisse sind erwartungsgemäß geprägt von individuellem Empfinden der Ereignisse, Begleitumständen oder nachfolgenden Eindrücken, Rechtfertigung eigener wissenschaftlicher Leistungen sowie unterschiedlich ausgeprägtem Bedürfnis der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Die Nutzung solcher Materialien, bezeichnet als „oral history“, ist eine anerkannte historiographische Methode, die diese subjektive Beeinflussung ausdrücklich in die Wertung der Aussagen einbezieht. So gewonnene Informationen müssen durch andere Materialien, wie zum Beispiel Protokolle oder konkrete Dokumente, ergänzt, bestätigt oder in Frage gestellt werden. Der Bearbeiter setzt sich mit der jeweiligen Person auseinander und bildet sich daraus und aus dem Gespräch selbst ein Urteil über die Zuverlässigkeit und die Aussagekraft der erhaltenen Informationen. Er trifft eine kritische Vorauswahl der zu verwendenden Aussagen, die aus der Kenntnis der historischen Situation und der Quellenlage wie auch aus dem Gesprächsverlauf selbst erwächst. Selbst sich von einem zum anderen Gesprächspartner widersprechende Darstellungen zu ein und demselben Vorgang ermöglichen doch zumindest einen Einblick in die jeweiligen Umstände und die unterschiedlichen Empfindungen der Beteiligten in dieser konkreten Situation. Im Jahr 1968 trat in der DDR die III. Hochschulreform in Kraft. Kerngedanken waren u.a. die zeitliche und inhaltliche Effektivierung des Hochschulstudiums und die intensive Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Studenten mit den in der Praxis Tätigen. Die politisch–ideologische Ausrichtung entsprach den propagierten Zielsetzungen für die gesamte Entwicklung in der DDR und war Bestandteil fast jeder offiziellen Äußerung über die Durchführung der Hochschulreform. Für die Veterinärmedizinische Fakultät der Karl–Marx–Universität Leipzig ergab sich eine tiefgreifende Veränderung: Die Veterinärmedizinische Fakultät und die Bereiche der Tierproduktion der Landwirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wurden zur Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin zusammengelegt. Es entstand die Fachrichtung Veterinärmedizin, welche jedoch keine administrative Funktion mehr besaß. Zu einem nicht unerheblichen Teil zielte diese Umstrukturierung darauf, stärker auf die veterinärmedizinische Ausbildung und Forschung Einfluss nehmen zu können. Die tierärztliche Arbeit sollte in verstärktem Maße eingebunden werden in die industriemäßige Organisation in der Landwirtschaft. Auch im Studienablauf erfolgte eine klare Orientierung auf diese Tätigkeitsfelder, das Grundstudium absolvierten die Studenten beider Studienrichtungen, soweit möglich, gemeinsam. 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 317

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ des Lehrkörpers der nieder. Fachrichtung Veterinärmedizin Das politische Ziel schlug sich natürlich auch in der Art und Weise der Berufungen und der personellen Besetzung Die Hochschullehrerberufungsverordnung von 1968 formuliert dies als die Verwirklichung der Einheit von Forschung und Lehre und von Theorie und Praxis. Mit der Einführung neuer Leitungsstrukturen im Bereich des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen wird eine klare Hierarchie vom Minister bis zu den wissenschaftlichen und technischen Mitarbeitern geschaffen. Die Professoren werden 1969 alle neu berufen, nunmehr als ordentliche oder außerordentliche Professoren. Die Fachgebietsbezeichnungen blieben zumeist die gleichen, eine Ausnahme bildet hier der Lehrstuhl für Kleintierchirurgie und Experimentelle Chirurgie: Das Berufungsgebiet von Professor Christoph lautet ab 1969 Klinische Labordiagnostik. Erst mit der Berufung von Frau Professor Vera Schmidt 1976 wechselt die Bezeichnung wieder zu Kleintierkrankheiten. Der Status der Kleintiermedizin und die Existenzberechtigung im Rahmen von Forschung und Lehre ist in den 1960er Jahren sehr umstritten. Der Fortbestand innerhalb der Sektion wird ausdrücklich infrage gestellt. Es gelingt letztlich durch persönliches Engagement aus der Fachrichtung, dies abzuwenden. Nicht zuletzt das internationale wissenschaftliche Ansehen Professor Christophs ermöglicht die Aushandlung eines Kompromisses mit der Sektions- und Universitätsleitung, durch die Umbenennung des Lehrstuhles und der (formalen) Hervorhebung der Klinischen Labordiagnostik als Tätigkeitsschwerpunkt die Kleintiermedizin als Teil der veterinärmedizinischen Forschung und Lehre an der Sektion zu erhalten. Auch später wird es weiter erforderlich sein, der Existenz dieser Disziplin durch die Ausrichtung auf beispielsweise die medizinische Betreuung von Diensthunden, auf Forschung zum Hund als Modell für Stoffwechselerkrankungen landwirtschaftlicher Nutztiere oder auf die Pelztierkrankheiten eine volkswirtschaftliche Bedeutung zu verleihen. Der mit Gründung der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin manifestierte Verlust der Eigenverantwortlichkeit veterinärmedizinischer Lehre und Forschung den gesamten Zeitraum bis zur Auflösung der Sektion prägt. Entsprechend der Stellung des staatlich angestellten Tierarztes in der von industriemäßiger Tierproduktion geprägten Praxis wird auch die veterinärmedizinische Wissenschaft lediglich als ein Teilgebiet der Agrarwissenschaft zugeordnet. Strukturelle und wissenschaftliche Unterordnung der Veterinärmedizin zeigen sich vor allem an der organisatorischen Einordnung in die Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin, der geforderten Orientierung der wissenschaftlichen Arbeit an den Anforderungen der agrarwissenschaftlichen Forschungsplanung und der damit verbundenen Abhängigkeit sowie an der Zuordnung des Studienfaches „Veterinärmedizin“ zur (Tierproduktion)“. Eine gewisse Eigenständigkeit erhalten sich die veterinärmedizinischen Wissenschaftler jedoch über den gesamten Zeitraum mit einem vor allem standespolitisch geprägten Zugehörigkeitsgefühl. „Grundstudienrichtung Agrarwissenschaften Die mit der 3. Hochschulreform ebenfalls versuchte Auflösung bisheriger Institutsstrukturen als Basis wissenschaftlicher Arbeit gelingt letztendlich nicht. Zwar wird die eindeutige Weisungshierarchie vom Minister bis zum Wissenschaftler und technischen Mitarbeiter konsequent durchgesetzt, der Verantwortungsbereich der Ordinarien für ihre Wissenschaftsdisziplin wird jedoch nach der anfänglichen Reduktion auf die eigene Forschungsarbeit innerhalb weniger Jahre auch wieder auf disziplinarische Belange ausgeweitet und damit der ursprünglichen Institutsstruktur entsprochen. Die Haushaltsführung liegt aber auch weiterhin in zentraler Verantwortung der Sektion. Die sich verschärfende Mangelsituation, die verschlissenen gerätetechnischen Ausrüstung und der bedenkliche Zustand von Bausubstanz und Versorgungssystemen ist ein Problem, mit dem in den verschiedensten Bereichen der Volkswirtschaft der DDR umgegangen werden muss. Jedoch machen die je nach Wissenschaftsdisziplin unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten zur Modernisierung und Werterhaltung den jeweiligen Stellenwert in der Forschungslandschaft der DDR deutlich: Der Veterinärmedizin sind hier enge Grenzen gesetzt. Die Berufungspolitik in der Zeit von 1968 bis 1990 ist deutlich von politischen Erwägungen beeinflusst und grenzt dabei bewusst bestimmte Personengruppen aus. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass unter der Voraussetzung einer entsprechenden politischen Eignung die fachliche Qualifikation der Kandidaten entscheidendes Kriterium bleibt. 318 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Forschung in den 1970er und 1980er Jahren an der Fachrichtung Veterinärmedizin Leipzig Manfred Golze Leisnig Gegen Ende der 60iger Jahre wurden in der DDR für die Landwirtschaft vier Intensivierungsfaktoren - Spezialisierung, Mechanisierung, Automatisierung, Chemisierung herausgegeben. Es begann auch eine Spezialisierung der Landwirtschaftsbetriebe in Betriebe der Pflanzenproduktion und Betriebe der Tierproduktion. Wenn diese Trennung auch später als falsch eingeschätzt, wurde sie nicht rückgängig gemacht. Tier- und Pflanzenproduktion wurde nur auf großer Ebene in den Agrar-Industrie-Vereinigungen (AIV) zusammengeführt. Es entstanden mächtige Agrarkomplexe, oft mit mehr als 10 000 ha LN, u.a. Industriemäßigen Milchvieh- oder Schweinezuchtanlagen, Betriebe in denen für die Tierzüchter aber auch Veterinäre großer Handlungsbedarf war, die aber auch gute Möglichkeiten für die Forschung boten. In diesem Zusammenhang fand 1968 die 3. Hochschulreform eine Spezialisierung in Lehre und Forschung zwischen den bis dahin 4 Fakultäten der Landwirtschaft statt. Die Universität Halle musste sich auf die Pflanzenproduktion und die Universität Leipzig auf die Tierhaltung spezialisieren, wobei in Leipzig gleichzeitig mit der bisherigen Veterinärmedizinischen Fakultät die Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin gebildet wurde. Ein selbständiges Institut blieb das Institut für Tropische Landwirtschaft. In Verbindung mit diesem, das soll nicht vergessen werden, wurden Tierärzte und Landwirte verschiedener Länder ausgebildet. Von 1968- 1974 war es das Institut für tropische Landwirtschaft und Veterinärmedizin. Die Tierärzte besuchten besonders Lehrveranstaltungen "Grundlagen der Tropenveterinärmedizin" und nutzten das Institut für die Forschung. Von 1970-1990 schlossen hier 220 Studierende das Veterinärstudium in Leipzig erfolgreich ab (1). Die Forschung der Veterinärmedizin hatte mehrere Etappen. In den Jahren1958 bis1971 wurde sie vom Assistentenklub der Veterinärmedizinischen Fakultät unter Leitung von Peter Rommel, später Peter Rittenbach geprägt (1). Ab 1968 erfolgte die Forschung in der interdisziplinären Forschungsgemeinschaft (IFG). Es gab jeweils bezüglich Forschung einen 5-Jahresplan, der durch Einjahrespläne untersetzt wurde. Einige ausgewählte Themen sollen aufgeführt sein (1): - Stoffwechselstörungen - hier arbeitete z.B. unter Leitung von H. Gürtler die Tierbiochemie, die innere Medizin, die Geburtshilfe, die Pathologie, die Parasitologie, die Pharmakologie, sowie die Chirugie. -Grundlagen und Anwendung der Biotechnik der Fortpflanzung -Rückstände der Biotechnik -Laktationsphysiologie/Eutergesundheit/maschinelle Milchgewinnung - hier arbeiteten unter Leitung von H. Mielke die Physiologie, die Histologie, die Geburtshilfe, die Pathologie und die Maschinentechnik. -Einfluss abiotischer Umweltfaktoren -Industrielle Rindfleischproduktion sowie Züchtung -Produktion von Schaffleisch und Wolle - - - - - - Es waren innerhalb der IGF Grundlagen als auch angewandte Disziplinen im Einsatz. Für alle Themen gab es freie Themenwahl. Fachspezifische Einzelverträge der Forschung gab es z.B. für die Anatomie, Heim-und Kleintiere, oder der Chirurgie. Bei einigen Projekten wurde die Zusammenarbeit mit Einrichtungen des In-und Auslandes, bis hin zur Mitarbeit in Spezialgruppen des RGW gesucht. 320 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Die Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin verfügte über 7 Lehr-und Versuchsstationen (LVS) und einige Forschungsstützpunkte, die kostenneutral genutzt werden konnten (2). Aus Sicht des Autors nutzten die Veterinäre für die Forschung besonders die LVS. Die Tierproduzenten diese mehr zur Absicherung der Lehre. In den Forschungsstützpunkten, wurden hingegen von beiden Fachrichtungen die Forschung durchgeführt. Dazu fand ein erheblicher Umfang der Forschung der Tierproduktion oft unterstützt und in Zusammenarbeit mit in einer Vielzahl Landwirtschaftsbetriebe statt. Diese wurden auch als der Veterinärmedizin Referenzbetriebe/Praktikumsbetriebe bezeichnet. Die Organisation in diesen, das Niveau und oft bedeutende Tierbestände dieser, vom Pferd bis Huhn, boten den Studenten gute Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch Möglichkeiten der Forschung. Die Studenten hatten mehrere Praktika während des 4jährigen Studiums, am Ende das7. Semester als Leitungspraktikum, zu durchlaufen und so bot es sich auch an in diesen Betrieben gezielte Untersuchungen, die teilweise auch über einen längeren Zeitraum liefen, mit den Studenten durchzuführen. In den Lehr-und Versuchsstationen wurden schwerpunktmäßig gehalten (2): LVS Großpösna-Oberholz (Rinder, Schweine, Schafe, später Wild) LVS Abtnaundorf (Rinder, Schafe, Pferde) LVS Liebertwolkwitz (Damwild) LVS Schlobachshof (Geflügel) LVS Börnchen (Jungrinder, Pferde, Exoten) LVS Remderoda (Schweine, Schafe, Geflügel) Die bedeutendsten Forschungsstützpunkte waren: IRIMA Delitzsch, Fleischkombinat Leipzig, VEG Cavertitz, ZBE Polkenberg, VEG Köllitsch, LPG Löbnitz, LPG Schönberg, AIV Querfurt, AIV Delitzsch,VEG Meura u.a. Zwei Beispiele sollen genannt werden, die Forschung zur Mutterkuhhaltung und Gatterwildhaltung, für die Zusammenarbeit der Tierproduktion und Veterinärmedizin aus eigenem Erleben. Zur Mutterkuhhaltung: Fleisch besonders Rindfleisch war in der DDR ein Politikum. Es bestand die Möglichkeit besonders über den Schlachtrinderexport meist in die BRD, schnell an die fehlenden Devisen zu kommen. Diesem Sachstand wurde einiges untergeordnet. Unter diesem Blickwinkel ist sicher auch die Gründung der Forschungsgruppe "Grobfutterorientierte Schlachttierproduktion bei maximaler Nutzung der Weide" am Wissenschaftsbereich Rinder-und Pferdezucht incl. Fleischlabor zu sehen. Die anfänglichen Gegenstände, die Weidemast mit Färsen, Ochsen, Färsenvornutzung, aber dann der Schwerpunkt, die Entwicklung und Aufbau von Mutterkuhherden. Im Jahr 1977 wurden die ersten Mutterkühe in der ehemaligen DDR im Forschungsstützpunkt der damaligen LPG Schönberg, gefolgt von der LPG Drebach und LPG Wiesenburg gehalten. Bald folgte in Referenzbetriebe der weitere Aufbau von Mutterkuhherden. Im Jahr 1990 gab es rund 16 000 Mutterkühe in den neuen Bundesländern, wovon etwa 11000 in Versuchen und Demonstrationsvorhaben der genannten Forschungsgruppe waren. unterstützt. Hier Veterinäre Die Forschungsarbeit wurde durch eine neu gegründete und begleitende Interdisziplinäre Forschungsgruppe-"Grobfutterorientierte Schlachttierproduktion" und Tierproduzenten manchmal bilateral oft mehrere Einrichtungen an Themen. Die Federführung lag im Wissenschaftsbereich Rinder-und Pferdezucht. Aus dem Bereich der Tierproduktion waren die Fachgruppen/Wissenschaftsbereiche Sozialistische Betriebswirtschaft, Agrarökonomie, Technologie, Tierernährung (ab 1978 Tierernährungsphysiologie und Futtermittelkunde), Tierernährung (an 1978 Tierernährungschemie), Tierfütterung (ab 1978 Tierfütterung und Ernährungsschäden) eingebunden. Aus dem Bereich der Veterinärmedizin waren beteiligt Fortpflanzung landwirtschaftlicher Nutztiere, Physiologie, Pathologie, Innere Medizin, Parasitologie, Tierhygiene, Biochemie. Zu den Ergebnissen die umfangreich mit größeren Tierzahlen in Referenzbetrieben erarbeitet werden konnten, gab es kaum Alternativen. Die Ergebnisse waren bestimmend nach 1990 für die Mutterkuhhaltung in ganz Deutschland, Österreich und der 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 321

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Schweiz zu nutzen. Der deutschsprachige Raum Europas, relativ dicht besiedelt, so die Rinderzucht betreffend eine Region der anfangs Mehr- dann Zweinutzungsrinderzucht (Milch und Fleisch), da man das Meiste an Milch und Fleisch pro ha mit dem Zweinutzungsrind erzeugen kann. Nach 1990 galt es Überproduktion abzubauen. Milchviehherden mit höchster Leistung entstanden. Dafür ging die Kuhanzahl stark zurück und immer mehr Grünland wurde frei, welches meist mit Mutterkühen zu nutzen und erhalten war. Damit gab es neue Aufgabenfelder, auch für die Forschung der Veterinäre. Hier sollen nur 3 Beispiele genannt werden. Einmal betraf es die Reproduktion. Noch heute werden etwa 96 % aller Milchkühe auf der Welt besamt (KB), aber 98 % aller Mutterkühe im Natursprung bedeckt. Die KB hatte wenig Erfolg bei den Mutterkühen. Die extensive Haltung der Tiere, das große Rassespektrum und unterschiedliche rassespezifische Brunstabläufe, das Kalb bei der Kuh waren Einflussgrößen, die viel FE-Arbeit verlangten. Des Weiteren, je Kuh und Jahr ein Kalb ist normal, aber wenig. Also wurden F/E Aufgaben gestellt eine hohe Zwillingsrate zu erzeugen. Das ging nur mit der Tätigkeit der Veterinäre. Die Parasitologie war zunehmend gefragt. Diese extensiv gehaltenen Rinder unterschiedlichen Alters, meist auf Standweiden, wieder vernässten Weiden und wenig bewirtschafteten Grünland zeigen bald einen höheren Ekto- und Endoparasitendruck. Auch Wildbret aus der Jagd war ein Exportschlager der DDR und betraf den größten Anteil der jährlichen Strecke. Ende der 70iger Jahre wurde die Gatterwildhaltung ins Leben gerufen. Ziel von Restflächen nicht mechanisch zu nutzenden Flächen hochwertiges Wildfleisch zu erzeugen und zu exportieren. Das erste Landwirtschaftliche Wildgatter, als Versuchsgatter der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin entstand in der Lehr- und Versuchsstation Liebertwolkwitz. So konnten schnell und komplex Ergebnisse zur gatterartigen Wildhaltung der Praxis zur Verfügung gestellt werden. Natürlich waren die Anfänge durch Themen wie Aufbau von Gattern, Anlage, Grünland verbessernde Maßnahmen, Bewirtschaftung von Gatter gelegt. Die ersten Ergebnisse betrafen die nutztierartige Haltung von Damwild. Grundlagen wurden zur Fruchtbarkeit, Ernährung, Fütterung incl. Wasserversorgung erarbeitet. Aber auch zur Lebendmasseentwicklung, Schlachtleistung, Schlachtkörperwert und Fleischqualität wurden Ergebnisse vorgelegt. Es wurden Z.B. die Grundlagen erarbeitet zur Nutzung der Tiere nach Tierschutz- Schlachtverordnung. Die Immobilisierung von Wild wurde praxisreif gemacht. Viele der Grundlagen konnten von den ersten 12 größeren Gattern, die bis 1990 in den neuen BL entstanden übernommen und waren für neue Gatter ein guter Start. Bezüglich des Wildes ist eine Ergänzung angezeigt. Neben den gemeinsamen Untersuchungen der Veterinäre und Tierproduzenten bezüglich Gatterwild ist eine Erweiterung angesagt. Unsere Sektion führte nicht nur Tagungen zum Gatterwild durch, sondern aller 4 Jahre auch Wissenschaftliche Kolloquien-"Wildbiologie und Wildbewirtschaftung" zusammen mit der Technischen Universität Dresden, Wissenschaftsbereich Waldbau und Forstschutz. Auch hier waren einerseits die Veterinäre, z.B. mit den Wissenschaftsbereichen Lebensmittelhygiene und-technologie, Mikrobiologie und Tierseuchen, Fortpflanzung landwirtschaftliche Nutztiere, Parasitologie, Pharmakologie, Pharmazie und Toxikologie, Pathologie, sowie Tierhygiene im Einsatz. Der Wissenschaftsbereich Rinderzucht und Pferdezucht, die Tierfütterung und Tierernährung eingebunden. Aus Sicht des Autors sind die vielen Internationalen Tagungen der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin, mit großer Besucherzahl, darunter teilweise bis 80 ausländischen Teilnehmern aus über 40 Ländern, zunehmend auch aus dem westlichen Ausland der fortlaufend steigend, ein bedeutender Hinweis darauf, dass die Ergebnisse der Forschung besonders geschätzt, da sie durch die gemeinsame Arbeit der Veterinäre und Landwirte einen hohen Wert und komplexe Aussagen anbieten konnten. Die Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin wurde 1990 aufgelöst. Von 1993-1996 bestanden noch durch Zusammenschluss 6 Wissenschaftsbereiche der Tierproduktion. Danach gab es nur noch die Veterinärmedizinische Fakultät. Auch das Institut für tropische Landwirtschaft wurde negativ evaluiert. Mit Beschluss des Senats der Universität vom 27.07.1993 wurde das LVG Oberholz der Veterinärmedizinischen Fakultät übertragen. Es ist das einzig verbliebene Lehr- und Versuchsgut an der Universität. Die 6 weiteren wurden privatisiert und gingen in anderen Besitz über. 322 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Impfstoffforschung und -produktion im Kombinat Veterinärimpfstoffe Dessau und Versuch einer punktuellen internationalen Einordnung Hans-Joachim Selbitz Arbeitskreis Tiergarten, Leipzig Nach dem 2. Weltkrieg entwickelte sich die Produktion von Tierimpfstoffen in der sowjetischen Besatzungszone und anschließend der DDR an zwei vorhandenen Standorten, dem Friedrich-Loeffler-Institut auf der Insel Riems bei Greifswald und in Dessau. Beide Einrichtungen gehörten lange zur Akademie der Landwirtschaftswissenschaften und wurden später zu einem Kombinat Veterinärimpfstoffe zusammengefasst. An Hand der 9. (und letzten) Ausgabe des Tierarzneimittelverzeichnisses von 1989 (1) sollen das Impfstoffportfolio vorgestellt und ausgewählte Aspekte diskutiert werden. Dabei stehen zugelassene Produkte bewusst im Mittelpunkt. Das Kombinat Veterinärimpfstoffe Dessau Am 1. Januar 1985 wurden das Friedrich-Loeffler-Institut und das Institut für Impfstoffe Dessau aus der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften herausgelöst und zum Kombinat Veterinärimpfstoffe Dessau (KOVID) zusammengefasst. Das KOVID wurde von einem Generaldirektor geleitet, der direkt dem Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft unterstand. Als Beauftragter des Ministers fungierte der Leiter des Veterinärwesens, der damit einen Einfluss auf die Tätigkeit des Kombinats ausüben konnte. Die Kombinate spielten in dieser Zeit in der Wirtschaft der DDR eine zentrale Rolle. Für das Gebiet der Tierimpfstoffe gab es somit, wie übrigens auch schon vorher, keine im Wettbewerb stehenden Unternehmen. Im Zuge der politischen Veränderungen der Jahre 1989/90 wurde das KOVID durch einen Beschluss des Ministerrates entflochten und ab 1.4.1990 wieder der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften unterstellt. Nach der Wiedervereinigung wurden die Impfstoffhersteller Riemser Tierarzneimittel GmbH und Impfstoffwerk Dessau-Tornau GmbH durch die Treuhandanstalt privatisiert und das Friedrich-Loeffler-Instituts in die Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen eingegliedert (2,3). Tierimpfstoffportfolio im Jahr 1989 Die 9. Ausgabe des Tierarzneimittelverzeichnisses der DDR (1) listet 24 Immunseren und Gammaglobuline und 69 Impfstoffe auf, davon 33 Impfstoffe gegen virusbedingte Erkrankungen und 36 Impfstoffe gegen bakteriell bedingte Erkrankungen. Von den 33 Virusimpfstoffen wurden 25 im KOVID hergestellt, acht Produkte kamen aus dem Ausland, davon 4 aus der damaligen CSSR, 2 aus Ungarn und je eins aus der damaligen UdSSR und den USA. Von 36 Impfstoffen gegen bakterielle Erreger und Pilze wurden 30 im KOVID produziert, drei im Sächsischen Serumwerk Dresden und drei im Ausland (2x UdSSR, 1x Ungarn). Die KOVID-Produkte wurden im Tierarzneimittelverzeichnis den beiden Herstellern, VEB Friedrich-Loeffler-Institut und VEB Impfstoffwerk Dessau-Tornau zugeordnet. Wegen des Fehlens eines Wettbewerbes zwischen verschiedenen Herstellern gab es nicht mehrere Produkte für die gleiche Indikation, was sich natürlich auf die Gesamtzahl der zugelassenen Impfstoffe auswirkte. Alle zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung zugelassenen Tierimpfstoffe konnten im sogenannten Beitrittsgebiet weiter vertrieben und angewendet werden. Ein Vertrieb in den „alten/westlichen“ Bundesländern setzte allerdings eine erneute Zulassung durch das Paul-Ehrlich-Institut voraus, was für eine ganze Reihe von Produkten auch realisiert wurde. 324 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Impfstoffe gegen MKS und Schweinepest Diese bedeutenden Tierseuchen wurden immer im Friedrich-Loeffler-Institut bearbeitet. Gegen MKS wurde bereits seit einem Gesetz von 1950 eine Flächenimpfung bei Rindern angewandt. Das erfolgte mit den Riemser Konzentrat-Vakzinen, die als Monovakzinen gegen die Typen A, O und C sowie als trivalente AOC-Vakzine produziert wurden. Diese Vakzinen waren auch für Schafe zugelassen. Schweine waren nie in die Flächenimpfung einbezogen. Für diese Tierart wurde allerdings auch eine trivalente Konzentrat-Vakzine entwickelt („Riemser MKS-Konzentratvakzine S“), die aber nur für den staatlich angeordneten Einsatz in bestimmten Situationen vorgesehen war (4). Gegen Schweinepest wurde auf Grundlage der Weisung Nr. 2 zur Tierseuchenverordnung mit einem Lebendimpfstoff auf der Basis des C-Stammes geimpft. Diese Vakzine kann als Höhepunkt der konventionellen Impfstoffentwicklung gegen Schweinepest bezeichnet werden, an deren Wirksamkeitsparametern sich andere Produkte messen lassen müssen (5,6). Impfstoffe für Rinder Neben den Impfstoffen gegen die MKS waren Vakzinen gegen IBR/IPV (BHV 1) und Parainfluenza 3 gegen Virusinfektionen vorhanden. der Kälber, Das bakterielle Vakzinespektrum war breiter und umfasste Inaktivat- und Lebendimpfstoffe gegen Coliinfektionen Pasteurella- Adsorbatvakzine, eine Tetanusvakzine (vom SSW Dresden), eine aus der UdSSR importierte Trichophytie- Lebendvakzine sowie Lebendimpfstoffe gegen Salmonella Dublin und Salmonella Typhimurium und Inaktivate gegen Salmonella Typhimurium und Salmonella Dublin. Die Coli-, Pasteurellen und Salmonellen-Vakzinen zeigen den Stellenwert und die Notwendigkeit der Jungtierprophylaxe. Parauschbrand-Rauschbrand-Adsorbatvakzinen, eine Impfstoffe für Schweine Unter den Virusvakzinen ist neben der Schweinepestvakzine der Lebendimpfstoff gegen die Aujeszkysche Krankheit zu erwähnen. Bereits zum Ende des Jahres 1985 war diese Tierseuche in der DDR getilgt (7). Dann sind noch die Lebendvakzinen gegen TGE (Coronaviren) und die Adsorbatvakzine gegen die Vesikuläre Schweinekrankheit zu erwähnen. Inaktivat gegen Clostridium perfringens C. Das Spektrum bakterieller Impstoffe war sehr breit. Es umfasste mehrere Lebend- und Inaktivatvakzinen Vakzinen gegen gegen Coliinfektionen sowie das Atemwegsinfektionen waren gegen Bordetella bronchiseptica, Pasteurella multocida und Haemophilus parahaemolyticus (jetzt Actinobacillus pleuropneumoniae) gerichtet. Eine wichtige Rolle spielte die Rotlaufimpfung mittels der Rotlauf-Adsorbatvakzine und dem Rotlauf-Lebendimpfstoff, der nach einmaliger Impfung über eine Mastperiode schützte. Spirovak wurde als ein Rotlaufimpfstoff speziell für die aerogene Applikation entwickelt. Gegen die Choleraesuis-Salmonellose konnte ein Lebendimpfstoff sowohl oral und aerogen als auch parenteral eingesetzt werden. Impfstoffe für Schafe Die MKS-Vakzinen waren auch für Schafe zugelassen, das trifft auch auf den Pararauschbrand- Rauschbrand- Impfstoff zu. Speziell für Schafe waren die Salmonella-abortusovis- und die Schafmastitis- Adsorbatvakzine aus Dessau, eine Bradsot- und eine Enterotoxämie-Adsorbatvakzine, die Vakzine gegen „ansteckende Pusteldermatitis“ und gegen “Virusabort“ (inaktivierte Chlamydien) aus ungarischer Produktion. Der Borna-Lebendimpfstoff („Kaninchenhirnpassagevirus“) war auch für Pferde zugelassen. Impfstoffe für Pferde Es sind Vakzinen gegen Tetanus, Streptokokkeninfektionen, Influenza (A equi 1, A equi 2), die infektiöse Rhinopneumonitis und virusbedingten Abort (equine Herpesviren) und Bornasche Krankheit aufgeführt. Impfstoffe für das Geflügel Das Impfstoffportfolio für das Wirtschaftsgeflügel bestand zum weit überwiegenden Teil aus Virusvakzinen. Für Hühner gab es Lebendimpfstoffe gegen Mareksche Krankheit (PutenherpesV), aviäre Encephalomyelitis, 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4 325

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ infektiöse Bursitis, infektiöse Bronchitis, Newcastel Disease (LaSota) und Geflügelpocken (TaubenpockenV) sowie eine Adsorbatvakzine gegen die ND. Enten konnten gegen Entenhepatitis und Virusenteritis geimpft werden, Puten auch gegen Geflügelpocken. Es handelt sich in allen Fällen um Monovakzinen. Die für die Produktion erforderlichen Bruteier stammten von SPF-Tieren. Dagegen gab es gegen bakterielle Infektionen nur den Salmonella-Typhimurium-Lebendimpfstoff für Hühner (oral). Tauben wurden mit Salmonellen-LI parenteral geimpft. Impfstoffe für Hunde und weitere Tiere Für Hunde gab es insgesamt nur vier Impfstoffe, darunter mit der Hundestaupe-Adsorbatvakzine aus Dessau nur eine Vakzine aus dem KOVID. Für die Anwendung bei Katzen war kein Impfstoff zugelassen. Gegen Tollwut wurde mit einer importierten Vakzine (UdSSR) aus Gehirn- und Rückenmarkmaterial infizierter Schafe geimpft. Je einen Impfstoff gab es für Nerze und andere Pelztiere (Botulismus) und Kaninchen (Myxomatose), zwei für Fische (Produktion im SSW Dresden). Lebendimpfstoffe und nicht parenterale Applikationssysteme Das dargestellte Produktportfolio enthält einen hohen Anteil von Lebendimpfstoffen und Vakzinen, die nicht- parenteral angewendet wurden. Das hatte mit den damals sehr großen Nutztierbeständen zu tun, bei denen diese Applikationsformen erhebliche Vorteile hinsichtlich des Arbeitsaufwandes boten. Auch immunologische Aspekte haben lokaler Abwehrmechanismen im Darm bei oraler Applikation von Salmonellenimpfstoffen. für diese Applikationsformen gesprochen, beispielsweise die Induktion Neben der oralen Applikation wurde auch die aerogene Verabreichung praktiziert. Dafür waren Lebendimpfstoffe gegen Schweinepest, Rotlauf, Salmonella Choleraesuis, Aujeszkysche Krankheit und Coliruhr der Saugferkel zugelassen, auch in Kombinationen miteinander. Dafür wurde eigens eine Tierimmunisierungsschleuse entwickelt (6). Diskussion Das von den beiden Betrieben des KOVID hergestellte Impfstoffsortiment bestand nach heutigen Maßstaben aus konventionellen Lebend- und Inaktivatimpfstoffen, von denen einige eine sehr gute Wirksamkeit erreichten. Als Beispiele seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit die Schweinepestvakzine, die Rotlaufimpfstoffe und Vakzinen zur Jungtierprophylaxe bei Rindern und Schweinen genannt. Es ist dem Verfasser kein anderer Hersteller bekannt, der damals ein so umfassendes Portfolio von Salmonellenimpfstoffen für verschiedene Tierarten anbieten konnte. 1987 begann der versuchsweise Einsatz einer für Rinder vorhandenen Typhimurium-Vakzine bei Legehennen in Thüringen, bei dem Kreuzschutzeffekte gegen Salmonella Enteritidis nachgewiesen wurden. Dadurch erhielt die Immunprophylaxe der Salmonelleninfektionen auch international einen Schub (8). Die Tagung der „WHO-Working Group on Salmonella immunization in animals“ im Jahr 1989 in Jena war Ausdruck dieser Entwicklung. Die für eine ganze Reihe von Produkten entwickelten oralen und aerogenen Applikationen stellten mit ihrer breiten Anwendung in der Praxis ebenfalls eine beachtliche Leistung dar. Die Restriktionen bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse im Ausland, aber auch die schon damals unzureichende internationale Beachtung deutschsprachiger Publikationen ließen positive Ergebnisse nicht in ädaquater Weise auf der internationalen wissenschaftlichen Bühne erscheinen. Auf der anderen Seite sind aber Defizite im Vergleich zur internationalen Entwicklung nicht zu übersehen. In dem hier betrachteten Impfstoffportfolio befindet sich kein Produkt auf der Basis rekombinanter oder gentechnisch modifizierter Antigene. International kam es in den 1980er Jahren zur ersten Zulassung solcher Vakzinen. 1982 wurde erstmals eine Tiervakzine mit rekombinanten Antigenen zugelassen – auf der Basis in E. coli exprimierter Fimbrienantigene (9). 1986 kam in den USA der erste gendeletierte Aujeszky- Markerimpfstoff auf den Markt. Das heißt nicht, dass die Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftler in den Einrichtungen des KOVID diese Entwicklung „verschlafen“ hätten. Die zur Verfügung stehenden Mittel, Laborgeräte, Chemikalien, besonders wenn sie aus dem Ausland kommen mussten, die staatliche Vorgaben 326 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4

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Geschichte der Veterinärmedizin ___________________________________________________________________________________________________________ Geschichte der Räudebekämpfung der Schafe in (Mittel-) Deutschland Christiane Benesch Stubenberg Die später als Räude, Krätze oder Schäbigkeit betitelte ansteckende Hauterkrankung der Haus- und Nutztiere wurde bereits Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus von Aristotoles (Historia animalium) beschrieben und war auch den Römern bekannt. In der europäischen Klostermedizin ab 1100 nach Christus finden sich u.a. in den Schriften von Hildegard von Bingen Naturbeobachtungen und Berichte von Erkrankungen der Nutztiere. Später entwickeln sich im Zusammenhang mit der Pferdehaltung in der sogenannten Stallmeisterzeit 1250 bis 1762 die ersten Thierheilkundeausbildungsstätten und viele Schriften mit Beschreibungen und Therapiekonzepte für Pferde aber auch für Rinder, für Hunde sowie für Kleine Wiederkäuer. Neben den Hundemeuteführern des Adels waren hierbei die auf Unterstützung durch Hunde angewiesenen Schafhirten besonders erfahren, da beide Tierarten von der Erkrankung betroffen waren und weil - wie wir heute wissen - Hunde dazu noch ein Reservoir für die speziellen Parasiten der Schafe darstellen konnten. Ab dem Spätmittelalter war den Schafen eine neue Aufmerksamkeit zuteilgeworden, denn die Wollqualitäten verbesserten sich durch den großen Zuchterfolg auf Wollfeinheit mit der Einkreuzung und dem Aufbau der Merino-Rasse (Württemberger Schafe). Im Jahr 1763 war es dem sächsischen Herzog August bzw. seinem Administrator Prinz Franz Xaver und 1786 auch dem Württemberger Herzog Carl Eugen gelungen Merinozuchtschafe in Spanien und Frankreich (legal!) zu erwerben und nach Sachsen und Württemberg zu verbringen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die von Schafräude befallenen Herden als Schmierschäfereien bezeichnet (im Gegensatz zu freien Herden, den sogenannten Reinschäfereien). Der Erstnachweis von Milben als Erreger der Schafräude gelang dem königlich württembergischen Landthierarzt und Parasitologen Gottlieb Walz 1809. 1838 benannte der norwegische Parasitologe Hering die die Körperräude der Schafe auslösende Milbe als Psoroptes ovis. Die ersten Versuche den Haar- und Wollausfall sowie die entzündlichen Veränderungen der Haut zu bekämpfen bestanden in der Applikation von Salben (Schmiermitteln) aus Ölen, Schwefel, Teer und Wachs Zwiebeln, Hefe, Lupinenabsud, Kalk, Pottasche, Rinderharn u.a.m. sowie mittels Bädern aus Seifenlauge. Später kamen Bedampfung mit Schwefel hinzu. Der Vortrag illustriert die verschiedenen Entwicklungsphasen mit aus heutiger Sicht teilweise skurril anmutenden Verfahren bis hin zu modernen Räudebehandlung. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. Von den Driesch, A Peters J. Geschichte der Tiermedizin 2003 Reinhardt M. Das goldene Vlies Saris T. Von Schafen, Bienen und Ochsen und anderm lieblichen Viehe (Dissertation). Hannover. Tierärztliche Hochschule; 2018 Bauer L. Parasitenprobleme beim Haustier und ihre wichtigsten Behandlungsverfahren im 16. Jahrhundert (Dissertation) .München LMU; 1991 Buxdorf A. Neue Insektizide in der Veterinärmedizin. Schw. Archiv für Tierheilkunde 1945 ;87 :501-523 Weitere Literatur bei der Autorin Kontakt Dr. Christiane Benesch; Stubenberg ch-benesch@t-online.de 328 12. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 4